Der Eingang des Menschen in seine selbstverschuldete Unmündigkeit. Trawer-Spil in zwey Akten und einer Cantate, ossia The 1524 Backlash
Normalerweise wird ja Bach zuerkannt, dass sein musikalisches Schaffen einwandfrei katholisch ist, Konfession hin oder her. Die h-moll Messe vertont ganz selbstverständlich das Credo, aus dem der zweifelsfrei katholische Schubert in allen (!) seinen Messvertonungen den Satz „et in unam sanctam catholicam…“ungerührt streichen wird – was natürlich ebenso ungerührt einfach wieder eingefügt wird, um die entsprechenden Messen liturgisch brauchbar zu machen…no offense, Franz, aber alles lassen wir uns nicht bieten. Off-Topic Nebenbemerkung: Ich finde es in diesem Sinne immer sehr WITZIG, wenn sich Traddis über irgendetwas angeblich böse Protestantisches aufregen, aber leidenschaftlich die (schreckliche, furchtbare, unmögliche, wirklich unannehmbare, banale) „Schubertmesse“ MITGRÖLEN (keine Ahnung, was daran so unfassbar toll sein soll) und ansonsten völlig ahnungslos sind – Schubert hat in einer seiner Messen sogar „expecto resurrectionem mortuorum“ weggelassen! Anti-Deutsche-Messe-Rant Ende.
Zurück zum Thema: Also, Bach ist da wie gesagt unverdächtig. Dennoch durfte ich letztens eine Bachkantate erleben, in der ich zum ersten Mal bewusst häretisches Gedankengut ausmachen konnte, was nicht verwundert, es war natürlich eine Kantate über ein Lutherlied. Luther hatte die bewundernswerte Eigenschaft, viele sehr richtige Dinge zu sagen, und sie solange in einen völlig falschen Kontext zu setzen, bis sie ganz und gar falsch waren. Alternative Fakten 1517, sozusagen. Insbesondere nimmt Luther so ziemlich alles persönlich. Der Papst ist nicht seiner Meinung, wumms, dann ist der Papst der Antichrist. Die Bauern denken, mit Freiheit meine er auch ihre Freiheit, was im Endeffekt Probleme mit den Fürsten, seiner Lebensversicherung, heraufbeschwören würde, wumms, die Bauern sind Hunde, die man totschlagen solle. Seine Verarbeitung des zwölften Psalms klingt dementsprechend wie ein 1524 höchst aktueller Hilferuf gegen die papistischen Rotten, die es wagen, am rechten Glauben festhalten zu wollen, rein inhaltlich, d.h. ohne Kontext, ist sie aber einwandfrei. „Ach Gott vom Himmel, sieh darein“, heißt diese Kantate, bekanntlich auch vielsagender Kommentar zu Konzertkleidern von Solistinnen, die in der Hinsicht viel Potenzial bieten (na und? Wer ist hier leibfeindlich?).
Die fragliche Textstelle der häretischen Kantate stammt denn auch nicht von Luther, sondern von unbekannt, zeigt aber, wohin der Hase läuft, und was eines der unzähligen Probleme der Reformation ist: Rezitativisch wird beklagt, dass sich die Menschen von Gott abwenden, und sich stattdessen was als „Kompass“ erwählen? Die „törichte Vernunft“.
Eigentlich braucht man zum Thema Reformation nach diesem Rezitativ gar nichts mehr sagen. Ein Schnellkurs in Sachen „Was damals schiefgelaufen ist“. Tschüss, vielen Dank, versuchen sie es in weiteren 500 Jahren doch noch einmal.
Spannenderweise finden wir in der Reformation das Abweichen von der Wahrheit immer zu beiden Seiten: Zuerst ist die Folge ein hartnäckiges Misstrauen der Vernunft gegenüber: Sie wird nicht mehr als von Gott geschaffenes und dem Menschen geschenktes Instrument wahrgenommen, das dem Menschen gültige Einsichten auch im Hinblick auf den Glauben und auf Gott selbst gewährt, sondern als ein rein menschliches, der materiellen Welt zuzuordnendes Phänomen, das eine überhebliche Anmaßung ist, sobald es sich auf die Transzendenz bezieht. Die zweite Folge kann dann eine Vergötzung der Vernunft sein, unter gleichzeitiger „Abschaffung“ wahrer Transzendenz: Denn wenn ich, nachdem ich die Vernunft im Hinblick auf den Glauben abgeschafft habe, feststelle, dass die Vernunft doch extrem wichtig ist und gültige Erkenntnis erzielt, ich aber den Zusammenhang mit dem Glauben nicht wieder herzustellen vermag, werde ich plötzlich vor die Wahl „Glaube ODER Vernunft“ gestellt. Ich nehme dann eben Vernunft statt Glauben. Tatsächlich handelt es sich dabei aber nur noch um eine Art „Rumpfvernunft“ oder Scheinvernunft, denn ich kann sie nicht mehr auf den Wichtigsten richten, über den Erkenntnis zu gewinnen wäre – Gott.
Philosophie- deep shit. Aber vielleicht versteht man, was ich meine. Tatsächlich gibt es keine törichte Vernunft: Es gibt Vernunft und es gibt Torheit. Vernunft ist in sich niemals töricht, was die Dichtung in der Kantate sprachlich gewitzt, aber nicht richtiger macht. Wer die Vernunft herabwürdigt, der öffnet Willkür Tür und Tor. Wenn Gott den Menschen nach seinem Abbild geschaffen hat, und Erkenntnis und Klarheit zu Gottes Wesen gehören, dann muss auch dem Menschen in irgendeiner Form Anteil an dieser Klarheit gegeben sein. Klarheit („Licht“) und Kongruenz sind also Parameter, deren Fehlen darauf hinweist, dass hier mit Sicherheit etwas nicht gottgemäß ist. Denn Gott ist ein Gott der Ordnung, einer, der das Chaos mit Licht durchdringt und in diesem Augenblick eine Ordnung schafft, die „gut“ und „sehr gut“ ist. Degradiert man die Vernunft, leugnet man, dass der Mensch kraft seines Verstandes zu Einsichten kommen könne. Dann bleibt nur göttliche Offenbarung, und worin die bestehe, kann ja nun jeder behaupten wie er mag, ohne dass man durch die Vernunft würde erkennen können, ob ein Ansatz stimmen kann oder nicht.
Das Misstrauen gegenüber der Vernunft hat zur Folge, dass man sich um die Trennschärfe in Definitionen und um Klarheit im Denken nur noch eingeschränkt bemüht, da man ja ohnehin leugnet, dadurch irgendeinen Gewinn zu haben: So wird die gesamte abendländische Denktradition inklusive ihrer Wiege in der griechischen Philosophie in die Tonne getreten, weil man meint, daraus doch sowieso nichts Wesentliches erkennen zu können. Ergebnis ist eine tumbe, stumpfe Frömmigkeit, die auf Event, Gefühl und subjektive Erleuchtung angewiesen ist und blind vor sich hin kriecht, ohne die Hinweise aufzunehmen, die der Verstand bietet. Dies begünstigt natürlich auch religiöse Neurose und Psychose, denn ein auf diese ungesunde Weise blinder Glaube enthebt der eigenen Verantwortung dafür, zu unterscheiden. Man kann einfach immer und zu allem, was einem angeboten wird, ja und Amen sagen, ohne es prüfen zu müssen. Jeder Gedanke eine Eingebung, und für den Fall, dass man doch einmal einen Maßstab braucht, der wenigstens zum Schein objektiv ist, nimmt man den (toten) Buchstaben: Dementsprechend wurde auch in der Predigt des Kantatengottesdienstes darauf hingewiesen, dass wir als Christen das Wort Gottes „zwischen diesen Buchdeckeln“, bewahren und weitergeben sollen bzw. wollen – was für ein dramatisches, epochemachendes, für derart viele Übel verantwortliches Missverständnis! Immer noch gibt es Protestanten, die das Christentum für eine Buchreligion halten! Und wie entsetzlich, dass es bis heute derart virulent ist! Gläubige Menschen, die nicht (wie die Bibel selbst sagt) Jesus Christus als das eigentliche Wort Gottes bezeugen, sondern das Bibelwort. Resultat: Christlicher Salafismus. Kein Wunder, dass in der Folge Europa mit Krieg und Terror überzogen wurde. Das Bibelwort wird vergötzt, was ein passables schwarz-weiß Schema ohne zu viel eigene Denkleistung ermöglicht. Das ist attraktiv für Menschen in Krisensituationen, aber nicht unbedingt der Weg, um eine Krise zu meistern. Am Ende erkennt der Mensch dann nicht nur wenig (was normal wäre), sondern gar nichts mehr und nennt, wie der Dichter der Kantate, jeden Versuch, zu erkennen, „töricht“. Eine traurige, unwürdige Vereinfachung und ein völlig falsches Verständnis der Tatsache, dass der Mensch tatsächlich begrenzt ist in seiner Erkenntnisfähigkeit, dass er immer auf mehr als auf den eigenen Verstand angewiesen ist, dass er die Vernunft nur eingeschränkt zu gebrauchen weiß und dass das Vertrauen zu Gott an erster Stelle stehen muss – alles richtige Einsichten, falsch verabsolutiert, mit dem Ergebnis grenzenloser Verwirrung, die man dann allerdings als „Naturgesetz“ für unvermeidlich hält. Mit anderen Worten: Der Eingang des Menschen in selbstverschuldete Unmündigkeit liegt in Wittenberg. Auf einem anderen Berg, in Ostpreußen, ist der Ausgang, vor dem allerdings bis heute Klio sitzt, uns auslacht und sagt: „The way is shut. It was made by those who are dead. And the dead keep it.“
Die Schubermesse ist halt einfach genial.
Und im Text ist nichts zu beanstanden.
(Ich rede hier primär von der Verwendung als Begleitmusik eine Stillmesse.)
Prüfet alles und das Gute behaltet.
😀 Es muss sich ja niemand meinem Rant anschließen. Die Schubertmesse bleibt ein mir in ihrer Faszination verschlossenes Universum 😀
Die Schubertmesse ist halt echt, um mal bedauerlicherweise Herrn Höcke zu zitieren (er würde aber, vermute und hoffe ich, nicht zustimmen), schön deutsch.
Da hast du die ganze Romantik und Naturschwärmerei drin (v.a. im letzten Lied), aber auf katholisch. Du hast – es ist eine Andacht des Volkes zur Messe, nicht eine Vertonung des Meßordinariums, daher ist das i. O. – den allerschönsten existenziellen und tendenziell etwas schwermütigen Anthropozentrismus drin (speziell im ersten Lied) – aber auf katholisch. Du hast erstaunlicherweise in dem (kaum gesungenen) Lied zum Glaubensbekenntnis (oder?) eine kämpferische Absage an protestantische Vorstellungen drin. Und einen Text wie
Du gabst, o Herr, mir Sein und Leben
und Deiner Lehre himmlisch Licht.
Was kann dafür ich Staub Dir geben?
Nur danken kann ich, mehr doch nicht;
nur danken kann ich, mehr, Gott, nicht.
muß man doch einfach mögen.
(zitier ich übrigens gern einmal beim charismatischen und halbcharismarischen freien Gebet – wenn ich da dabei bin -, nachdem andere Leute das fünfte Synonym für „wunderbar“ aneinandergereiht haben.)
Also das meiste vom Lob geht an den Librettisten (Neumann?). Allerdings ist auch die Musik von Schubert kongenial dazu, vor allem, weil sie in allen Tonlagen gut klingt (ich sing ja „daß Du mich einstimmen läßt“ auch mindestens zwei Oktaven unter den Frauenstimmen, ein bissel Schmunzeln schadet nie, gerade bei fröhlichem Lob – aber also im Ernst jetzt), gerade herausfordernd genug, um auch dem noch wirklich einigen Spaß zu machen, der schon geübt darin ist, und trotzdem ohne große Schwierigkeiten.
Also wenn Du einen musikalischen Ausdruck des deutschen Wesens as it was meant to be finden willst: mbMn: Schubert, Deutsche Messe.
Ich sehe das auch nicht vom Traddistandpunkt aus kritisch (also, als unpassend für die Messe oder so). Ich finde sie einfach musikalisch nicht ansprechend, kitschig-sülzig (romantisch ist meinem Empfinden nach etwas anderes), alpenländisch-träge. Ich kann sehr viel von dem, was du nennst nachvollziehen, aber es ist einfach so, subjektiv-irrational-fraulich: Ich mag das Stück nicht. Als Musikerin, in erster Linie. No offense 😉
Das Alpenländische nennt man nicht „träge“, sondern „gemütlich“ und ist super. 🙂
That said, ich hab gegen Kitsch (wie z. B. „Segne Du Maria“) nichts einzuwenden, aber bei der Schubertmesse kann bei allen bekannten Liedern (soll heißen: bei „Anbetend Deine Macht und Größe“ kann ich mich da nicht festlegen) nicht um Kitsch. Höchstens um Sülze.
Mit „Romantik“ meinte ich selbstverständlich nicht Erinnerung-an-die-Marie-A-romantisch, sondern Heinrich-von-Ofterdingen-romantisch.
Zum Hauptthema:
Zustimmung.
Und für einen Berg in Ostpreußen (hä?), Klio und die Pfade der Toten gibt’s ein Sonderlob. Wow.
*Verbeug*. Ich bin auch tatsächlich ein bisschen stolz drauf.
Nicht zu Unrecht…
Gegen die Schubert-Messe kann nicht genug geschrieben werden!
Jemand, der mich versteht 😀