Spießer brauchen keine Regeln
Als der Film „Titanic“ in die Kinos kam, war ich noch nicht zwölf. Dies war allerdings die Altersfreigabe. Ich war eine der jüngsten in der Klasse. Natürlich wollten meine Schulkameradinnen den Film ansehen, und fragten, ob ich mitkäme, und ich sagte mit stolzer Selbstverständlichkeit: „Ich bin noch nicht zwölf.“ Es konnte gar kein Zweifel darüber bestehen, dass ich den Film nicht im Kino anschauen würde. Meine Mutter musste es mir gar nicht verbieten.
Wer spießig ist, braucht keine Regeln, weil er sich den Normen ohnehin fügt. Ich hege den Verdacht, dass das der Grund ist, warum der immer gleiche Typus von blutleeren, kühlen, temperamentbefreiten weiblichen Wesen, häufig grauhäuptig, die Änderung der katholischen Sexualmoral verlangt. Wer nie oder seit dem Erwachsenenalter nicht mehr in den Abgrund der Realität geschaut hat, weil er ein bürgerliches, behagliches Leben geführt hat, weil er sich von den eigenen Abgründen abgeschottet oder sie aufgeschüttet hat, bis sie nur noch eine seichte Lagune bilden, der versteht natürlich nicht, wieso die Kirche lehrt, was sie lehrt.
Ich mache sehr oft die Beobachtung, dass Menschen, die mit ihren relativistischen, ultralinken, ultraflexiblen, ultra-unangepassten Ansichten auffallen, oftmals in konservativer Manier, ziemlich statisch und ziemlich angepasst leben. Erst kürzlich traf ich eine junge Linke – mit allen Wassern der neuen soziologischen Trends gewaschen, konsequentes Gendern etc. – die natürlich die katholische Lehre altmodisch und überholt findet, während sie seit Jahren mit ihrem Freund zusammenlebt. Tja. Sie kann es sich leisten! Ein Kommilitone erklärte mir, er würde seine Freundin niemals heiraten, sie bräuchten das nicht. Rate, werter Leser, wessen Hochzeitsfotos ich kürzlich in den sozialen Medien begutachten durfte? Diese Menschen haben Glück, aber keinen Verstand:
Das Tragische ist, dass solche Leute den Luxus, den ihr behütetes Aufwachsen, ihre stabile Situation ihnen bereiten, nicht erkennen, und verbal und agitatorisch alles tun, um anderen die Mittel zu verwehren, die ihnen helfen würden, in eine vergleichbare Situation zu kommen. Ostdeutschen Teenagermüttern hätte es vielleicht gut getan, wenn ihnen jemand zum rechten Zeitpunkt gesagt hätte, dass sie nicht mit ihrem Freund schlafen müssen, nur, weil es auf ihrem Dorf langweilig ist (Disclaimer: Ich habe höchsten Respekt vor ostdeutschen Teenagermüttern, und zwar allein schon, weil sie die Kinder bekommen und großziehen. Der mitleidige Spott, dem diese Zunft ausgesetzt ist, ist ätzend.). Die jungen Frauen, die in langjährigen Beziehungen standen, sich keine Sorgen machten und mit dem Karrieresprung des Freundes aussortiert wurden gegen ein jüngeres und attraktiveres Pendant, das zum neuen Lebensentwurf besser passt, könnten zwar warnen, machen aber lieber Yoga und Selbstliebekurse und haben aus dem Schlamassel eben vor allem gelernt, dass man mit Egozentrik weiterkommt als mit Vertrauen.
Wo in der Welt der Mariazwonullerinnen ist Tinder, wenn sie von „achtsamer Sexualität“ faseln? Wo ist Youporn? Wo ist onlyfans? Das ist kein schattiger Randbereich, das ist im Herzen der Gesellschaft. Ab der Pubertät lernt man, dass der andere nur zur eigenen Befriedigung da ist, dass man ihn her- und wegwischen kann, wie es einem gefällt, dass man selbst sich nach dem Gusto des anderen zu modellieren hat, und dass man auch selbst her- und weggewischt werden darf, denn: Wie du mir so ich dir. Wer tagein tagaus diesen Maximen ausgesetzt ist, der kann keine Achtsamkeit entwickeln – und übrigens auch keine Selbstbestimmtheit. Denn wer nicht weiß, wer er selbst ist, der kann über dieses Selbst auch nicht bestimmen.
Was die Spieß-Revoluzzer nicht begreifen, ist, dass die gewalt“lose“ (eigentlich ist sie ebenfalls gewalttätig, aber auf andere Weise als Menschenhandel etc.) Pervertierung von Sexualität zur Normalität unserer Gesellschaft gehört. Wie auch, wenn man sich nach der Trennung von seinem ersten langjährigen Partner erst einen neuen Haarschnitt, dann einen neuen langjährigen Partner und dann einen Hund zulegt. Und dann, aber psst, ein Kind. Und dann, aber ganz ganz doll psst, Elternzeit nehmen und in Teilzeit gehen und ein… zweites … Kind: Keine Sorge, man kann das ausgleichen, indem man in den sozialen Medien gegen die Ehe Position bezieht. Das ist wie beim CO2-Ausgleich durch Bäumepflanzen: Für jedes Pausenbrot, das ich meinem Kind schmiere, für jedes Hemd, das ich meinem Lebenspartner bügle, ein Posting, das Polyamorie besingt und eines, das die altmodischen Werte der katholischen Kirche diffamiert. Twitteravantgardismus ist halt der beste, weil er der Erfüllung der eigenen Wünsche am wenigsten schadet.
Viele dieser Menschen haben katholische Werte in ihrer Kindheit und Jugend mitbekommen: Durch die Familie, als Messdiener, in der katholischen Jugend- und Studentenarbeit. Sie sind dadurch geformt, ohne es zu wissen. Deshalb können sie es sich leisten, gegen das zu hetzen, was sie selbst in ihrem Leben mehr oder weniger umsetzen. Und wenn es doch nicht klappt, wenn das indirekte Fundament dann doch nicht trägt oder sich herausstellt, dass der Partner es gar nicht respektiert, wenn das von der Empfängnis bis zur Bahre mit Sparplan durchorganisierte Leben doch wagen sollte, mit seiner Dramatik und Not einzubrechen, dann sucht man den Fehler sicher überall, aber nicht bei sich selbst… Dann sind es die einengenden Gebote der Kirche, die verhindern, dass sich die Realität den eigenen Wünschen anpasst.
Hätte meine Mutter mir damals Titanic verboten, ich hätte verständnislos geguckt, weil das doch völlig überflüssig gewesen wäre. Die modernistischen Spießer von heute gucken verständnislos, weil sie in ihrer überschäumenden Egozentrik und mit ihrem winzigen Horizont nicht verstehen, wieso die Kirche nicht nur sie im Blick hat, sondern vor allem jene, die ihres mütterlichen Rates, Schutzes und Korrektivs bedürfen: Die Lehre der Kirche muss auch mit zerfetzten Segeln auf stürmischer See noch tragen. Unverständlich für jene fantasielosen Menschen, die sich mit ihrem aufblasbaren Paddelbötchen nie übers knietiefe Wasser hinauswagen.
„Wer spießig ist, braucht keine Regeln, weil er sich den Normen ohnehin fügt.“
Großartig! So etwas hat echt den Pulitzer-Preis verdient.
Ins Politische gewendet: Man braucht sich dazu auch nur die Zahlen vom Wochenende aus Ba-Wü anschauen. Ehemals tiefschwarze Landkreise wählen im hohen 30%-Bereich grün. Die hocken doch alle weiterhin in ihren schönen Autos, Einfamilienhäusern, schicken Altbauwohnungen und verdienen gutes Geld; die Attitüden, die Sie so treffend beschreiben, haben mit dem realen Leben all dieser Leute nichts zu tun.
Das frisch gebackene Ehepaar, von dem Sie berichten, hat am Ende hoffentlich nicht auch noch kirchlich geheiratet bzw. je nach Konfession sich segnen lassen? Das wäre ja auch so ein Klassiker. (Ich wollte dagegen immer aus tiefstem Herzen heiraten. Zum einen selbstverschuldet, zum anderen wegen Krankheit und Tod habe ich darauf aber 20 Jahre warten müssen.)
Danke! Ich dachte wirklich nicht, dass es als so wahnsinnig gut empfunden würde, aber offenbar habe ich einen Nerv getroffen.
Wie schön, dass Sie doch noch haben heiraten können! Ich denke, dass die beiden kirchlich geheiratet haben, habe mich aber nicht weiter damit beschäftigt. Je undankbarer und floskelhafter Menschen mit den Segensgaben umgehen, die sie bekommen haben, desto schwerer erträglich sind sie, ich kann mir so etwas nur in Dosen zumuten.
Wieder mal wie gewohnt ein sehr starker Artikel, wo ich hoffentlich noch mal etwas „Richtiges“ dazu schreiben will…
einstweilen: Du hast damals die Altersbeschränkung freiwillig eingehalten? Wow.
Wobei, ich hätte das ja wahrscheinlich auch. Damals war man noch jung und unschuldig und hat auch so kleine Regeln, Kategorie weltliches Gebot und Ordnungswidrigkeit, eingehalten (ich erinnere mich noch, daß ich durchaus nicht einverstanden war damit, wenn wir mit dem Auto eine Abkürzung nahmen, die mit sich brachte, daß man bei einem blauen Linkspfeil rechts abbiegen mußte, den es nicht wegen irgendwelchen Sicherheitsgründen, sondern nur genau deswegen gab, daß die Abkürzung nicht genommen wird)… vielleicht auch, weil man noch nicht so wirklich die Erfahrung gemacht hatte, daß man am Ende eh immer der Angearschte ist (wie wir in etwa dem Alter formuliert hätten, das Konzept kannten wir also schon).
Bei „Titanic“ war das bei mir ja so, daß wir damals die Regel „ab 12 heißt ab 6, wenn ein Elternteil dabei ist“, die ein paar Jahre später tatsächlich eingeführt wurde, vorweggenommen haben… und zwar auf Anregung von meinem Papa, ich hätte mich das wohl echt nicht fragen trauen^^ da sind wir dann also aus relativ großen Stadt, wo wir wohnten und die damals aber kein modernes Kino hatte (dafür sehr schöne altertümliche, wo er aber wohl nicht mehr lief, vielleicht auch die Leinwand nicht so groß war) in die ziemlich kleine Nachbarstadt gefahren, die damals schon ein modernes Kino hatte. Dagegen hatte ich dann allerdings auch nichts. Schöne Erinnerung, übrigens. Deswegen ist „Titanic“ für mich auch nach wie vor ein monumentaler und ziemlich großartiger Film über ein Schiffsunglück, wo halt auch n bissel eine Liebesgeschichte mit dabei ist, und nicht etwa umgekehrt.
Nein, ich bin nicht reingegangen. Ich wollte nicht, weil ich ja noch nicht zwölf war.
(y) (y)
Witzig übrigens: onlyfans kannte ich noch nicht einmal vom Namen her. Noch so ein Spießer.
Kenn ich auch nur durch völlig verrückte Facebookfreunde und ihre Shitposts. Die Geschichte, wie ich rausgefunden habe, dass es Tinder gibt, war auch sehr lustig. Es muss so 2017 oder so gewesen sein, und einer meiner verdorbenen Freunde erzählte casual davon und ich meinte so, was das sei, er erklärte es (nachdem er sich gebührend darüber lustig gemacht hatte)- und ich dachte wirklich, er hätte sich das ausgedacht so als Scherz. Ich war nicht davon zu überzeugen, dass es eine derart widerliche App geben könnte.
Ja mei…
@Anna
Die von Ihnen erwähnte Mariazwopunktnull-Truppe ist nicht mein Gebiet, ich kann jedoch nachvollziehen, was diese antreibt. Zu überall in den Medien in Erscheinung tretenden alternden Bischöfen, die ihren Vampirkragen unterm Doppelkinn raushängen lassen und die von selbst abgeschmackten Unterhosenthemen nicht genug kriegen können, machen diese Frauen auch keinen wesentlichen Unterschied. Und warum sollten ausgerechnet sie sich bei diesen klerikalen Vorbildern zurückhalten?. Tragisch sind an der Stelle sowohl die einen wie die anderen. Gruselig! Haben den Knall nicht gehört 🙁
(Alte Seggl gabs schon immer ebenso wie auch altkluge Borschd, die sind einfach neben der Spur, nur heute sind sie über die Medien so überpräsent).
@Hildegard: Nun, als 2.0 bezeichnen wir ja Verbesserungen oder Weiterentwicklungen, hier als Weiterentwicklungen der Gottesmutter.
Jemand der sich so sieht, ist niemals in der Tiefe seiner Seele religiös, oder hat irgendeinen Glauben.
Aber klar: Genauso gilt das für mich auch für wohlbeleibte ältere Herren, die sich aus vom Dienstfahrer gesteuerten Nobelkarossen zwängen und der Bevölkerung ein Vielfaches als Einkommen abzwingen lassen, dass den einfachen Menschen zur Verfügung steht.
Es geht ja bei keiner Seite um Glaube, Wahrhaftigkeit und Spiritualität sondern nur um Macht und Proporz.
@Andreas
Seh ich ähnlich wie Sie. Es ist zudem ein unterirdisches Menschenbild, wenn der Mensch (in der Kirche!) durch die Ideologie des Naturalismus fixiert, ja geradezu angenagelt und mit einer Ausdrucksweise versehen wird, die ihn wie ein Produkt mit einem upgrade versieht. O je, da zeigt sich große Not.
Übrigens zur Ergänzung aus „fachlicher“ Sicht:
Verbesserungen und Weiterentwicklungen würden wir standardmäßig eher mit sowas wie „1.1“ bezeichnen. 2.0 ist eigentlich eine grundlegende Neuerung.
Dazu gibt’s freilich viele Abweichungen im Detail, so ist Linux 5.0 „nur“ ein weiterentwickeltes Linux 2.6, während dieses eine relativ grundlegende Neuerung gegenüber Linux 2.4 war. Trotzdem ist es hier ganz bezeichnend und scheint mir auch der Intention eher zu entsprechen, weil die Leute ja nicht nur der Gottesmutter noch’n Feature – sagen wir, das der freimütigen Rede (als ob es der, die das Magnifikat gesungen und dem Engel ein „und wie soll denn das bitte gehen“ entgegengehalten hat, daran gefehlt hätte) hinzufügen will, sondern von ihr (als Vorbild für die Frauen, ob ihnen nichts zu unterstellen) vielmehr abkommen will.
So gesehen, wäre denn die Kirche, die dem Synodalen Weg folgen soll, dann „1.1“ oder „2,0“ oder nichts davon, weil Kirche ohne Rom, mit Frauen als Priester und Segen für „bunte Lebensformen“ gibt es ja auch schon?
Danke für die fachlichen Ausführungen zur Kennzeichnung von Weiterentwicklung bzw. Neuerung.
Grundsätzlich lässt sich in Bezug auf das Thema „Frauen in der Kirche“ schon sagen, dass dem sogenannten Heidenchristentum mittlerweile eklatante Wurzeln im Glauben fehlen, rudimentärer Glaube aus der Überlieferung, der in der Neuzeit verblasst ist, ja geradezu verschwunden ist. Die sogenannte „mündliche Überlieferung“ und Tradition wurde zugunsten der Schrift zu stark zurückgedrängt. Verlierer war und ist hierbei die weibliche Seite des Menschen (betrifft Frauen und Männer). (Die Konter auf diese Unterdrückung ist auf evangelischer Seite mit Feminismus, Frauenhäuser, esoterischer Firlefanz und Abwertung des männlichen Prinzips zu betrachten. Da das Protestantische in der Neuzeit kulturell leitend ist, fand diese Sichtweise unter anderem auch Eingang in die Kirche über die katholische Diasporagemeinden).
Im Detail darauf einzugehen würde hier zu weit führen, ein Beispiel soll es aber verdeutlichen. In der alten Sprache gibt es die Bezeichnung „Herrgott“, das ist ja im Grunde eine Doppelbezeichnung. Hier drückt sich die Ansprache Gottes noch als weiblich-männlich aus, die Fachleute für Sprache können das leicht herausfinden.
Die Leute, die sich in der aktuellen Marienbewegung engagieren haben also in gewisser Weise recht mit ihrem Unwohlsein in der jetzigen Situation und stellen die „Machtfrage“, allerdings fehlt ihnen das Fundament für die Lösung.