Ist das Kunst oder kann das weg?
Sakrale Kunst kann ein explosives Thema sein. Manch einer möchte den Barock als Kunstform aller Zeiten zementieren, andere suchen nach neuen Zugängen. Obwohl moderne und postmoderne Kunst in derart vielfältigen Ausformungen besteht, dass man nicht pauschal von moderner Kunst sprechen kann, ist dies oft der Kampfbegriff, um den oder gegen den man sich versammelt.
Ich meine, dass es im Grunde nicht darum geht, wie alt oder neu ein Kunstwerk ist, sondern, ob es den Zweck erfüllt, den sakrale Kunst hat. Denn neben der Verherrlichung Gottes ist ein zentraler Aspekt, den Menschen für Gott zu öffnen, ihm eine Begegnung mit ihm zu ermöglichen.
Wie sieht aber Begegnung aus? Natürlich ist Gott immer „mehr“ als wir uns vorstellen können. Manche Menschen neigen daher der abstrakten Kunst zu, um zu verdeutlichen, dass der, der dadurch beschrieben wird, unbegreiflich bleibt.
Allerdings halte ich das für den falschen Ansatz: Es gibt im sakralen Bereich eine Form der Abstraktion, die den Charakter des Unfassbaren bereits mustergültig kenntlich macht – das Symbol. Denn trotz des „Mehr“, das Gott immer auszeichnet, ist seine Unermesslichkeit nicht die eines Kraftfeldes oder eines Farbkleckses. Gott ist personal und als solcher konkret, nicht diffus. Ein Symbol stellt eine konkrete Sache dar, weist aber darüber hinaus, verhüllt also sozusagen etwas nicht Darstellbares in einer darstellbaren Form und stellt damit den Zusammenhang zwischen dem Dargestellten und der naturgemäß unzureichenden Darstellung wunderbar her. Abstrakte Kunst dagegen lässt uns im Nebel unbestimmter Vorstellungen zurück. Das erschwert es dem Menschen, wirklich Kontakt zu Gott aufzunehmen. Wie soll ich in einem schwarzen Punkt den personalen Gott erkennen?
Diese vage Ahnung, dass auch Yves Kleins legendäres Blau zur Darstellung Mariens nicht taugen wird (ja, ich habe bereits ein Marienbild gesehen, das aus einem blauen Kreis bestand), hat sich in mir nun zu einer Überzeugung verdichtet, als ich den Karfreitag in einer typischen Kirche aus den 1950er Jahren begehen durfte. Modern, spärlich eingerichtet, aber unverkennbar katholisch und fromm. Um mich vorzubereiten, wollte ich den Kreuzweg beten und begriff plötzlich, wieso „moderne“ Kunst für viele traditionelle Katholiken ein derartiges Problem darstellt.
Die Bilder bestanden aus Strichmännchen. Runde schwarze Köpfe, kastenartiges Gewand. Nicht rundheraus hässlich, aber abstrakt. Also, im eigentlichen Sinne noch nicht gänzlich ohne figürliche Aspekte, aber doch auf dem Weg dahin. Und hier liegt – selbst an Ostern – der Hase im Pfeffer.
Bevor Gott als Mensch geboren wurde, war er nach menschlichen Maßstäben sozusagen „abstrakt“. Man konnte sich kein Bild von ihm machen, er blieb außerhalb der menschlichen Vorstellungskraft. Wie aber soll man „lieben, was man nicht kennt“? Um diesen Graben so weit wie möglich zu überwinden, gibt uns Gott seit eh und je selbst die Bilder, die wir uns dann auch machen dürfen. Zuerst symbolhaft: Er besucht Abraham in Gestalt dreier Männer. Er begegnet Mose im brennenden Dornbusch und dem Volk Israel in Wolke und Feuersäule. Und schließlich verlässt er selbst das Symbolische und wird Mensch aus Fleisch und Blut, geboren von einer Frau. Das ist das Gegenteil von Abstraktion. Gott wird figürlich. Gott wird Mensch. Konkreter kann Gott für den Menschen nicht werden.
Und diese Strategie verfolgt er weiter: In der Eucharistie wird uns nicht abverlangt, uns zu geistlichen Höchstleistungen emporzuschwingen, um uns zu vergegenwärtigen, wie wir mit Gott in eine tiefe Einheit treten können, mit ihm, dem Unfassbaren, Unendlichen, Unermesslichen. Nein, Brot und Wein, konkreter geht es kaum, werden uns zum Zeichen, wir empfangen ihn verhüllt, weil wir die Unermesslichkeit anders nicht würden empfangen können.
Offenbar weiß Gott, dass man die Erkenntnisfähigkeit des Menschen nicht überfordern darf, dass wir keine reinen Geistwesen sind und das sinnliche Erleben brauchen – wie sollte er das auch nicht wissen, er ist ja Gott. Gewitzte Menschen wissen es aber anscheinend besser und neigen dazu, ihre Fähigkeiten zu überschätzen und damit dann auch dazu, sich und andere ständig latent zu überfordern und damit Spiritualität einzuengen statt zu weiten.
Konkret wird das an dem Strichmännchen-Kreuzweg sehr gut deutlich: Natürlich kann ich diesen Kreuzweg beten – aber ich sehe vor mir nicht Christi schmerzerfülltes Antlitz. Ich kann die Grausamkeit in den Augen der Schergen nicht sehen, nicht Mariens liebevollen Blick. Ich sehe keine Peitschen, keine Striemen, keine Dornenkrone. Es erfordert sehr viel Phantasie, sich das Grauen des Kreuzweges auszumalen, wenn einem nur schwarze Punkte und Striche als Anhaltspunkte dienen. Nun könnte man sagen, dass ein Kreuzweg in seiner Minimalform auch einfach aus vierzehn Kreuzen bestehen kann. Das stimmt. Aber man hat ja die Bilder gerade hinzugesetzt, damit sie die Vertiefung und Konzentration erleichtern; und dann sollten sie diesen Zweck doch auch erfüllen.
Natürlich ist ein solcher Kreuzweg nicht gedankenlos gestaltet worden: Man bemerkt, dass er aus einer Zeit stammt, in der noch reichlich aus der kirchlichen Tradition geschöpft werden konnte. Wer tief darin verwurzelt ist, der kann so gut beten, denn in ihm sind ja genügend Anregungen aus anderen Quellen. Er braucht nicht mehr, als diese vage Andeutung, um daraus in seiner Vorstellung in aller Lebendigkeit die Passion nachvollziehen zu können. Ja, für einen Menschen mit lebhafter Vorstellungskraft und starker Verwurzelung im Glauben kann es sogar störend sein, wenn Bilder ihm allzu klar und allzu eindeutig vorgeben, was er zu sehen hat. Er wird sich durch die bloße Andeutung des Passionsgeschehens erst recht ermuntert sehen.
Aber ist das wirklich der Großteil der Menschen, der so denkt? Sehen wir nicht gerade in unserer Gesellschaft eine überwältigende Rückkehr zum figürlichen, konkreten Bild? Wer etwa an Mel Gibsons „Passion Christi“ denkt, der kann nicht umhin, zuzugeben, dass die explizite, eindeutige, figürliche Darstellung auf jeden Menschen wirkt, die abstrakte aber nur auf einige. Zudem setzt die abstrakte Darstellung eben ein gerüttelt Maß an Wissen voraus – wie unfair etwa gegenüber Andersgläubigen, die unsere Kirchen besuchen und durch die Darstellung des Heiligen aufgerüttelt werden könnten, wie unfair aber auch gegenüber den Kindern oder überhaupt gegenüber jedem, der nicht mit einem Kunstwerk in intellektuellen Dialog eintreten will – was ja auch im sakralen Bereich nicht im Geringsten Sinn der Sache ist.
Muss ich mir alles selbst vorstellen, so besteht die Gefahr, dass es schwierig wird, mich über meine eigene Vorstellungskraft hinausführen zu lassen. Denn wer soll mich führen, wenn nicht das Bild selbst Quelle von neuen Ansätzen ist? Mein Horizont ist damit dann das Ende der spirituellen Fahnenstange. Das einzige Mittel zur Weitung dieses Horizonts ist dann das Wort. Wortlastige Erklärungen aber nehmen den Akzent weg von der Emotion, vom sich Einfühlen in Christi Leidensweg, hin zur intellektuellen Reflexion desselben. Ein Bild, das uns von außen etwas vorgibt, zwingt uns ja dazu, uns darauf einzulassen, was es uns anbietet. Da verändert sich die Interpretation des Kreuzweges auch: Schaut z.B. Simon von Cyrene dienstbar und ehrerbietig, oder sieht man ihm an, dass er es verabscheut, das Kreuz für einen vermeintlichen Verbrecher zu tragen?
Eine der Stationen macht das Problem der abstrakten Kunst in Bezug auf Gott grundsätzlich deutlich: Wenn Veronika das Schweißtuch wieder von Jesus entgegennimmt, so ist darauf das Antlitz des Herrn abgebildet – die Züge eines bestimmten Menschen. Niemals davor sah ein Mensch so aus und nie wieder danach wird jemand so aussehen, wie dieser konkrete Mensch Jesus von Nazareth. Und damit hängt auch unsere Liebe zusammen – wenn wir Gott nicht als Idee „lieben“, sondern als Person, dann brauchen wir dafür ein Gegenüber, und dieses Gegenüber hat mit Jesus Christus ein Gesicht und einen Körper und besteht nicht aus Punkt und Strich. So wichtig das Hineinversetzen in die Situation ist, zuletzt soll unser Gebet nicht Nachdenken über Gott sein, sondern das Stehen vor seinem Angesicht, die liebende Beziehung zu ihm. Hat einer der werten Leser zu einem Klecks schon einmal eine liebende Beziehung aufbauen können? Wir empfinden auch – bei allem Bemühen – kein Mitleid mit einem schwarzen Punkt. Ebenso wäre es etwas seltsam, wenn jemand statt eines Fotos des Geliebten lediglich eine Zeichnung mit einem Strichmännchen hätte, das den Geliebten darstellen soll.
Beim Osterfestessen dann wurde ich auf das Problem noch einmal aufmerksam gemacht: Mir wurde von einem Konflikt in der Pfarrgemeinde berichtet. Einige Menschen seien dagegen, am Fest der göttlichen Barmherzigkeit ein Bild vom barmherzigen Jesus aufzustellen. Man würde dem Bild vorwerfen, es sei ja „bloß“ polnische Frömmigkeit und man würde die Darstellung nicht mögen. Die Dame, die das Problem schilderte, verglich das Bild mit den Hungertüchern von Misereor, die dieses Jahr im Altarraum hingen – mit gelben und schwarzen Flecken darauf: „Zu diesem Fastentuch liegt ein Büchlein aus, und man muss es lesen, um zu verstehen, was es bedeutet. Wieso muss ich mir ein Buch durchlesen, bevor ich begreifen kann, was da hängt?“
Dieser Bemerkung braucht man eigentlich nichts hinzuzufügen: Eine Darstellung, die sich nicht aus sich selbst heraus erschließen lässt, hat im sakralen Raum nichts zu suchen, weil sie nicht zum Gebet führen kann, sondern nur zum Nachdenken – außer natürlich, sie führt zum verzweifelten Aufschrei „Herr, hilf, was soll das sein?“ (ich meine, dass Papst Franziskus dieses Stoßgebet bei Betrachtung moderner Kunst mit einem Ablass verknüpft hat, der übrigens auch in Museen erworben werden kann). Dabei bleibt der Mensch sich selbst und seinen Fähigkeiten überlassen.
Jede figürliche Darstellung des Heiligen, insbesondere Ikonen, konfrontieren uns aber mit einem Herrn, den wir nicht nach unserer eigenen Vorstellung modeln können, wie es unser Horizont, unsere Phantasie, unsere Vorstellung gern hätten. Sie erlauben uns nicht, vage zu sein. Vielmehr werden wir daran erinnert, dass nicht wir Gott machen, sondern dass er tatsächlich und wahrhaftig da ist, und zwar personal, so, wie er ist, zwar unabhängig von unserer Vorstellung und immer unendlich mehr und größer, aber deshalb dennoch nicht unkonkret. Zuletzt folgen wir damit auch dem Vorgehen Gottes, der sich uns ja selbst als Mensch offenbart, nicht als Mandala. Im Grunde verlangt dies erst das wirkliche „sich Einlassen“, das von uns im Rahmen postmoderner Experimente erwartet wird. Dass diese demütige Betrachtung des Gegebenen so manchem deutschen Gläubigen der Nicht-Filiale von Rom übel aufstößt, kann ich mir gut vorstellen.
P.S.: Ein Nachgedanke. Es ist vielleicht kein Zufall, dass die Vorliebe für abstrakte (oder besser: extrem reduzierte) Darstellungen und die Liturgiereform ungefähr in dieselbe Zeit fallen. Wenn man betrachtet, wie sie vor allem in Deutschland ausgefallen ist, dann kann man auch hier zum Teil von einer Abstrahierung sprechen, z.B. was den Hang betrifft, das Ordinarium durch Lieder zu ersetzen: Statt des Gloria und Credo z.B. werden gerne Lieder verwendet, die nur einen Bruchteil der Information und des Inhalts transportieren. Sie stehen sozusagen stellvertretend, als Reminiszenz für die tatsächlichen Inhalte. Wer diese gut kennt, kann in seinem Kopf problemlos jedes Glorialied zum Gloria ergänzen und tut dies auch, so wie ich beim Kreuzweggebet die Strichmännchen in der Vorstellung zu echten Menschen ergänzt und dazu die Szenerien entworfen habe, die ich kenne. Wer dagegen in der Tradition nicht verwurzelt ist, dem bleibt die Gebetswelt des Ordinariums mehr oder weniger verschlossen, und damit ein Zugang zum Kern der Liturgie. Dasselbe finden wir in der Ablehnung von Prachtentfaltung: Wer weiß, wie ein levitiertes Hochamt aussieht und was ein Hochaltar ist, der kann auch in einer in der Scheune gefeierten Messe noch einen Abglanz vom himmlischen Geschehen erblicken. Wer das nicht kennt, für den ist es weitaus schwieriger, das „Herrliche“ der Liturgie zu entdecken. Vielleicht spinne ich hier jetzt auch – aber mir erscheint das doch wie eine Parallele.