Kritik des reinen Unverstands

Was würden die Physiker dieser Welt sagen, wenn ich mich erdreistete, einfach mal ohne jegliche Expertise darüber zu räsonieren, wie Physik eigentlich sein sollte? Was würde ein Facharzt sagen, wenn ich ihm ‚reinquatschen würde, wie er seine Arbeit eigentlich auszuführen hätte? Und wie würde ein Profifußballer reagieren, wenn ich ihm erklären würde, wieso die Abseitsregel überholt ist und man eigentlich das gesamte Regelwerk des Fußball überarbeiten müsse, es sei doch viel besser, mit den Händen zu spielen?

Richtig, man würde mich entweder auslachen oder etwas ungehalten reagieren.

Nur bei einer komplexen Lehre, die 2000 Jahre kontinuierliche Vertiefung und Entfaltung erfahren hat, da kann jeder Hinz und Kunz sagen, was besser wäre, ohne auch nur den geringsten Schimmer zu haben, worum es geht.

Kaum ist amoris laetitia heraus, sind schon wieder alle möglichen selbstermächtigten Propheten unterwegs, die uns Katholiken erklären, wie Katholizismus sein müsse.

Dabei möchte man, mit den Worten des Augustinus und des Salafisten auf dem Marktplatz diesen Menschen zurufen: LIES! Und zwar nicht das postsynodale Schreiben. Mein Vorschlag: Lies zuerst 150 Seiten der Summa des Thomas von Aquin und verstehe sie. Dies ist mit dem üblichen relativistisch-unphilosophischen Mindset des Menschen von heute praktisch umöglich. Ziel ist auch nicht das Verstehen der Textpassage, sondern das Entwickeln wenigstens der rudimentären Einsicht, dass man viel weniger weiß und versteht, als man so gemeinhin annimmt, und dass es selbst im finsteren Mittelalter extrem schlaue Leute gegeben hat, die komischerweise meistens ziemlich katholisch waren. Ist dieser erste Lernerfolg erzielt, nimm den Katechismus der Katholischen Kirche zur Hand und tritt ein in die faszinierend andere Welt des Katholizismus.

Ich bin immer für konstruktive Kritik, aber sie hat zwei Voraussetzungen: Der Kritiker muss denken können, und er muss informiert sein. In jedem anderen Kontext würde man es unverschämt finden, etwas zu kritisieren, womit man sich noch nie beschäftigt hat. Bevor ich Kritik übe, hole ich Informationen ein, um eine korrekte (oder wenigstens halbwegs korrekte) Einordnung vornehmen zu können. Alles andere wäre lächerlich.

Leider ist es allerdings der Normalfall, keine Ahnung von der Lehre der Kirche zu haben. Unglücklicherweise gilt dies für Katholiken ganz genauso, so dass es selbst für einen wohlmeinenden Kirchenkritiker sehr schwierig ist, korrekte Antworten auf seine Fragen zu bekommen. Zusätzlich erschwerend kommt hinzu, dass Relativismus, Agnostizismus und Atheismus vergleichsweise simple Welterklärungsmodelle sind. Wer nicht von einer universalen Wahrheit ausgeht, muss sich ihr auch nicht verpflichtet fühlen und daher den Dingen auch unbedingt nicht auf den Grund gehen. Eine Freundin kommentierte meine Bemühungen, ihr die Lehre der Kirche begreiflich zu machen, genervt mit den Worten „Wieso musst du immer alles unterscheiden?“ Und hier liegt genau der Knackpunkt. Wir müssen unterscheiden und auseinandernehmen, weil wir immer vor der Frage stehen, ob etwas unwahr ist oder wahr sein kann. Wir richten unser Weltbild also an der schwierigsten und kompliziertesten Frage aus, die es gibt. Dies gilt auch für unser Zweifeln und Fragen. Wenn wir selbst an einem Punkt der Lehre ins Straucheln kommen, hinterfragen wir uns und unser Weltbild. Es ist für uns eigentlich selbstverständlich, dass wir auch im Hinblick auf den eigenen Glauben ständig fragen, ob er so stimmen kann. Das liegt u.a. daran, dass seine Normen und Dogmen außerhalb unserer selbst liegen und wir damit konfrontiert sind. Wir kommen also um eine Auseinandersetzung nicht umhin.

Es ist für mich eine interessante Erfahrung, dass der Normalorelativist von heute dagegen grundsätzlich davon ausgeht, dass er keinem Glauben und keiner Ideologie anhinge. Dasselbe Phänomen bei Christen würde er als „gehirngewaschen“ bezeichnen: Denn natürlich geht er von Dingen aus, die er nicht „weiß“, sondern nur annimmt. Das Für-wahr-Halten von Dingen, die man nicht sieht, ist allgemein eine menschliche Eigenschaft. Beispielsweise bin ich weder über die Existenz Amerikas noch über die des Papstes aus eigener Anschauung informiert, und da ich damals nicht gelebt habe, kann ich keine gesicherte Aussage darüber mache, ob Napoleon existiert hat. Selbst wenn ich ihn gesehen hätte, bliebe immer noch die Möglichkeit, dass ich mich getäuscht oder einen über den Durst getrunken hätte. Obwohl ich mir über diese unreflektierten Glaubensvorstellungen bei „Nichtgläubigen“ im Klaren bin, war ich erstaunt, als mir vor Kurzem in einer Diskussion, in der ich die Überzeugung, dass es eine absolute Wahrheit gebe, als solche (nämlich als Überzeugung unter vielen, nicht als Axiom) kennzeichnete, erwidert wurde, es gäbe keine universale Wahrheit. Wie die betreffende Person zu diesem Ergebnis gekommen ist, wurde allerdings nicht deutlich – denn offensichtlich handelte es sich innerhalb ihres Weltbildes um eine unhinterfragte und nicht reflektierte „Tatsache“, für die es keine Begründung gibt.

Um nicht einer unzulässigen Vereinfachung anheimzufallen: Der Nichtchrist bleibt mit diesen Annahmen noch weit unter dem, was „Glaube“ im christlichen Sinne bedeutet. Denn uns ist Glaube nicht nur das profane Für-wahr-Halten von Dingen, die man nicht weiß, sich aber als schlüssig herleiten kann, sondern um das Vertrauen (so ja auch die griechische Wortbedeutung) gegenüber einer Person und um die Treue zur Wahrheit.

Schon hier fehlt dem Durchschnittsagnostiker die schlichte Information über den Inhalt des Wortes „glauben“ in unserer Religion. Kein guter Ausgangspunkt, um eben dieses Phänomen zu erläutern. Um im Fußballbild zu bleiben, es wäre recht ungeschickt, ein Mensch würde sich am Fußballspiel abarbeiten, ohne zu wissen, was ein Ball ist.

Ich meine also, dem „Eindenken“ in katholische Lehre stehen zwei Hauptwiderstände im Weg: Zum einen intellektuelle Trägheit. Es ist anstrengend, sich auf ein Denken, das man sich selbst nicht erklären kann, einzulassen. Zum anderen denke ich, dass es sich tatsächlich oft um Unfähigkeit handelt. Da man die eigenen Glaubensgrundlagen nicht reflektiert, sieht man sich automatisch als dem anderen überlegen an und ist tatsächlich nicht dazu fähig, sich auf einen anderen Denkhorizont einzulassen. Die Ironie liegt darin, dass selbiges für einen Christen nur in ganz seltenen Fällen (bei den tatsächlich gehirngewaschenen) ein Problem darstellt, weil er eben ohnehin ständig mit dem Hinterfragen von angenommenen Wahrheiten beschäftigt ist.

Um auf unangemessene Kirchenkritik zurückzukommen: Es nervt. Es nervt am Allermeisten aus den Reihen der Getauften. „Katholisch“ ist nun einmal ein eingetragenes Warenzeichen, und der Inhalt des Wortes ist nicht frei bestimmbar, sondern richtet sich an den Glaubensbekenntnissen aus. Diese finden ihre Entfaltung in der Lehre. Bevor ich also irgendetwas an der kirchlichen Lehre bekrittele, wäre es angeraten, sich genau (genauestens) durchzulesen, was in der Kirche dazu gesagt wird. Weiterhin ist dann zu durchdenken, ob, wenn ich den kritischen Stein wegnehme, das Lehrgebäude zusammenkrachen würde, weil eine im Glaubensbekenntnis grundgelegte Basis damit wegbräche.

Im Grunde kann man beim konsequenten Durchdenken jeglicher ethisch-moralischen Frage am Ende bei irgendeiner kapitalen Häresie landen, oder aber bei offensichtlichen logischen Widersprüchen. Wäre etwa die Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zur Kommunion möglich, so nur, weil Ehebruch keine Sünde wäre, oder Ehebruch wäre eine Sünde, aber die Ehe nicht unauflöslich, oder aber Ehebruch eine Sünde und die Ehe unauflöslich, aber die Kommunion nicht wahrhaft der Leib des Herrn. Keiner dieser Punkte ist bei weiterem Nachdenken aufrechtzuerhalten, es sei denn man zweifelte den Ehe-, Sakraments- und Sündenbegriff an, und so weiter. Am Ende bleiben von Katholizismus und Wahrheit nichts übrig.

Zumindest aber beschäftigen sich die innerkirchlichen Kritiker mit Fragen, die sie etwas angehen. Sie sind Fußballer, die Handspiel legalisieren wollen. Der eine aus falsch verstandener Menschenfreundlichkeit oder individualistisch-emotionalem Glaubensverständnis, der andere aus handfest häretischem Glauben oder Unglauben heraus. Der Handballer dagegen, der meint, er könne über unsere Regeln schimpfen, weil sie nicht Handballregeln entsprechen (=sprich hier: „Der Journalist überregionaler Zeitungen“), hat auf dem Fußballfeld nichts zu suchen, solange er die Abseitsregel nicht verstanden hat. Dann kann er sie ja immer noch ablehnen.

Um vom Fußball-content noch einmal in sprachlich angemessenere Gefilde einzutauchen: Ich finde es traurig, dass der Mensch, der mit dem Verstand über ein machtvolles Instrument der Erkenntnisgewinnung verfügt, dieses Instrument nicht benutzen will. Und es trifft mich schmerzlich, dass eine Lehre, die sich in ihrer ganzen Schönheit betrachtet als kunstvolles Gebäude erschließt, das man bis in seine letzten Winkel untersuchen und durchleuchten möchte, um noch dieses kostbare Fresko und jene architektonische Meisterleistung zu betrachten, derart respekt- und lieblos mit Füßen getreten und verächtlich gemacht wird, und das vom reinen Unverstand.