Die Errungenschaften der Reformation
Vorbemerkung: Ich verspreche, als Nächstes etwas KONSTRUKTIVES zu bringen, damit niemand denkt, ich würde immer nur meckern…
Vor einiger Zeit wurde ich im Netz Zeuge und Teilhaber eines Threads, in dem es um die Errungenschaften der Reformation ging. Darin wurde, wie ich meine zu recht, dazu aufgefordert, Fairness walten zu lassen in der Bewertung der Reformation.
Da bin ich total für. Ich kann in den bis heute vorgebrachten, falschen und irreführenden Behauptungen zum Ablasswesen der katholischen Kirche, zu Marien- und Heiligenverehrung und zum Papstamt etc. zwar keine Fairness erblicken, da man ja aber nicht Böses mit Bösem vergelten soll, sehe ich ein, dass wir die Fairness vorleben sollten, die anderen fehlt. Zumal man der Ehrlichkeit halber sagen muss, dass wohl nicht einmal 0,01% der Leute, die solcherlei Polemik verbreiten, wider besseres Wissen handeln. Bei den meisten ist es schlicht Unkenntnis. Andererseits erstaunt es mich doch, dass dieselben Menschen, die meinen, man könne den Islam ja gar nicht verstehen oder erklären, wenn man den Koran nicht gelesen habe, finden, man könne über die Lehre des Katholizismus etwas sagen, ohne den Katechismus zu kennen. Aber gut.
Nun finde ich, dass man in der Frage „Was hat uns die Reformation gebracht“, vorsichtig herausarbeiten muss, was man überhaupt meint. In der Diskussion ging es etwa um Künstler wie Bach oder Mendelssohn, die als Errungenschaft dargestellt wurden. Dem möchte ich nicht völlig, aber doch halb widersprechen. Denn wenn wir fragen, ob sie aufgrund der Reformation solche Künstler geworden sind, ob erst die Reformation ein Werk wie die Johannespassion möglich gemacht haben kann, dann würde ich darauf mit einem klaren jein antworten. Sicher hat die Reformation eine grandiose Musikentwicklung begünstigt. Allerdings wird mittlerweile auch langsam in der Forschung ruchbar, dass die hier aufgebauschten Mythen des jeder höheren musikalischen Tradition baren Katholizismus historische Konstruktionen sind. Gerade in Deutschland wird die großartige Musiktradition der franko-flämischen Vokalpolyphonie kaum rezipiert und wenig gekannt. Auch stellt sich die Frage, ob jemand wie Bach nun kein toller Musiker gewesen wäre, wenn er katholisch gewesen wäre. Dies kann man wohl klar verneinen. Sodann stehen wir gerade bei Bach und seinen Zeitgenossen vor der Tatsache, dass die neue lutherische „Kirche“ sowohl in ihrer Auffassung der eigenen Katholizität als auch in ihrer Tradition noch völlig ungeniert und schamlos aus katholischen Quellen schöpft. Schauen wir in die reformierten Gefilde, sehen wir viel deutlicher, was Reformation für die musikalische Entwicklung bringt: Sehr wenig. Alles, was weltlich ist, gar schön oder – Gott bewahre – genussvoll, kann in traditionell reformierter Geisteshaltung kaum gut sein und wird mit höchstem Argwohn bedacht. Mit einem Schmunzeln durfte ich bei der Lektüre der drei Musketiere den Diss Alexandre Dumas‘ gegen den reformierten Gesang entdecken:
„Ces vers n’étaient pas excellents, il s’en fallait même beaucoup ; mais, comme on le sait, les puritains ne se piquaient pas de poésie.“ – « Diese Verse waren nicht ausgezeichnet, dazu fehlte im ihnen noch viel: aber, wie man weiß, die Puritaner kümmerten sich nicht um die Poesie.
Andere Beispiele lassen uns in dieser Frage ebenfalls eher Richtung „nein“ tendieren: So etwa war Angelus Silesius sowohl als Protestant als auch als Katholik ein leidenschaftlicher und frommer Liederdichter. Es kann also bei der Frage nach den Errungenschaften der Reformation nicht darum gehen, welche Persönlichkeiten irgendwie zufällig gerade genial UND protestantisch waren (das gilt auch umgekehrt), sondern es muss darum gehen, wo aus genuin protestantischem Geist heraus Großes vollbracht wurde. Ja, und da wird’s dann mager. Außer der Reformationssinfonie Mendelssohns und Luthers „Ein feste Burg ist unser Gott“ (das aber auch problemlos als katholisches Lied durchgehen würde, wenn man nicht wüsste, dass mit dem „Wort“, das der Feind nicht bezwingen kann, keinesfalls Christus, sondern das schnöde Bibelwort des Kanon von Luthers Gnaden gemeint ist) fällt mir da nicht so wirklich viel ein. Allerdings würde ich mich freuen, wenn die Leser dieses Artikels mehr wissen! Immer her mit genuin protestantischen Errungenschaften! Die Gemeinplätze „Freiheitliches Denken“, „bürgerliche Freiheit“, „Menschenrechte“ etc. fallen natürlich aus, jeder weiß, dass das keinesfalls Errungenschaften der Reformation sind, auch, wenn sie von dem Nimbus umgeben sind, irgendetwas damit zu tun zu haben.
Hier muss ich kurz innehalten. Vielleicht bin ich bloß vorurteilsbehaftet! Ich habe meine Zeit in der evangelischen Kirche zum großen Teil sehr genossen, aber ich bin nicht selbstverliebt genug, um zu übersehen, dass ich sehr sehr vieles nicht verstanden habe, und dass ich in meiner antikatholischen Haltung nie gegen den Katholizismus war, sondern gegen das, was man mir fälschlich als Katholizismus hingestellt hat (was tatsächlich deutlicher schlechter ist, als hochkirchliches lutherisches Weihrauchschwenken). Ich habe also keinen Grund, irgendwie anti zu sein, deshalb habe ich mal nachgeschaut, was die EKD so zu dem Thema sagt. Und: Nicht verwunderlich, sie weiß auch nicht genau, was an der Reformation nun so toll gewesen sein soll. So erläutert uns Dr. Thies Gundlach in einem Vortrag von 2015 (nachzulesen auf der Seite der EKD) über „Die Bedeutung der Reformation in Gegenwart und Zukunft“:
Wie bekomme ich ein relevantes Reformationsjubiläum? Mit der faktischen Sach- und Sprachfremdheit, ihrer weithin unverständlichen Rechtfertigungsbotschaft und ihrer ins Museale verweisenden Erinnerungskultur gerät die aktuelle Relevanz der Reformation zunehmend ins Abseits. Und machen wir es uns nicht zu leicht: Es ist das Herzstück der Reformation selbst, die Lehre von dem von Gott allein aus Gnade allein durch Jesus Christus allein im Glauben befreiten sündigen Menschen, die zunehmend keine kraftvolle Botschaft für das 21. Jahrhundert bereitzustellen scheint.
Tja. Schade.
Schauen wir weiter. Es kommt die Behauptung eines besonderen „Bildungsimpulses“. Weil alle die Bibel lesen können sollten, sollten alle lesen lernen. Nur schade, dass es das schon unter Karl dem Großen gab! Und ja, für Kinder beiderlei Geschlechts. Typischer Fall von nachträglicher Dämonisierung des katholischen Mittelalters zugunsten der Clique um Luther und Melanchthon. Dann geht es ans Eingemachte. Warum unkonkret schwafeln, wenn man konkret Schwachsinn sagen kann?
Der historisch-kritische Umgang mit der Heiligen Schrift, die religionsphilosophische Relativierung der Absolutheit des Christentums, die Auseinandersetzung mit dem naturwissenschaftlich und evolutionsbiologisch verstandenen Lebensgrundlagen u.a.m., all dies ist ein Spezifikum der reformatorischen Theologie und ihrer Kirchen.
Punkt 1 ist nicht exklusiv protestantisch (und ist ein nettes Gimmick, aber nicht wesentlich, wenn man 2000 Jahre Kirchengeschichte betrachtet), Punkt 2 ist eine Katastrophe (ja, man liest richtig, er brüstet sich damit, dass die Reformation den Absolutheitsanspruch des Christentums relativiert hätte, d.h auf Klartext, sie hat die Wahrheit abzuschaffen versucht, und das wird hier als „gut“ klassifiziert?!), Punkt 3 ist eher genuin katholisch als sonst etwas, nicht umsonst ist die Überzeugung, die Erde sei eine Scheibe ziemlich exklusiv unter Protestanten verbreitet. Sodann bringt er tatsächlich (tatsächlich!) den Freiheitsgedanken ins Spiel. Das hätte ich jetzt nicht erwartet. U.a. heißt es da:
Die Freiheit eines Christenmenschen ist nicht die, aber eine wesentliche Quelle moderner Menschenrechts- und Menschenwürdegedanken.
Naja. Es ist nicht die wesentliche Quelle. Genau. Man könnte den Text natürlich noch weiter untersuchen; ich erspare uns einfach die Langeweile. Im Laufe des Textes steht Gundlach tapfer dazu, in der Frage nach der Relevanz der Reformation „ratlos“ zu sein. Wobei er uns allerdings auch vor der „Relevanzfalle“ warnt: Man solle nicht glauben, es sei so zentral wichtig, eine Relevanz zu ermitteln, scheint das zu sagen. Das ist sogar mal ein sympathischer Einwand, schließlich ist das strikte Nützlichkeitsdenken auch nicht wirklich katholisch.
Es ist vielleicht eine nachkonziliare Tendenz des Katholizismus, sich um alle und jeden kümmern zu wollen, und, wenn einer selbst nicht weiß, wieso er nicht katholisch ist, es diesem besser zu erklären, als er es je wissen könnte. Daher vielleicht auch unser ängstliches Understatement, und der Versuch, bloß nicht raushängen zu lassen, dass nun einmal die katholische Kirche die eine, heilige ist. Aber wir sind wirklich nicht dafür zuständig, einer defizitären Theologie, die einem Menschen, der wieder zu existenziellen Fragen findet, nichts Handfestes geben kann, die nicht mehr rational, dafür aber in hohem Maße politisiert ist, eine Daseinsberechtigung zu attestieren.
Wenn also etwa die EKD keine Ahnung mehr hat, was sie 2017 eigentlich feiern soll, und welche Relevanz die Reformation für sie noch hat, dann muss ich auch nicht nach diesen Informationen suchen.
Politisch betrachtet hat die Reformation notwendigerweise Zersplitterung gebracht und damit eine der Säulen des Heiligen Römischen Reiches, nämlich den einen Glauben, effektiv zertrümmert. Der Gigant stand dann noch eine Weile, aber die Glanzzeiten waren unwiderruflich vorbei.
Auf geistiger Ebene hat die Reformation ursächlich dazu geführt, dass gewisse mittelalterliche Selbstverständlichkeiten in das Ermessen des eigenen Urteils gestellt wurden. Sie ist eine Grundlage dafür, dass die individuelle Wahrnehmung der (objektiven) Realität immer mehr den Platz streitig gemacht hat, so dass wir uns heute in einer Situation befinden, in der die Realität in einigen Kreisen völlig gleichgesetzt wird mit dem eigenen Empfinden. Damit einher geht zwangsläufig eine grenzenlose Verflachung des geistlichen Lebens: Wenn es außerhalb meiner selbst und außerhalb meiner Wahrnehmung keine Realität gibt, dann ist die Grenze meines Horizonts die Grenze der Wahrheit. Damit wurde auch die allumfassende Gemeinschaft über die drei Ebenen der triumphierenden, der leidenden und der streitenden Kirche zerstört, der innige Austausch untereinander wurde blockiert und die filigrane Einheit, die einzig vernunftgemäß Glaube und Welt plausibel macht, wurde zugunsten eines inkongruenten, aber den eigenen denkerischen Defiziten und Begrenztheiten angepassten Weltbildes ersetzt. All dies sind Dinge, die tatsächlich GENUIN aus der Reformation entsprungen sind, und nicht einfach Nebeneffekte. Das relativiert nicht, dass zahllose Protagonisten nur aus den besten Motiven gehandelt haben! Mit Sicherheit haben Sie das! Aber gut gemeint ist eben noch nicht gut gemacht.
Natürlich beende ich diesen Artikel mit dem unvermeidlichen Appell, sich gute Aktionen für’s Fatimajahr 2017 zu überlegen. Wir wissen, wen wir feiern, und was. Welche Relevanz es hat, können wir dagegen nicht völlig ermessen, sondern nur ansatzweise ahnen, aber bereits diese Ahnung hat mehr Substanz als ratloses Hin- und Herlavieren!
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