Der deutsche Eigenritus

Wir haben in Deutschland ein Problem. Ein Problem?, wird ein kritischer Geist fragen. Nun ja, eins nach dem andern…

Während seit dem zweiten Vatikanum eine in Teilen überhastete und in Teilen nicht so ganz am Ewigen orientierte Liturgiereform die Heilige Messe dem Glauben, dem Willen, der Frömmigkeit und der Fähigkeit des Priesters unterworfen hat (*hust* so viel zum Thema „Klerikalismus“), hat ein Teil des hochwürdigen Standes beschlossen, in Deutschland statt dem NOM (novus ordo missae – natürlich eine launische, politisch inkorrekte Bezeichnung der ordentlichen Form des römischen Ritus – aber wer will sich schon beim Tippen eine Sehnenscheidenentzündung holen, NOM ist da deutlich gesünder…) eine eigene Form einzuführen, den novus ordo teutonicorum. Passenderweise ergibt dies die Kurzbezeichnung „NOT“, und das ist ein sprechendes Kürzel, sowohl im Englischen als auch im Deutschen.

Nachdem ich in der letzten Zeit viel unterwegs war und meine heimatliche außerordentliche Form nicht besuchen konnte, wurde mir mal wieder schlagartig bewusst, wieso an der vieldiskutierten Liturgie so viel hängt, und warum wir keineswegs traditionalistische Spalter und Ewiggestrige sind, wenn wir die Zukunft der Kirche in der „Alten Messe“ sehen.

Es gibt viele Menschen, die allergisch darauf reagieren, wenn man den Fehler in der Messform selbst ausfindig gemacht haben will. Das kann ich sehr gut verstehen. Schließlich ist die ordentliche Form des römischen Ritus eben das, die ordentliche, allgemeine Form der heiligen Messe für römisch-katholische Christen, die nicht das Glück haben, den mozarabischen oder ambrosianischen oder dominikanischen oder sonst einen Ritus feiern zu dürfen, der die Tendenz zur Vereinheitlichung überlebt hat. Da klingt es schon ketzerisch, hier irgendwie ein Defizit ausmachen zu wollen.

Tatsächlich bezieht sich die Kritik an der ordentlichen Form häufig auf eigentlich äußerliche Punkte. Wenn etwa ein Mangel an Ehrfurcht beklagt wird, muss man darauf achten, nicht ein Pontifikalamt in einer barocken Wallfahrtskirche mit Sr. Exzellenz Bischof Huonder zu vergleichen mit einem Free-Style-Amt vom H.H. Pater Fritz Freigeist SJ. Wer das tut, kommt natürlich schnell zum gewünschten Ergebnis und schmäht die ordentliche Form samt und sonders. Das finde ich unfair. Woher kommt dann aber die Beobachtung so vieler Missstände und Missbräuche, die ich auch mache, obwohl ich durchaus absolut mit beiden Formen lebe und weder Vorurteile noch Berührungsängste habe.

Meiner Ansicht nach kommen sie daher, dass das Zweite Vatikanum, geprägt von Vertrauensseligkeit und Optimismus, den Gläubigen und den Priestern viel zu viel Verantwortung aufgebürdet hat. Und diese Freiheit wurde und wird missbraucht, um den Menschen allerlei Unwahrheiten über die Liturgie zu vermitteln und den Glauben nachhaltig zu verbiegen.

Ein extremes Beispiel: Wenn eine Messe, die in der außerordentlichen Form des römischen Ritus gefeiert wird, von einem Priester zelebriert wird, der, sagen wir, den Glauben verloren hat, dann kann man dies maximal an der Predigt erkennen. Die Messe zwingt ihn dazu, seinen Zweifel nicht an der Messfeier auszulassen. So schlimm es auch ist, wenn ein Priester nicht mehr glaubt, so kann die Messe den Gläubigen dennoch zur Stärkung des Glaubens dienen. Die Rubriken, über die man sich gern amüsiert, weil man sie mit geistlosem Abspulen verbindet, sind ein Schutz: Denn Gott macht sich im Messopfer zugänglich für uns, mehr noch, er liefert sich uns aus. Die Form der Messe begrenzt diese Verfügbarkeit so, dass der Mensch sie möglichst nicht zum eigenen Schaden nutzt. Da „wenig“ vom Menschen und seiner Schwäche abhängt, aber alles von Gott, kann Gott wirken und seine Gnaden durch die heilige Messe zuwenden, relativ unabhängig von dem, was den Menschen gerade bewegt.

Hat ein Priester, der die ordentliche Form zelebriert, seinen Glauben verloren, so ist er versucht, Texte zu verändern, Gebetsformeln anzupassen an das eigene Verständnis, Kniebeugen nur anzudeuten oder wegzulassen, etc. Er wird ein Hochgebet wählen, das die Glaubenswahrheiten möglichst wenig konkret ausdrückt (oder er komponiert selbst) usw. Natürlich tritt dieses Problem auch im kleineren Rahmen auf, es muss nicht gleich der Extremfall sein. Manchmal ist es schlicht ein Gespür für Liturgie, das fehlt, oder der Wunsch, zugänglich und offen zu sein, und dies dann mit eigenen Mitteln statt mit Gottes Mitteln umsetzen zu wollen. Nicht zu vergessen der Druck durch Pfarrgemeinderäte und andere Fährnisse, die der Priester beachten muss.

Die Tendenz, die Verantwortung von der Form auf den Menschen zu übertragen, hat im deutschen Raum zu eklatanten Fehlentwicklungen geführt, die Menschen dem Glauben entfremden. Ein schönes Beispiel dafür ist das Ersetzen des Ordinariums durch liturgisch verwendete Lieder. Oft wird ja die „Alte Messe“ mit Hinweis auf die Mündigkeit des Gläubigen abgelehnt. Aber wie mündig kann ein katholischer Mensch in seinem Glauben sein, wenn er weder Gloria noch Credo kennt? Ich habe in den letzten Wochen in den Sonntagsmessen kein Credo gebetet, und auch kein Gloria. Ich habe nicht die Menschwerdung bekannt, nicht die Jungfrauschaft Mariens, nicht den Heiligen Geist (!), nicht die eine heilige, katholische und apostolische Kirche, nicht einmal die heilige Taufe, nicht die Auferstehung der Toten. Und das, obwohl jeweils ein „Glorialied“ und ein „Credolied“ gesungen wurden. Als ich kürzlich in einer Messe war, in der der Priester aufgrund einer besonderen Disposition ausnahmsweise das  große Credo beten lassen wollte, musste die Gemeinde das Gotteslob aufschlagen, weil es einfach nicht bekannt ist.

So etwas kann dem Glauben nicht zuträglich sein. Was ich bete, das kann in mir Wurzeln schlagen und sich immer weiter vertiefen und entfalten. Wenn ich nicht wenigstens einmal in der Woche die eine heilige Kirche bekenne, wie soll ich tiefer im Verständnis dessen wachsen, was diese Kirche mir bedeutet? Wie kann ich in der Liebe zunehmen zu etwas, das ich nicht kenne? Nun ist es allgemein bekannt, dass früher viele Menschen ebenfalls die Glaubenstexte nicht oder kaum kannten. Allerdings muss man einrechnen, dass der Bildungsstand insgesamt geringer war und die Analphabetenrate höher. Bereits seit den Aufbrüchen der liturgischen Bewegungen gibt es aber mit den Messbüchern etc. zahlreiche Mittel, um den Gläubigen zur wirklich mündigen Mitfeier hinzuführen, und der Wunsch dazu und die Haltung, dass dies eine Notwendigkeit sei, waren auch schon lange vor der Liturgiereform vorhanden (Exkurs: Nur der Vollständigkeit halber möchte ich darauf hinweisen, dass im Hinblick auf die kirchliche Sprache und auf die Sprache Jesu, der uns auffordert, „wie Kinder“ zu sein, das Wort „mündig“ eigentlich fragwürdig ist. Wenn mit Mündigkeit Selbstbestimmtheit gemeint ist, die sich der Kindschaft entledigt, kann sie nicht als positiv betrachtet werden.). Heute muss man also sogar sagen: Wenn eine Messform zur Mündigkeit im Glauben und zur aktiven Teilnahme  – im Gebet mit dem Priester – beiträgt, dann die außerordentliche Form. Denn sie lädt durch ihre relative Unabhängigkeit von Zeit und Ort dazu ein, tatsächlich in der Liturgie des Himmelreiches heimisch zu werden, und durch die Wiederholung, sich die Liturgie wirklich zu eigen zu machen. All dies leistet die Messe in der ordentlichen Form natürlich ebenfalls- bloß eben nicht im weitverbreiteten NOT.

Dem NOT liegt ein protestantisiertes Kirchenverständnis zu Grunde: Kirche heißt, dass wir uns treffen, uns und die Gemeinschaft feiern. Die Lehre hat darin wenig Raum, Gott kommt vor, aber vor allem geht es um mich: Meine Befindlichkeit, meine Interessen (Musik), meine Probleme, meine Zweifel. Ich, ich, ich. Dementsprechend kann in dieser Messe, wenn alles schief geht, Gottes Gnade kaum noch wirken, weil ständig der „Mensch in seinem Wahn“, besser zu wissen und zu „gestalten“, keinen Raum für den Geist mehr lässt – paradox, wenn man bedenkt, dass gerade die „Offenheit“ einer der Hauptaspekte ist, die man durch freestyle Messen erzeugen will. Aber Geist ist eben nicht gleich Geist, und es stellt sich die Frage, ob der Geist, der wehen soll, der Heilige Geist ist.

Eine nach dem NOT gefeierte Messe lässt sich unschwer an gewissen Parametern erkennen: Es wird vermieden, Texte des Ordinariums zu verwenden, Lieder und Gebete meiden Formeln, die Gott als Herrscher o.ä. bezeichnen, Jesus kommt möglichst nicht als Christus vor, und die Predigt wird ausgelassen zu Gunsten einer Nichtpredigt des Gemeindereferenten – selbstredend nicht von Ambo oder Kanzel (pfui, wer geht heutzutage noch auf eine Kanzel) aus, sondern VOR dem Altarraum. Damit ist die „Ansprache“ als solche klar gekennzeichnet, für den Fall, dass ein Streber unter den Gottesdienstbesuchern sein sollte, der den Pfarrer dafür ankreidet, entgegen der Vorschrift nicht zu predigen. Wenn es eine Predigt gibt, neigt sie dazu, nicht den Glauben zu erklären, sondern den Gläubigen Zweifel zu oktroyieren, die der Priester entweder selbst hat oder schon immer mal haben wollte. Die Realpräsenz wird implizit oder explizit geleugnet („Seht Jesus Christus, das Lamm Gottes, er ist für uns zu Brot und Wein geworden, um uns Stärkung zu sein auf unserem Lebensweg“), und damit wären wir bei einem anderen Thema, nämlich dabei, dass, wenn die katholische Messe um das ihr Eigene gebracht wird, sie in ihrer Einzigartigkeit nicht mehr erkannt und von anderen religiösen Treffen nicht mehr unterschieden werden kann.

Natürlich ist meine These vom deutschen Eigenritus ein wenig launisch und überspitzt. Aber ich denke schon, dass die Lage ernst ist, und dass man nicht die Augen davor verschließen darf, dass ein Teil der Katholiken sich nicht mehr bewusst ist, was eine Heilige Messe eigentlich ist. Und ebenfalls gibt es Katholiken, die es zwar wissen, dies aber ganz bewusst ablehnen. Ich bin immer wieder erstaunt über die hanebüchenen Theorien, was mit dem Vat. II angeblich alles abgeschafft sei oder neu erfunden: Der Gemeinschaftscharakter und Mahlcharakter seien neu (Quatsch), der Opfercharakter sei abgeschafft (Blödsinn), die eucharistische Nüchternheit gelte nicht mehr (Nonsens) etc. etc. Angesichts dieser Irrtümer, die von einigen bewusst gestreut werden, die aber ein großer Teil der Gläubigen nur aufgrund von mangelnder Katechese einfach annimmt, finde ich es wichtig, nicht als Feindbild die ordentliche oder außerordentliche Form zu konstruieren, sondern den Feind da zu sehen, wo er eigentlich steht: im Unglauben und im Ungehorsam.