Der feine Unterschied: Richten vs Unterscheiden

Immer wieder, wenn ich entsprechend der jüdisch-christlichen Streitkultur messerscharf und unnachgiebig von Menschen anderer Weltanschauung wissen will, was Sache ist – die Gretchenfrage von heute ist die nach der Vernunft – werde ich aggressiv oder entnervt darauf hingewiesen, dass man nicht richten dürfe. Dies kann aus dem christlichen Kontext heraus kommen, aber auch die zahlreichen asiatischen oder esoterischen Glaubenssysteme, die das „Einssein“ der Dinge (nicht ihre Einheit) proklamieren, reagieren allergisch, wenn man beginnt, Dinge in wahr und falsch oder gut und böse einzusortieren. Wenn man aber die heilige Schrift oder auch die Realität mit Vernunft und gesundem Menschenverstand betrachtet, dann muss man erkennen, dass nicht alles, was unterteilt, „Urteil“ im Sinne des Richtens ist.

Schließlich urteile ich bereits am Kleiderschrank darüber, ob es rote, blaue oder schwarze Socken werden sollen, oder eine grüne und eine graue. Inwieweit ist die Entscheidung für eine Option „Urteil“? Darum ist es wichtig, dass wir als Christen darauf hinweisen, dass es zwei unterschiedliche Dinge gibt, die das Weltkind gerne als „richten“ gleichsetzt.

Natürlich gibt es das Richten im eigentlichen Sinne. Was aber tut ein Richter? Er verhängt ein Urteil, und verknüpft dieses mit einer Konsequenz – Freiheit oder Strafe etwa. Dieses Urteil bezieht sich immer auf eine Person. Dieses Richten ist nur Gott vorbehalten, weil nur Gott das Individuum auf Herz und Nieren, also bis ins Innerste, prüfen kann. Niemand darf also den ultimativen Schuld- oder Freispruch über einen Menschen verhängen. Unter dieser Ebene gibt es aber die Unterscheidung. Die Unterscheidung ist in der katholischen Kirche eine entscheidende Kunst von allerhöchster Bedeutung, und es ist nicht möglich, die katholische Lehre recht zu verstehen oder anzuwenden, ohne zu unterscheiden (was unsere Lehre für den durchschnittlichen Nichtgläubigen sehr anstrengend und kleinteilig erscheinen lässt). Während ich also über niemanden sagen kann „Du bist verdammt“, kann ich sehr wohl unterscheiden, ob eine Tat verdammenswert ist. Dies kann ich zweifach: Allgemein und in sich, oder aber relativ und geknüpft an Umstände etc. Aus der Unwägbarkeit aller Umstände aber ergibt sich eben das Vorrecht Gottes, der alleinige Richter zu sein. Außerdem kann ich auch Dinge, die nicht in sich gut oder schlecht sind, relativ unterscheiden, also in ihrer Angemessenheit und in ihrem graduellen Gutsein je nach Situation, Umstand etc. Man könnte auch das Wortpaar „verurteilen“ und „beurteilen“ nutzen, um den Unterschied (sic! 😉 ) zwischen richten und unterscheiden deutlich zu machen. Um beim Sockenbeispiel zu bleiben: Ich kann durchaus angesichts eines Bewerbungsgesprächs davon Abstand nehmen, unterschiedliche Socken zu tragen, ohne damit 1. die Socken, 2. das Tragen unterschiedlicher Socken oder 3. Menschen, die unterschiedliche Socken tragen, zu verurteilen.

Wenn ein Christ unterscheidet, sieht das für den Rest der Welt oft wie ein Urteil (im Sinne des Gerichts) aus. Wenn ich aber sage „Dies und jenes ist eine Sünde“, so habe ich damit eben noch keineswegs ein Urteil gesprochen, sondern zwischen gut und schlecht unterschieden und damit nicht – wie es Yogiteetrinker behaupten würden – eine Tür „geschlossen“, sondern ich habe eine Tür geöffnet, und zwar zur Erkenntnis darüber, was wir tun sollten, und warum wir es tun sollten. Denn als Christ weiß ich (oder sollte es wissen!), dass ich damit noch keine Aussage über die Schwere einer (persönlichen) Schuld getroffen habe. Dies muss man sich sicherlich immer wieder klar machen! Gerade in „gut katholischen“ Kreisen passiert es nämlich schnell, ob der Selbstverständlichkeit, mit der man mit Sünde und Tugend umgeht, in etwas oberflächlicher Weise nicht mehr zwischen Unterscheidung (dieses oder jenes ist gut oder weniger gut im Verhältnis zum Besseren, oder schlecht oder weniger schlecht, etc. etc.) und Urteil zu differenzieren. Gerade auch muss man sich immer bewusst bleiben, dass die Person eines Menschen nie offen vor uns liegt. Dennoch muss es aber möglich sein, die Taten eines Menschen nach ihrer Konsequenz für den Handelnden und die mit der Tat Konfrontierten einzuordnen. Dies ist auch dem ausgleichsbesoffensten Individuum klar, wenn man entsprechend drastische Beispiele wählt. So etwa würde jeder einsehen, dass man einem Kleptomanen keinen unbeobachteten Zugang zu leicht zu entwendenden, wertvollen Dingen ermöglichen soll – weil Diebstahl in sich schlecht ist. Während ich also hier eine Tat und eine Disposition beurteile und die entsprechende Konsequenz ziehe (die Schaden abwendet), verurteilt ein Katholik damit noch nicht den Menschen, der dahinter steht, und er sagt nur etwas über die objektive Schwere der Tat, nicht über die Schwere der Schuld (die modifiziert wird, durch eine psychische Störung , eine schwere Kindheit, oder was auch immer). Er würde aber dennoch nicht um der psychischen Störung willen den Diebstahl als positiv einordnen! Die Gesellschaft verlangt aber immer mehr danach, Person und Tat gleichzusetzen, und damit auch Urteil und Unterscheidung. Womit man zu so kruden Einschätzungen kommt, wie etwa, dass Abtreibung dann „gut“ und hinreichend gerechtfertigt sein muss, wenn eine Frau sie „wolle“ oder schwere Umstände den Wunsch verständlich machen: Da ich die Frau als gut deklariert habe, kann ich ihre Tat nicht mehr anders bezeichnen. Denn es gibt ohne Unterscheidungsfähigkeit keine Möglichkeit mehr, die Tat unabhängig von einem Urteil über die Person einzuordnen. Darüber hinaus kann man auch Parameter zur Bewertung einer Tat nicht mehr qualitativ einordnen: Wenn etwa „Freiwilligkeit“ zum einzigen gültigen und relevanten Parameter der Postmoderne erhoben wird, dann kann man plötzlich eine freiwillig erfolgte Tat nicht mehr als „negativ“ einordnen, denn da „Freiwilligkeit“ bereits das Label des absolut Guten erhalten hat, kann ich eine Tat, die auf dieser Basis erfolgt, kaum noch sanktionieren.

Wie unterentwickelt das Unterscheidungsvermögen der Menschen heute ist, sieht man gut in apologetischen Diskussionen. Die Standardsituation ist, dass man etwas erklärt, woraufhin der andere etwas nennt, was einen völlig anderen Sachverhalt konstruiert. Ein Beispiel: Ich setze auseinander, was eine schwere Sünde ist, und wieso sie Konsequenzen hat. Einwand: „Aber was, wenn man es nicht absichtlich getan hat, oder gar nicht wusste, dass es verboten ist?“. Seufz. Doppelseufz. Quadrupelseufz. Seufz n hoch x Richtung unendlich. Was habe ich denn gerade erklärt? Dass die schwere Sünde dann vorliegt, wenn man es weiß und absichtlich tut, ergo, es ist keine schwere Sünde, wenn keiner dieser Parameter vorliegt. Umgekehrt winkt Unverständnis, wenn man das Prinzip der Beichte und Vergebung erläutert: Da sagt man, jede Sünde wird vergeben, dem, der bereut. Einwand: „Ja, aber, wenn er nur so tut?“, Nun, wenn er nur so tut, dann bereut er eben nicht. Das Unterscheidungsvermögen scheitert also schon an den einfachsten zu unterscheidenden Merkmalen wie „vorgeschobene“ und „tatsächliche“ Reue: Man ist zum Teil bereits so weit, dass man zwischen dem äußeren Anschein und dem inneren Wesen nicht mehr zu differenzieren fähig ist.

Darum ist mein häufigster Satz in apologetischen Diskussionen „Das ist was anderes“. Was dazu führt, dass manche Menschen denken, Katholizismus sei wie ein Tabletop-Spiel mit meinem Bruder: Immer wenn etwas passiert, was er nicht mag, fällt ihm plötzlich eine neue, andere Regel ein, die dann alles wieder gaaaaaaanz anders aussehen lässt. Dennoch lässt sich die Komplexität der Welt ohne Unterscheidung nicht annähernd erfassen oder beschreiben. Es ist eine wichtige Aufgabe, dass wir als Christen darauf drängen, zu entdecken, wie spannend das Abgrenzen der Dinge gegeneinander ist, denn ohne zu wissen, wo das eine anfängt und das andere aufhört, kann ich auch keine Bezüge zwischen den Dingen herstellen. Aber die Welt ist kein norddeutscher Matschepampe-Eintopf, bei dem man nicht erkennt (und es vielleicht auch nicht sollte), was drin ist, sondern eine Minestrone, die ihren Reiz aus zahllosen unterschiedlichen Bestandteilen zieht: Man darf sich der Qualität derselben und ihrer Bezogenheit aufeinander durchaus bewusst sein, ohne dadurch den Genuß des Ganzen zu schmälern!