Sola Scriptura Teil II – Warmtippen gegen das Reformationsjubiläum #2

Im ersten Teil habe ich erläutert, dass das Prinzip „sola scriptura“ von Luther selbst nicht angewandt worden ist, während er es gleichzeitig zu einer der Grundlagen seiner Lehren erhebt. Abgesehen davon hat das Prinzip aber auch hier und heute seine Tücken und gaukelt uns eine Autorität der Schrift vor, die wir gleichzeitig leugnen.

Wer in der Schule aufgepasst hat, erinnert sich natürlich noch an die Grundlagen der Kommunikationstheorie im Deutschunterricht. Da lernt man, dass, wenn Mann und Frau im Auto sitzen, und die Frau sagt „Es ist grün“, sie eigentlich meint „Jetzt fahr doch“, oder, je nach Eskalationsstufe „Du Idiot, ich lass mich scheiden“. Der Mann dagegen versteht vielleicht „Gib Vollgas“. Also: Worte haben eine Bedeutung, aber diese wahrzunehmen, ist des Menschen Aufgabe, und die Wahrnehmung variiert nach Erfahrung, Alter, Geschlecht, Laune, Alkoholpegel, Kultur und Lebenswirklichkeit. Auch die vom Verfasser intendierte Aussage hängt natürlich maßgeblich davon ab, in welcher Zeit und Kultur er geprägt wurde, und natürlich von der Form des Geschriebenen: Wer etwa ein Märchen schreiben will, bedient sich anderer Ausdrücke und Bilder, als jemand, der einen historischen Bericht schreibt, etc. Ein Satz wie „Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute“, hätte etwa in einer Biographie einen etwas unwissenschaftlichen, unrealistischen Beigeschmack, und wer ein Märchen liest und danach der Ansicht ist, dass Aschenputtel und Schneewittchen unter Umständen noch irgendwo leben, der hat den Satz „falsch“ gelesen.

Im Falle der Bibel sind all diese Aspekte von Bedeutung. Dazu kommt das Hindernis durch die Sprache: Das Hebräische ist uns als semitische Sprache ohnehin fremd, und  das Altgriechische ist in seinem Nuancenreichtum und seiner Komplexität nicht eben einfach zu entschlüsseln, selbst dann, wenn es nicht gerade um von Gott geoffenbarte Wahrheiten geht.

Wie das, was in der Bibel steht, verstanden wird, hängt naturgemäß davon ab, was ich verstehe. Wer also sagt „Allein die Schrift“, sagt eigentlich „Allein ich“. Denn wenn die Schrift die einzige Autorität ist, ist eigentlich die jeweils die Schrift verstehende Person die Autorität. Wenn etwa die Schrift sagt „Gott schuf die Welt in sieben Tagen“, dann bestimmt der Leser in seiner eigenen Autorität, wie dieser Satz zu verstehen sei. Sieben Tage? Sieben „Jahrtage“? Ein Chiffre für „in sehr kurzer Zeit“? Ein Chiffre für „in sehr langer Zeit“? Ein Symbol für Vollkommenheit? Alles möglich. Ich bestimme es durch mein Verständnis, meine Auslegung. Es ist also nur scheinbar das Bibelwort verbindlich, meine Auslegung aber ist das tatsächlich bindende Prinzip. Die Tradition, die ja der Kirche gemein ist, ist dagegen das Prinzip, das mit Autorität herauskristallisiert, was wie zu verstehen ist.

Nun findet der gemeine Protestant, dass er doch selbst entscheiden könne, was die Schrift ihm sage. Das, was die Schrift in das individuelle, persönliche Leben „hineinspricht“, ist doch das Ausschlaggebende, oder nicht? Nein, ist es nicht. Es stimmt, die Schrift tut das, manchmal sehr geheimnisvoll, manchmal ganz platt, immer sehr beeindruckend. Tatsächlich kann eine Bibelstelle, die in einer Gruppe geteilt wird, jedem Mitglied der Gruppe etwas ganz und gar Passendes für das eigene Leben sagen. Das muss aber nicht sein. Ebenso kann es sein, weil eben neben dem Heiligen Geist auch unser eigener Geist in uns waltet, mit all seinen Begrenztheiten und Fehlern, dass wir in die Schrift hineinlesen, was wir herauslesen wollen. Vertrauen in den Heiligen Geist ist gut, aber Kontrolle anhand der vom Heiligen Geist geleiteten Tradition ist besser. Bzw. Vertrauen sollte nicht naiv sein. Ich kenne Menschen, die felsenfest behaupten, wenn sie eine Idee haben, dass sie vom Heiligen Geist kommt. Sie hinterfragen das nie, sondern sind einfach der Ansicht, wenn sie die Bibel lesen und eine Idee haben, dann müsse sie zwangsläufig vom Heiligen Geist sein. Solange es dabei nur um die Entscheidung geht, ob ein Mensch nun in Indien Missionar wird oder sich eine Hütte im Wald baut, um Einsiedler zu werden, oder darum, welches Studienfach man wählt, soll es mir egal sein. Aber es gibt durchaus die Allgemeinheit betreffende Fragen, in denen die Frage nach der Autorität über das Schriftverständnis existenziell wird:

Wenn wir uns etwa anschauen, wie  mit Homosexualität umzugehen sei, sehen wir, wieso die Tradition unabdingbar ist: Die Tradition wägt Bibelstellen gegeneinander ab, macht deutlich, was Verheißung und was Erfüllung ist, und welches Bibelwort wie auszulegen ist. Dafür gibt es zwar Faustregeln, aber man kann es dennoch nicht generell sagen, denn diese Tradition ist extrem komplex und verzahnt und verbindet unterschiedliche Schriftstellen zu einem großen, schlüssigen Ganzen. Und in diesem konkreten Fall lehrt eben die Tradition, dass das Gesetz des Alten Bundes aufgehoben ist durch den Neuen Bund, die Bergpredigt ist der Maßstab des Christen, nicht alttestamentliche Gesetze. Damit wird zwar die Einschätzung der Homosexualität als objektiv in sich schlecht aufrechterhalten, aber jede gewalttätige oder herabsetzende Handlung oder Haltung gegenüber dem jeweiligen Menschen wird strikt abgelehnt. Natürlich kann es nun dennoch Katholiken geben, die sich über Homosexuelle lustig machen oder sich abfällig über sie äußern – sie handeln damit aber gegen die Anweisung ihrer Kirche. Protestanten aber können „selbst entscheiden“, wie sie die Schrift verstehen wollen, bzw. welchem Schriftwort sie Vorrang geben möchten, und damit ist von Homoehe und Partnerschaft im Pfarrhaus bis zum Ausschluss aus der Gemeinde oder Billigung von Mord (oder gar aktiv Ermordung, Gott behüte!) alles drin: Einander in sich widersprechende Haltungen können von zwei Christen in völlig gleicher Autorität verkündet und gelebt werden (maximal eingeschränkt durch weltliches Gesetz), ohne, dass es eine Instanz gäbe, die bestimmt, was das Bibelwort nun TATSÄCHLICH bedeutet, unabhängig von der Lebenswelt des Texaners, der Homosexuelle erschießen will und des Kaliforniers, der sie trauen möchte. An den extremen Beispielen (und die Bibel enthält viel Stoff für Extreme!) erkennt man also sehr deutlich, wieso die Schrift ebenso an der Tradition zu messen ist, wie anders herum. Wer ein etwas komplexeres Beispiel kennenlernen möchte, dem sei Tolstois Kreutzersonate empfohlen – Obacht, Traumagefahr. Die Erzählung enthält ein Musterbeispiel aus dem orthodoxen Raum für die Verabsolutierung eines biblischen Gedankens unter Ausschluss der Tradition, die ihn erklären und in Relation setzen würde, und die die eigene Lebenswelt um Erfahrungen und Einsichten bereichert, die man selbst nicht hat. Ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich daran denke, wie eloquent Tolstoi anhand eines einzigen Jesuswortes aus dem Matthäusevangelium die Sexualität verdammt: Dämonisch ins Extrem denkend, was nur ein Teilaspekt ist – so eloquent, dass man das dringende Bedürfnis hat, sich gegen seine Einsichten zu wehren, die einfach nicht stimmen können, aber so wahnsinnig logisch klingen.

Zwar hat man in den evangelischen Gemeinschaften für die Tradition einen behelfsmäßigen Ersatz: Man sagt, die Schrift lege sich selbst aus, d.h. man findet den Schlüssel zum Verständnis einer Passage im Zusammenlesen verschiedener Stellen. Das ist eine gute Grundidee, die allerschlimmste Fehlurteile in Grenzen hält. Dennoch bleibt die Illusion, das Wort der Schrift sei von einem Subjekt objektiv verstehbar. Dem ist nicht so: Auch, wenn ich fünf Stellen miteinbeziehe um eine konkrete Passage zu verstehen, ist auch hier nicht der Text ausschlaggebend, sondern, was mein Wissen, meine Begrenztheit, meine Lebenswelt daraus machen. Hier ist Luther selbst wieder einmal das beste Beispiel: Obgleich er meint, dass sich die Schrift selbst auslege, verdammt er den Jakobusbrief, obgleich zahlreiche Schriftstellen dessen Aussagen einbinden in ein schlüssiges System, das Glaube und Werk in ein komplexes, geheimnisvolles organisches Verhältnis zueinander setzen. Tatsächlich widersetzt sich sein Wille dem, was man herausliest, wenn man die Schrift zusammenliest, und so beschließt er eigenmächtig ein Verhältnis zwischen Glaube und Werk, das seinem Willen entspricht.

Viel sinnvoller und biblischer ist es, der „Wolke der Zeugen“ zu vertrauen und der apostolischen Tradition, die mich lehrt – wenn ich mich lehren lassen will. Womit wir zu einem letzten Punkt kommen, der sich als Problem durch die evangelischen Lehren zieht: Protestantismus neigt dazu, Demut zu beschwören, aber Hochmut zu erzeugen. Es sieht sehr demütig aus, wenn man behauptet, sich ganz und gar dem Wort Gottes in der Bibel unterzuordnen. Tatsächlich ist es aber das Gegenteil (unbewussterweise), da man eigentlich die eigene Erkenntnisfähigkeit zum Maßstab des Verstehens macht, und sich eben nicht unterordnet.

Dies ist ein Beitrag der Reihe „Warmtippen gegen das Reformationsjubiläum“. Da man sich nicht auf destruktive Artikel beschränken sollte, hier der Hinweis: 2017 ist Fatimajahr!