Zeichen und Wunder
Es gibt ein Spezies von Menschen, gläubig oder nicht gläubig, die behaupten, in der Bibel beschriebene Wunder seien lediglich sinnbildlich zu verstehen. Normalerweise wird dabei implizit, dass man früher eben dümmer / unaufgeklärt / unwissend / naiv war, und heute schlau, aufgeklärt, informiert und gewitzt, und deshalb eben einfach besser über die Schrift Bescheid wisse. Das spielt sich in etwa auf der Ebene „Als ich fünf war, habe ich an den Weihnachtsmann geglaubt, jetzt glaube ich nicht mehr an den Weihnachtsmann“ ab.
Ich bin absolut allergisch gegen diese Behauptung. Zuerst einmal möchte ich die Vorstellung ausmerzen, der unaufgeklärte Christ hätte jemals die Bibel lediglich und ausschließlich wortwörtlich verstanden. Diese Idee kommt natürlich aus dem Protestantismus, denn wer die Idee hatte, man müsse die Bibel wörtlich nehmen, und sich gleichzeitig als „reformiert“ betrachtete, der ging natürlich davon aus, mit dem Wörtlichnehmen der Bibel ginge er zurück zu den Wurzeln der Christenheit. Später wandte man sich dann gegen dieses verkürzte Schriftverständnis (zu Recht!) und wählte das umgekehrte Extrem, indem man behauptete, die Bibel sei überhaupt nicht wörtlich zu verstehen. Wie immer beschreitet der katholische Glaube die goldene, gesunde und eloquente Mitte.
Natürlich gibt es eigentlich die gute katholische Tradition, nach dem vierfachen Schriftsinn auszulegen, das heißt, grundsätzlich kann man einen Bericht der Bibel auf vier Arten deuten. Das ist natürlich nun recht genormt, es gibt in der Realität Überschneidungen oder Stellen, die nur so oder so gedeutet werden etc. Ich möchte auf diese Auslegungstradition näher eingehen, denn diese bis in die Neuzeit allgemein übliche Deutungsweise ist ein apologetisches Instrument sowohl gegen evangelikale Wortvergötzung als auch gegen liberalistische Wortverachtung. Jeder Katholik sollte in Grundzügen wissen, was es damit auf sich hat!
Zuerst ist da der wörtliche Schriftsinn. Daraus ergibt sich, dass die anderen drei in irgendeiner Form sinnbildlich sind: Sinnbildlich auf die Theologie bezogen, sinnbildlich auf die Einzelseele und ihren Bezug zu Gott und sinnbildlich auf die Endzeit hin gesehen. Man nennt das allegorisch/typologisch, tropologisch und anagogisch/eschatologisch. Mir wird von -logien immer schwindelig, aber wer angeben will, kann sich ja die Fachbegriffe merken. Aber dann nicht durcheinanderkommen, das ist peinlich für Apologeten. Ich halte es lieber mit dem Mittelalter, da wusste man, wie man Sachen auch für Dummies auf den Punkt bringt:
„Littera gesta docet, quid credas allegoria,
moralis quid agas, quo tendas anagogia“
„Der Buchstabe lehrt das Geschehene, was zu glauben ist, die Allegorie,
die Moral, was zu tun ist, wohin zu streben ist, die Anagogie.“
Glasklar ohne Graecum. Alltagstauglich an der Lebenswirklichkeit orientiert. I love Mittelalter.
Man stellt sich also neben der Frage „Was bedeutet das wörtlich?“ die Frage, was es theologisch bedeutet, was es moralisch/ für mich persönlich / für den einzelnen Christen bedeutet, und, was es im Hinblick die Erlösung bedeutet. Nur der Vollständigkeit halber möchte ich darauf hinweisen, dass der mittelalterliche Merkvers deshalb so toll ist, weil er vom Denken zum Tun führen will. Gemäß der Einsicht Thomas von Kempens, der an einer Stelle sagt, dass es dir nichts bringt, wenn du gescheit über die Dreifaltigkeit reden kannst, aber so lebst, dass du derselben missfällst, ist dem mittelalterlichen Theologen offenbar wichtig, dass man mit dem, was man gelernt hat, auch etwas anfangen kann, vorzugsweise selig werden: Du sollst aus der Schrift Wissen, Glauben, konkrete Handlungsanweisungen und Klarheit über den Weg zum Ziel ziehen. Ich finde, davon könnten sich Theologen von heute ein Scheibchen abschneiden.
Das (auch bei Wikipedia genutzte) standardisierte Beispiel ist der Begriff „Jerusalem“, der zum einen die Stadt in Israel, aber auch die Kirche, die einzelne christliche Seele oder aber das himmlische Jerusalem / Paradies bedeuten kann. Wenn also dieses Jerusalem beschrieben wird, dann wird nicht nur eine reale Wirklichkeit beschrieben, sondern es werden auch Dinge beschrieben, die eine oder mehrere andere Sinnebenen betreffen. Wenn etwa der Psalm jubelt, „Ein jeder ist in dir geboren“, ob die von Tyrus oder die von Sidon oder von wo auch immer, obwohl doch gerade die Israeliten sich als auserwähltes Volk betrachten und ihr Jerusalem keinesfalls als kosmopolitisch, sondern als Sitz des Tempels Gottes, dann kann eine derart untypische Beschreibung nur ein Sinnbild sein für die Kirche, die, ausgehend von den Israeliten, allen Menschen gleichermaßen Heimat ist, egal, welchem Volk sie entstammen: Es sind also ganz wahrlich und wahrhaftig „alle“, nämlich alle Getauften, in „Jerusalem“ geboren! Wollen wir noch tiefer einsteigen, können wir sogar sagen, hier handle es sich mit Jerusalem auch um Maria, denn wenn Maria Gott selbst gebiert, den, in dem alle leben und gerettet werden, dann sind in diesem Sinne alle Getauften so von Maria mit Christus geboren, wie sie mit der Taufe in Christus sterben. Mit solch einer Deutung hebt man natürlich nicht auf, dass es dennoch das eine Jerusalem gibt, in dem der Tempel Gottes stand, und das Heimat des Volkes Israels ist. Die Bedeutung der Stadt ist aber eben größer und geht darüber hinaus!
Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die sinnbildliche Deutung keine Erfindung der Neuzeit oder gar der Moderne ist, sondern schon bei den ältesten Kirchenvätern zu finden ist. Im Gegenteil, mit Luther und Konsorten wendet sich die Neuzeit von diesem hoch komplexen und vielschichtigen Ansatz explizit ab! Es war für mich als Protestantin ein Augenöffner, als ich irgendwelche Auslegungen aus dem dritten Jahrhundert las, die auf feinste und genaueste Art und Weise selbst in einzelnen kleinen Worten noch irgendeinen tiefen Sinn erblicken konnten. Dass die Dinge derart ineinandergreifen, dass ich aus einer scheinbaren Kleinigkeit etwas über die Erlösung erfahre, z.B., ergibt sich daraus, dass Gott der allmächtige Schöpfer ist: Wenn er alles geordnet hat, dann ist es logisch, dass kein Wort zufällig, keine Begebenheit der Geschichte versehentlich ist. Der Herr ist Herr über das All, und das All ist so geschaffen, wie er es wollte, darum gibt es keine Inkongruenz darin.
Exkurs Ende, zurück zum Thema: Wie wir sehen, braucht ein Sinnbild nun erst einmal eine reelle Grundlage, sonst könnte man das Bildhafte daran ja nicht verstehen. Ein bereits ziemlich elaboriertes Beispiel habe ich schon genannt: Die Kirche sieht in Maria ihr Urbild: So, wie Maria den Sohn Gottes gebiert, gebiert die Kirche Gott durch die Taufe neue Kinder. Damit dieses Bild funktioniert, muss Maria aber erst einmal tatsächlich den Sohn Gottes geboren haben. Logisch.
Ebenso muss Jesus erst einmal tatsächlich Sohn Gottes und als solcher erkannt sein, bevor ich ihm Wunder zuschreiben kann. Wie aber hätte man ohne tatsächlich vorliegende Wunder erkannt, dass er Gottes Sohn ist? Denn sie werden ja von ihm zum Teil explizit als Zeugnisse seiner Autorität gewirkt. Natürlich gibt es in der Bibel Dinge, die sinnbildlich zu verstehen sind. Allerdings ist es häufig so, dass die Verfasser der Texte selbst darauf hinweisen: Wenn z.B. davon gesprochen wird, dass Jesus in Gleichnissen sprach, dann bedeutet das, dass selbst den unaufgeklärten Juden und Griechen des Altertums klar war, was eine Tatsache und was ein Sinnbild ist. Wenn also selbst unaufgeklärte Semiten wussten, was ein Sinnbild ist, ist anzunehmen, dass sie durchaus darauf hingewiesen hätten, wenn etwas als Sinnbild zu verstehen sei.
Wir brauchen aber eigentlich nicht einmal die heilige Schrift, um zu verstehen, wieso es Unsinn ist, dass Wunder etc. im Neuen Testament rein sinnbildlich zu verstehen seien.
Lustigerweise entzündet sich Unglaube häufig an so läppischen Wundern wie Jesu Wandeln auf dem See. Nun frage ich: Ist Gott allmächtig? Wenn Gott allmächtig ist, ist es dann wahrscheinlicher, dass er auf Wasser laufen kann, oder, dass er es nicht kann? Es natürlich unlogisch, dass Gott, der die Menschheit erlösen kann, und die Welt samt ihren Gesetzen geschaffen hat, nicht über Wasser würde laufen können. Natürlich kann ich sagen „Er ist nicht allmächtig“, oder „Jesus ist nicht Gott“. Aber wenn wir von der katholischen Lehre so ausgehen, wie sie ist, ist nur eines logisch: Jesus kann über’s Wasser laufen. Eine rein sinnbildliche Interpretation ist also hier eher Ausweis eines Mangels an Glauben: Wenn ich nicht glauben kann, dass Jesus über Wasser läuft, wie kann ich glauben, dass er die Menschheit erlöst hat? Nehme ich auch das nur hypothetisch und sinnbildlich an? Ich vermute, dass tatsächlich viele Menschen denken, dass all dies auch nur ein Sinnbild sei!
Dem aber widerspricht der Apostel Paulus in aller Deutlichkeit. Er sagt, dass das Christentum, wenn es nicht auf der Tatsache des Opfertodes und der Auferstehung gegründet ist, die lächerlichste Weltanschauung sei: Wir aber glauben eben nicht an Fabeln.
Wenn wir uns den Glaubensmangel anschauen, und wie wenig glaubwürdig unser Glaube den Menschen erscheint, sollten wir uns fragen, ob dies nicht eben daran liegt, dass wir unseren Glauben insgeheim nur für eine Fabel halten! Wenn dem so ist, ist die ablehnende Reaktion der Welt mehr als nachvollziehbar, ja, man müsste an der Zurechnungsfähigkeit eines Menschen Zweifel hegen, wenn er eine auf bloßen Sinnbildern aufgebaute Religion annähme, deren Grundsymbol ein aufs Schlimmste gemarterter und gequälter unschuldig Ermordeter wäre. Das Kreuz kann nur dann Symbol des liebenden Gottes sein, wenn es ein tatsächliches Kreuz gab, an dem der tatsächliche Menschensohn tatsächlich gestorben ist und dabei tatsächlich die Sünde der Welt auf sich genommen und uns erlöst hat. Denn eine solche Geschichte auszudenken, wäre einfach lächerlich und krank: Nur die wirklich und drängende Notwendigkeit der Erlösung macht aus dieser grausigen „Geschichte“ die größte Geschichte aller Zeiten!
Nun heben einige Theologen darauf ab, es läge doch eine Tatsache zugrunde, und zwar eine „Erfahrung“. D.h. Auf Deutsch: Petrus erfährt Gottesnähe in einer Gefahrensituation und diese Erfahrung wird dann wiedergegeben als Jesu Wandeln auf dem See. Dies ist eine nette Deutung, wenn es sich bei Petrus um eine literarische Figur handeln würde, und beim Neuen Testament in erster Linie um eine Novelle. Tatsächlich ist Petrus aber eine reale Person, und nicht einfach eine Projektionsfläche für die Evangelisten, die ihre eigene Gotteserfahrung in eine packende Geschichte fassen. Außerdem nimmt, wer so spricht, die Offenbarung nicht ernst: Vor der Offenbarung in Christus hatten Menschen Gotteserfahrungen, und zwar natürlich nicht nur Angehörige des Volkes Israel. Aber Christus ist keine Erfahrung, sondern eine Person. In ihm begegnet uns Gott leibhaftig, nicht sinnbildlich. Wer sich das klar macht, dem kann natürlich schwindelig werden, und es ist auch ein wenig „unheimlich“, weswegen man eine derartige Gottespräsenz natürlich gerne in den Bereich des Sinnbildlichen verweist. Denn wenn Gott so tatsächlich ist, dann sind auch unsere Taten, unsere Gottesnähe oder unsere Entfernung von ihm, wirklich relevant, nicht einfach nur Gefühle oder Stimmungen.