Erklären oder Entklären? – Warmtippen gegen das Reformationsjubiläum #3

Manchmal findet man durch Zufall preisverdächtige Texte. Gestern etwa war ich auf der Suche nach einem belastbaren Statement aus katholischer Sicht zum Thema „simul justus et peccator“. Ich hatte nicht damit gerechnet, etwas zu finden: In der evangelischen Kirche wird über die heilsgeschichtliche Konsequenz dieses lutherischen „Dogmas“ nicht nachgedacht: Du fühlst dich als Sünder, also bist du Sünder. Dass man damit eigentlich die Taufe relativiert, kommt dem Normalo nicht in den Sinn. Da also diese unumgängliche Konsequenz dieses Lehrsatzes von Niemandem ernstlich behauptet wird, war ich eigentlich davon ausgegangen, dass man in der katholischen Kirche mittlerweile wohlwollend das „simul“ als „nicht wirklich gleichzeitig“ versteht, sondern auf die Gesamtheit der menschlichen Existenz abhebt, schließlich beginnt jeder Mensch sein Leben außerhalb des Gnadenstandes, und insofern könnte man, wenn man simul gar nicht als wirklich „simul“ versteht, da irgendwie zusammenkommen. In meinem Hinterkopf schwebte irgendwo die Überzeugung, dass man so ein Schindluder mit der lateinischen Sprache mit Sicherheit weder treiben kann noch darf, aber naja, ich bin ja kein Lateiner (Schande meines Lebens), also verließ ich mich auf Vater Google und wollte mal wissen, was die Kirche dazu sagt. Offenbar war mein unterbewusstes Sentire cum Ecclesia vollkommen auf der richtigen Spur, denn ich fand folgendes Schriftstück:

ANTWORT DER KATHOLISCHEN KIRCHE
AUF DIE GEMEINSAME ERKLÄRUNG
ZWISCHEN DER KATHOLISCHEN KIRCHE UND DEM LUTHERISCHEN WELTBUND ÜBER DIE RECHTFERTIGUNGSLEHRE

Das Schreiben ist zweierlei: Ein beredtes Zeugnis dessen, was passiert, wenn die Kirche dem Zeitgeist nachgibt, und gleichzeitig ein Tritt ins Gesicht der Reformation, allerdings ein sehr eleganter Tritt. Weniger American History X, mehr Jackie Chan.

Zum ersten Punkt: In der katholischen Kirche war es üblich, sich durchaus auch mal fünf-, sechshundert Jahre lang über etwas zu streiten. Während dieser Zeit schärfte man Argumentationen, Begrifflichkeiten, den Sinn für Zusammenhänge, und dann, wenn man alles klar hatte, traf man sich, diskutierte, prügelte sich, legte etwas als verbindlich fest und sprach ein paar schnuckelige Anathemata aus, die von der negativen Seite her eingrenzten, was man dazu auf keinen Fall mehr proklamieren dürfe; und / oder natürlich ein Papst verkündete ein Dogma. Das war gut, das war weise, das war nachhaltig. So entsteht Verbindlichkeit, so wird Autorität annehmbar. Es gibt wirklich keinen Grund, sich von einer sterbenden Konfession unter Druck setzen zu lassen, eine gemeinsame Erklärung zu unterschreiben, in die dann offenbar doch Dinge eingeflochten wurden, die so gravierend falsch oder ungeklärt sind, dass sich die Kirche selbst kommentieren muss. Wäre das in einer Erklärung mit den Orthodoxen passiert, ich hätte es verstanden. Mit den Baptisten (unwahrscheinlich), ich hätte es verstanden. Bei den Lutheranern? Ernsthaft? Wieso?

Bereits der Titel des kurzen Schreibens ist einfach nur absurd! Wieso gibt die Kirche eine ANTWORT auf eine Erklärung, die sie selbst gegeben hat? Hatte man ihr K.O.-Tropfen verpasst? Wurde in zugekokstem Zustand beraten? Wurde etwas in den Weihrauch gekippt? Ich nehme an: Nein. Da hat man bloß im Rausch der Freude darüber, dass die Lutheraner gar nicht mehr wissen, was sie glauben, und man nun vieles relativieren kann, was die Reformation behauptet hat, offensichtlich nicht genügend auf wasserdichte Formulierungen geachtet: Also muss man mit sich selbst disputieren. Ich finde das ja ein bisschen – peinlich. Quintessenz des Textes ist: „Wir haben das unterschrieben, aber wir sind nicht d’accord“.

Sodann ist der Text von sachlich-herber Schönheit. Völlig klar, unaufgeregt und selbstverständlich erklärt er, was an der lutherischen Sicht so alles unvereinbar mit der katholischen ist. Besonders schön ist, dass dabei die evangelische Dimension der Kirche so deutlich wird. Hier etwa wird es nobelpreisverdächtig:

Während für die Lutheraner diese Lehre (von der Rechtfertigung, Anm.) eine ganz einzigartige Bedeutung erlangt hat, muß, was die katholische Kirche betrifft, gemäß der Schrift und seit den Zeiten der Väter die Botschaft von der Rechtfertigung organisch in das Grundkriterium der „regula fidei“ einbezogen werden, nämlich das auf Christus als Mittelpunkt ausgerichtete und in der lebendigen Kirche und ihrem sakramentalen Leben verwurzelte Bekenntnis des dreieinigen Gottes.

Auf Deutsch: Ihr bauscht einen wichtigen Teil der christlichen Botschaft total unverhältnismäßig auf, bloß weil ein Augustinermönch nicht auf seinen Beichtvater hören wollte und fand, dass, wenn er eine religiöse Psychose hat, gefälligst alle eine religiöse Psychose haben sollen. Hier sagt die Kirche, dass sie nicht individueller Disposition folgt, sondern schriftgemäß (!) glaubt, lebt und handelt, und dass Christus der Mittelpunkt ist, also das, was Evangelische gerne als bei der Kirche fehlend darstellen. Dabei noch das „Bekenntnis des dreieinigen Gottes“, die „lebendige Kirche“ und die „Zeiten der Väter“ einzubauen, und schamlos von der „Botschaft der Rechtfertigung“ zu sprechen, nimmt nicht nur dem Protestantismus den Wind aus den Segeln, man fragt sich auch unwillkürlich angesichts solcher Ausgeglichenheit, was den Protestanten denn nun an dieser zarten, blühenden, einsichtigen Lehre noch fehlen mag. (Ähnlich spaßig ist übrigens auch der Schluss, wenn angemerkt wird, dass man sich unglaublich darüber freue, wie die Lutheraner versucht haben, einen Konsens zu erreichen, dass man aber im Prinzip natürlich weiß, dass der Weltbund sagen kann, was er will, eigentlich hat man gar keinen Partner mit verbindlicher Autorität.)

Dabei wird einem mal wieder klar: Es geht im ökumenischen Prozess nicht so sehr um Liebe und Ernsthaftigkeit. So viele Protestanten lieben Jesus und richten ihr Leben ernsthaft an Gott aus. So viele Katholiken tun das Gegenteil. Das Problem liegt auf einem viel niedrigeren Niveau, ist aber deshalb nicht weniger ernst: Es liegt auf der Ebene der Präzision: Präzision in der Formulierung an zweiter, Präzision im Denken an erster Stelle. Die Kirche weiß aus bitterer Erfahrung, dass man, wenn man unpräzise formuliert, aus einer Aussage schnell etwas Ungesundes und Schädliches machen kann. Eine schlecht formulierte Lehre kann zahlreichen Individuen tiefe Wunden schlagen, kann konkret Seelen verletzen, verunsichern, krank machen, gar vom Glauben wegjagen, und auch im Zusammenleben zu Gewalt und Verletzung führen. Und die Kirche weiß, dass, wer nicht präzise denkt, nicht zu präzisen Formulierungen kommt. Ist es nicht Peanuts, wenn sie darauf hinweist, dass es ein gravierender Unterschied ist, ob Gott Sünde „nicht zurechnet“ oder ob sie „weg“ ist? Nein, ist es nicht! Das Spannende ist, dass in diesem kurzen Text das präzise Denken die lutherischen Lehren erst wirklich erklärt. Denn im Prozess der Angleichung des Luthertums an die Reformierten ist man umgekehrt vorgegangen: Anstatt in der Klarheit des Lateinischen, der geradlinigen, unbestechlichen Soldatensprache, Unterschiede und Gemeinsamkeiten so auszuleuchten, dass man tatsächlich WEIß, was der andere glaubt, hat man es vorgezogen, in deutscher idealistischer Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit Inhalte in Worte zu pressen und mit Worten so zu belegen, dass selbst gegenteilige Ansichten sprachlich ähnlich scheinen. Wer das hautnah erlesen will, kann sich die Leuenberger Konkordie durchlesen und sich wundern. So heißt es über das Abendmahl in bewundernswerter Anwendung der Möglichkeiten der deutschen Sprache:

Im Abendmahl schenkt sich der auferstandene Jesus Christus in seinem für alle dahingegebenen Leib und Blut durch sein verheißendes Wort mit Brot und Wein.

Ernsthaft. Da ist alles drin, und doch nichts. Alle Fakten, null Zusammenhänge. Ist das der Gipfel menschlichen Denkens? Wir denken solange, bis wir Zusammenhänge ent-klären? Weiter heißt es dann:

So gibt er sich selbst vorbehaltlos allen, die Brot und Wein empfangen; der Glaube empfängt das Mahl zum Heil, der Unglaube zum Gericht.

Die Gemeinschaft mit Jesus Christus in seinem Leib und Blut können wir nicht vom Akt des Essens und Trinkens trennen. Ein Interesse an der Art der Gegenwart Christi im Abendmahl, das von dieser Handlung absieht, läuft Gefahr, den Sinn des Abendmahls zu verdunkeln. (Hervorhebung von mir).

Es beginnt also damit, dass man Zusammenhänge nicht nennt, weil diese nämlich das eigentlich Strittige sind: Die Frage ist ja weder, ob sich Christus schenkt, ob das was mit Brot und Wein zu tun hat, noch, ob er sich für uns hingegeben hat. All das ist gar nicht die Frage, nur dies wird aber beantwortet. Durch die Präposition „mit“ umgeht man die eigentliche Frage, ob sich nun Christus nebenher oder wirklich IN den Gestalten schenkt, obwohl dieses echte Auswirkungen hat, etwa auf die Art, wie wir mit den Gestalten umgehen (also, ob die Reste reformiert in der Sonntagssuppe landen oder lutherisch im Sakramentenschrank). Durch die Aussage, dass Essen und Trinken untrennbar dazugehöre, wird zwar suggeriert, dass Wein und Brot ursächlich etwas mit dem Geschenk Christi zu tun haben, aber niemand muss sich daran gebunden fühlen, schließlich ist „ungetrennt und unvermischt“ eine gute alte christliche Denkaktik.

Zuletzt wird dann ein indirektes Denkverbot aufgestellt, indem jedem, der gerne Zusammenhänge verstehen möchte, vorab klar gemacht wird, dass er dadurch das Evangelium „verdunkeln“ könne. Das ist sozusagen die größte Gemeinheit, die ein Christenmensch begehen könnte, und wer will sich dem Vorwurf schon aussetzen? Also empfangen wir munter Ich-weiß-nicht-was ich-weiß-nicht-wie.

Um diese Fragen tobte während der Reformation heftigster Streit zwischen Luther, Zwingli und Calvin, die sich nur darin einig waren, dass sie die Lehre der Katholiken um jeden Preis ablehnten. Einfach zu sagen, dass die Reformatoren eben in ihren Denkkategorien gefangen gewesen seien und dass gar keine grundsätzlich andere Auffassung von der Realität dahinterstünde, ist wirklich nicht in Ordnung, auch dann nicht, wenn man es blümerant-versöhnlich ausdrückt. Aber dass die protestantischen Lehren den Menschen in seinem Denken und Handeln nicht ernst nehmen, ist leider reformatorische Grundhaltung.

Ich bin unendlich dankbar dafür, dass die Kirche sich mit diesem Wischi-Waschi nicht abspeisen lassen will, und dass sie unter der Gefahr, sich lächerlich zu machen, dennoch noch einmal auf katholische Art und Weise präzisiert, was Gefahr lief, protestantisch verklärt zu werden. Es ist doch am Ende befriedigender, wirklich zu wissen, was verbindet und was trennt, als einfach das Trennende so schwammig zu formulieren, dass man es nicht mehr erkennen kann. Und wie ich ja versuche anzudeuten, geht es dabei keinesfalls um graue Theorie, sondern um das ganz praktische Leben: Wenn ich denke, dass Gott meine Sünde gar nicht wirklich weggenommen hat, dann bedeutet das am Ende, dass das Gnadenwirken Gottes gar nicht tatsächlich, sondern nur sozusagen wirkt, und dass Gott eigentlich nur ein großer „Über-alles-Hinwegseher“ ist. Und das hat Auswirkungen darauf, wie ich meine Mitmenschen sehe, bewerte, mit ihnen umgehe, wie ich mich selbst auffasse etc. Damit ist am Ende alles Gute nur ein Schein: Das Gute von den Menschen her ist nur Schein, weil der Mensch aus sich heraus nichts Gutes tun kann, das Gute von Gott her ist nur Schein, weil er nur so tut, als würde er uns gut machen und umwandeln. By the way, hier sehen wir eine fantastische Verknüpfung zwischen Eucharistie und Neuer Kreatur – an der Eucharistie bekommen wir nämlich einen „konkret“ fassbaren Eindruck davon, dass Gott wirklich IST, nicht nur SO TUT ALS OB. Aber das ist ein anderes Thema.

Dies ist ein Beitrag der Reihe „Warmtippen gegen das Reformationsjubiläum“. Da man sich nicht auf destruktive Artikel beschränken sollte, hier der Hinweis: 2017 ist Fatimajahr!