Alice und der Kardinal

Ich bin ja immer skeptisch, was „viral“ Videos angeht. Aber dieses Interview muss man einfach gesehen haben!

Wer erinnert sich noch an Valerie und der Priester? Ein Blogformat, bei dem katholische und säkulare Welt „unzensiert“ aufeinander prallen sollten. Leider auf säkularer Seite mit allen Nachteilen der gleichgeschalteten postindividuellen Denkunfähigkeit. Am Nervigsten ist der intellectual gap, diese unüberbrückbare Denkbehinderung, die immer dann einsetzt, wenn sich herausstellt, dass die eigene Weltkonstruktion mit der Realität nicht übereinstimmen kann.

Wie anders hätte wohl ein Format namens Alice und der Kardinal ausgesehen? Im kurzen Interview Alice Schwarzers mit EWTN, in dem sie Auskunft über ihre freundschaftliche Beziehung zum Kardinal gibt (unbedingt ansehen!), kann man jedenfalls über Begegnung, Offenheit und Toleranz mehr lernen als in zahlreichen Folgen Valerie.

Natürlich ist es schön, Menschen zu treffen, die die eigene Meinung bestätigen. Und es ist Balsam für die Seele eines Katholiken, wenn ein dezidiert nicht katholischer Mensch die Größe eines standhaften Bekenners ohne Abstriche bewundernd und anerkennend würdigen kann. All das tut Alice Schwarzer in dem Interview. Ja. Aber darum geht es gar nicht. Es geht darum, dass hier eine Beziehung geschildert wird, die nicht mit dem Entfreundungs-Button geführt wird, sondern durch charakterliche Stärke, die man in der von sozialen Medien gelähmten Kommunikation kaum noch antrifft. Hier werden dem Menschen Respekt, Achtung und Freundschaft entgegengebracht, nicht der Meinung. Es ist eine moderne Krankheit, den Menschen lediglich als Vertreter oder gar Sklaven einer Idee oder Weltanschauung zu betrachten, so, als sei er nichts als ein Werkzeug derselben – und zugleich machen sich viele Menschen tatsächlich zu solch einem Sklaven der eigenen Wahrnehmung. Das ist das Gegenteil von dem, was mit Begriffen wie Humanismus oder Humanität gemeint ist. Dementsprechend unmenschlich ist der Umgangston mit Andersdenkenden, an den wir uns gewöhnt haben. Statt dessen konnten Kardinal Meisner und Alice Schwarzer einander wertschätzen, weil sie wahrhaft offen und tolerant waren, und nicht nur diese Label für die eigene Engstirnigkeit verwendet haben. Das ist ein wunderschönes Zeugnis für das, was einer meiner liebsten Psalmverse aussagt:

„Justitia et pax osculatae sunt“ – Gerechtigkeit und Friede küssen sich. Dem anderen mit Gerechtigkeit entgegentreten, ihm gerecht werden, das bedeutet, ihn in seiner Einzigartigkeit und Komplexität annehmen zu wollen. Einander in Frieden zu begegnen bedeutet, dass das Ziel nicht ist, eine Idee oder Meinung durchzusetzen auf Kosten der Person, sondern einander Raum zu geben. Verbunden werden wir dabei durch die Liebe, die uns erst ermöglicht, abweichende Erfahrungswelten gelten zu lassen, dabei aber dennoch jene und auch unsere Haltung kritisch zu hinterfragen. Ich finde es extrem beunruhigend, dass mich die Freundschaft zweier sehr unterschiedlicher Menschen überhaupt derart bewegt. Sollte Freundschaft nicht selbstverständlich auf einem tieferen Einverständnis beruhen als auf übereinstimmender Meinung? Wie sehr haben wir unsere Freundschaftsfähigkeit bereits kastriert?

Vielleicht kommen Schwarzer und Meisner nicht von ungefähr aus einer internetfreien Welt, in der es nicht so leicht war, den Menschen hinter der Haltung zu ignorieren und damit dennoch als intelligenter Zeitgenosse durchzugehen. Jedenfalls zeigen sie uns, dass die totalitäre Frontenbildung zwischen Menschen nicht nur der katholischen Wahrheit, sondern auch der Vernunft widerspricht (wie könnte es auch anders sein).

Mich bestärkt dieses Interview außerdem in der Haltung, dass Christen nicht nach oberflächlicher inhaltlicher Übereinstimmung streben dürfen, sondern immer nach der gemeinsamen Basis suchen müssen, die die Liebe ist. Es bringt uns nichts, wenn wir uns mit Menschen solidarisieren, die letzten Endes nicht Liebe und Menschlichkeit suchen. Kardinal Meisner hatte keine Scheu, mangelnde Integrität in der eigenen „community“ zu geißeln und Integrität außerhalb des eigenen Schafstalles zu erkennen und zu würdigen. Er konnte sich frei außerhalb der eigenen Filter-Bubble bewegen. Diesem Beispiel sollten wir folgen.