Fahrlässige Desinformation

Es ist ein heißes Thema. Ich weiß. Der Vorwurf, der am schnellsten erhoben wird: Relativierung. Das ist ein zweischneidiger Begriff. Tatsächlich bedeutet relativieren, eine Relation herzustellen, also einen Kontext, in den man Dinge einordnen kann. Und das ist wichtig. Auch, wenn es um Themen wie Missbrauch geht.

Missbrauch in der Kirche ist eine doppelte, ja, eine dreifache Schande. Zuerst einmal rein menschlich, allgemein ein entsetzliches Verbrechen. Zudem aus christlicher Sicht ein doppelt schlimmes, weil zum einen die Unschuld der Kinder im Christentum besonders hoch geschätzt und gehütet wird, und wir zum anderen ja unserer Lehre gemäß nicht nur durch Gewissen und „Herzensgesetz“, sondern auch durch Offenbarung dazu verpflichtet sind, das Böse zu bekämpfen. Drittens ist die Basis der Kirche der Glaube, wörtlich übersetzt aus dem Griechischen auch „Vertrauen“. Wer die, die bedingungslos vertrauen, und damit innerhalb der Kirche größten Glauben haben, missbraucht, der vergeht sich auch an Gott in besonders infamer Weise, der uns diese Seelen anvertraut. All das steht nicht zur Diskussion. Es steht auch nicht zur Diskussion, dass es innerhalb der Kirche sowohl Menschen gibt, die Täter aktiv schützen und solche, die es indirekt durch Wegschauen tun, aus Angst vor den Folgen oder Überforderung.

Dennoch ist das, was gerade passiert, keine Information, sondern bewusste Desinformation. Dabei zeigt sich eine Lust am Skandal, die mit Wille zur Aufklärung oder Empathie mit den Opfern gar nichts zu tun hat.

Der „neueste“ Missbrauchsskandal ist gar nicht so neu. Seit Jahren werden Missbrauchsfälle bei den Regensburger Domspatzen aufgearbeitet, aber jetzt liegt der Bericht vor. Dabei zeigt sich einmal mehr, dass mit Zahlen umgehen können muss, wer Informationen daraus gewinnen will. Und man sollte doch meinen, dass uns daran liegt, nach der Auswertung von Vorfällen wirklich eine belastbare Aussage machen zu können.

Freundlicherweise übernimmt es Josef Bordat, die Zahlen genauer zu nennen. Aber er ist ja auch katholischer Blogger, dem also nicht bereits von Amts wegen an der Diffamierung der Kirche liegt.

Zeitungen, vor allem internationale Presse, sind dagegen bereits auf den Zug aufgesprungen und verbreiten allerorten die Schlagzeile von über 500 Missbrauchsfällen. Hand aufs Herz, woran denke ich, wenn ich lese „500 missbrauchte Kinder“? Ich denke, dass 500 Kinder Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind! Natürlich! Und das ist jedem Redakteur auf dieser Welt vollkommen klar! Tatsächlich sind es aber an die 70 Fälle sexuellen Missbrauchs (von denen jeder zwei zu viel ist). Alles weitere sind Fälle körperlicher Misshandlung. Und während die Reichweite der sexuellen Vergehen von „Streicheln bis Vergewaltigung“ reicht, geht es bei den körperlichen Misshandlungen um Sachverhalte von bis 1982 sogar erlaubter körperlicher Züchtigung bishin zu schweren Misshandlungen und Prügel. Das wird in den Artikeln zum Teil dann auch genannt – so wäscht man sich die Hände in Unschuld, denkt man sich wohl.

Seit wann gilt eigentlich für den Umgang miteinander, dass der Angeklagte (oder der Schuldige) jedes Recht auf anständige Behandlung verwirkt, sobald das Verbrechen einen ausreichenden Entsetzlichkeitsgrad erreicht hat? Darf ich einem Mörder einfach noch drei Morde mehr anhängen, weil er ja sowieso ein Monster ist, meiner Ansicht nach? Ich dachte, wir bewegen uns in der Realität, nicht in amerikanischen Thriller-Gerechtigkeits-Schmonzetten? Was bei Quentin Tarantino lustiges Grauen sein mag, ist in der Realität einfach nur ekelerregend und beunruhigend!

Übrigens finde ich durchaus, dass die Kirche hier strenger bewertet werden darf (ich würde sogar sagen: muss) als der Rest der Gesellschaft. Kirchliche Mitarbeiter hätten auch dann nicht prügeln sollen, als prügeln allgemein üblich war. Ich bin gegen pseudo-geschichtlichen Blankoschein, so als sei historisches Fehlverhalten okay, weil es früher alle gemacht haben. Aber wir brauchen schon Kontext. Wo werden Gewalterfahrungen im kirchlichen Bereich eigentlich mit denen im nichtkirchlichen Bereich verglichen? Diese Fälle mit sexuellem Missbrauch gleichzusetzen, ist dagegen schlicht lügnerisch. Hier darf man nicht nur relativieren (im Wortsinn), hier muss man es. Weil ich einem Vergewaltigungsopfer noch einmal ins Gesicht schlage, wenn ich behaupte, das sei dieselbe Kategorie wie eine Ohrfeige. Und selbst hier ist eine Ohrfeige aus Sadismus anders zu bewerten, als eine, die zumindest in erzieherischer Absicht (was ich davon halte, s.o.) erteilt wird.

Womit wir zum Punkt kommen, wer die Täter sind. Ein kirchlicher Chor hat zahlreiche Angestellte, die nicht kirchliche Amtsträger sind. Hier also einen Missbrauchsskandal inszenieren zu wollen, indem man allein auf den kirchlichen Aspekt reduziert, ist ebenfalls bereits unlauter. Schließlich denken wir nun alle, Priester seien vorrangig die Täter gewesen.

Abgesehen davon mag es vielen Leuten nicht klar sein, aber Eliteknabenchöre sind generell ein Ort, an dem sich (vor allem psychische) Roheit entwickeln kann. Dies ist ein anderes Problemfeld, aber sobald wir von Gewalt im Kontext relativ geschlossener „Kader“ sprechen, die sich zudem als „Elite“ verstehen, muss auch dieser Faktor beachtet werden. Und der hat mit dem kirchlichen Charakter eines Chores gar nichts zu tun!