„Dass der Wein erfreue des Menschen Herz“

Die Facebook-Timeline spülte es vor meine Augen: Laut Frauenmagazin „Elle“ (keine Ahnung, was sich der Algorithmus gedacht hat) hilft Rotwein beim Abnehmen. Fazit: Rotwein ist gut. Muss ich, um zu der biblischen, seit Jahrtausenden vielfach besungenen Erkenntnis zu kommen, dass Wein gut ist, tatsächlich erst einmal herausfinden, dass er beim Abnehmen hilft?

In der Welt von heute darf nicht einmal ein unschuldiges Glas Rotwein um seiner selbst willen existieren oder gar genossen werden. Überhaupt gibt es ja gar keinen Genuss. Obgleich der Hang zum Hedonismus unsere Zeit bestimmt, ist man heute schon dankbar, wenn man einen Menschen trifft, der sich selbst einfach nur einen Genuss verschaffen, eine Lust erfüllen will; jemanden, der raucht und nicht davon erzählt, aufhören zu wollen, jemanden, der eine Tafel Schokolade aufessen kann, ohne danach zu jammern, der nicht weiß, wie viele Kalorien Bier hat. Denn die Alternative dazu ist die ständige Vermessung der Welt nach der angenommenen (aber stets als Dogma verkündeten) Nützlichkeit.

Ich erinnere mich noch gut an eine Zusammenkunft auf einem Biohof im Harz, wo es unglaublich gute Vier-Gänge-Menüs aus unsagbar schmackhaftem Essen gab. Unter anderem wurden dort himmlische gebutterte Rosmarinkartöffelchen kredenzt. Jawohl. Dieser Genuss, wenn etwas geschmolzene Butter mit dem zart-kräftigen Geschmack der Kartoffel zusammentrifft, während der Duft des Rosmarin… Drei der anwesenden jungen Frauen machten allerdings dieselbe Trennkost-Diät, und eine von ihnen rief aus, als man ihr die Schale mit diesen Köstlichkeiten darbot, das seien ja lauter Kohlenhydrate. Das Entsetzen, das ihre Stimme erbeben machte, muss ungefähr dem des Kölners gleichen, der erfährt, dass er nach Düsseldorf versetzt wird. Aus himmlischen gebutterten Rosmarinkartöffelchen wurden „Kohlenhydrate“.

Hier handelt es sich um nichts weniger als einen Zivilisationsbruch. Nahrung dient seit jeher natürlich dem Überleben, ist aber so viel mehr. Was sie nicht ist: Neurotische Ersatzreligion für genussbefreite Selbstoptimierer. Solche Leute können meinetwegen allein mit Ersatzpräparaten und Vitaminkomplexen durchs Leben gehen, aber sie sollen die Rosmarinkartoffel nicht aufs Kohlenhydrat reduzieren und den Rotwein nicht zum Sportersatz degradieren. Schrecken diese Menschen vor nichts mehr zurück?

Mittlerweile ist man kaum noch sicher vor besorgten Essern, die zuerst fragen, wieso man etwas nicht auf seinen Teller lädt (nun, man lässt es, weil man es nicht mag, dies aber des Anstands wegen nicht mit einem lauten „Bäh“ kommentieren will), und dann, wenn man, derart in die Bredouille gebracht, wahrheitsgemäß antwortet, dass man es nicht mag, verständnislos sagen „Aber das ist doch gesund!“. Genau. Wie könnte man etwas nicht mögen, das gesund ist? Wie könnte man etwas zu sich nehmen, das „ungesund“ ist? Dass vielleicht wenig altruistische Interessen dahinter stehen, wenn getrockneter Grünkohl dreimal so viel kosten kann wie eine Jahresration frischer, weil er neuerdings Kale heißt, ein Superfood ist und – genau – gesund ist?

Die Instrumentalisierung alles Existierenden für irgendwelche imaginierten Zwecke ist eine Zwangshandlung: Weil man den wahren Sinn hinter den Dingen nicht mehr kennt, überlegt man sich eben Ersatzsinn, „Zweck“. Gesundheit, Abnehmen, Fitness etc. Was keinen Zweck erfüllt, kann weg, muss weg. Um mal kurz von der Übertreibung einer Lappalie in die existenziellen Abgründe abzutauchen: Während es dem Rotwein herzlich egal ist, ob man ihn schätzt oder nicht, für Menschen kann Zwangsoptimierung ein echtes Problem werden – wenn man nicht mehr ins erneuerte Lebenskonzept des Partners passt. Oder zufällig im Mutterleib mit Downsyndrom diagnostiziert wurde. Aber Wein darf man jetzt ja (mal) wieder mögen. Wein macht schlank. Na dann. Prost.