Empathie

Unsere postmoderne Gesellschaft leidet ja bekanntlich an vielen Krankheiten. Eine, die mich besonders ärgert, ist die Reduzierung des Daseins auf den individuellen Erkenntnishorizont. Was ich damit meine: Menschen denken bis zur Grenze dessen, was sie denken können, und weil sie nicht weiterdenken können, gehen sie davon aus, es gäbe nichts weiterzudenken. Außerhalb meiner Welt keine Welt. Einen etwas anderen Blickwinkel auf dieses Problem entdeckt man, wenn man sich das Totschlagargument anschaut, mit dem Feministinnen, Antirassisten und überhaupt mehr und mehr Menschen ihr Erleben zum einzigen Maßstab der Realität machen: Der Vorwurf, wer etwas nicht erlebt hätte, könne es sich nicht vorstellen.

Dieser Vorwurf trifft im Augenblick vor allem Männer, die im Zuge der #metoo-Debatte in Kollektivhaft für das Elend der Frau genommen werden. „Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie das ist“. Ich gebe zu, dass auch ich dieses Argument nutze, es vor allem in meiner Vergangenheit sehr oft benutzt habe, und zwar in Bezug auf Rassismus. Und natürlich ist etwas Wahres dran: Wirklich wissen, was man fühlt, weiß man erst, wenn man etwas erlebt, was die entsprechenden Gefühle auslöst. Nur als unmittelbar Betroffener ist man eben unmittelbar betroffen. Insoweit stimmt die Aussage.

Aber der Mensch hat die kaum mehr beachtete Fähigkeit, in gewissen Grenzen aus sich herauszutreten und sich mit dem Erleben eines anderen Wesens zu verbinden. Das nennt man Empathie oder auch Mitleid. Diese Eigenschaften machen es möglich, sich das Leid einer anderen Kreatur vorzustellen, sich sogar hineinzuversetzen und etwas von dem Schmerz, der den anderen trifft, nachzuspüren.

Leider wird Empathie heute gerne durch Solidarität ersetzt. Solidarität ist weniger anstrengend. Um solidarisch zu sein muss ich nur äußerlich erkennen, dass ich mich einem Menschen anschließen muss. Ich muss nicht innerlich in sein Leben, seine Gefühle, sein Leid eintauchen, ich brauche überhaupt keine wirkliche Bindung an den anderen um solidarisch zu sein. Aber ich muss mich auf den anderen einlassen, wenn ich empathisch sein will.

Natürlich ist es, wenn die Lebenswelten zweier Menschen extrem unterschiedlich sind, dementsprechend schwieriger, die jeweils andere Lebenswelt zu begreifen. Wer nie Rassismus erlebt hat, oder Diskriminierung aufgrund seines Geschlechts, der kann Schwierigkeiten haben, das Leid, das daraus resultiert, nachzuvollziehen. Ich sage bewusst kann – denn durchaus gibt es Menschen, die sehr gut dazu in der Lage sind!

Um sich dies zu verdeutlichen, muss man nur an die großen Autoren der großen Frauenromane des 19. Jahrhunderts denken – Tolstojs Anna Karenina, Flauberts Madame Bovary, Henry James‘ The portrait of a Lady. Wie konnte ein religiös neurotischer, wunderlicher Sonderling wie Tolstoj die psychische Konstitution einer Petersburger adligen Ehebrecherin derart erfassen? Oder Henry James ein derart präzises, fesselndes Psychogramm zeichnen? Man könnte behaupten, beide hätten gefälligst gar keine Ahnung davon zu haben, wie sich eine Frau fühlt – dummerweise muss man aber die Werke nur lesen um festzustellen, dass sie es ziemlich genau wussten. Hier finden wir, nebenbei bemerkt, übrigens auch schon eine Kur für das hier beschriebene Problem: Lesen. Wer liest, lernt von guten Autoren, wie man Lebenswelten nachfühlt; wer liest, übt sich selbst darin, sich in persönliche „Welten“ einzufühlen. Ich bin davon überzeugt, dass der Mangel an Fantasie und Einfühlungsvermögen gegenüber den Gefühlen, Ansichten und Standpunkten „der Anderen“ zu einem großen Teil daran liegt, dass wir zwar sehr viel „lesen“, aber nichts von Bedeutung.

Bücher sind ein Beleg dafür, dass der Mensch die Welt außerhalb seiner selbst wahrnehmen kann. Es ist eine Grundvoraussetzung für stabiles Miteinander, dass Menschen davon ausgehen, einander verstehen zu können. Und es führt am Ende zu Egoismus und Verachtung gegenüber anderen, wenn man so tut, als sei man nicht bloß eine Insel, sondern das Universum schlechthin.