Sind Andersgläubige Gott weniger nah?

Vor einiger Zeit unterhielt ich mich mit katholischen Freunden über den Glauben. Sie waren der Ansicht, dass man nicht sagen könne, dass der Protestantismus weniger richtig sei als der Katholizismus. Begründet wurde dies mehr oder minder damit, dass es ja nun hochgradig arrogant und unbarmherzig wäre, Andersgläubigen ihre Nähe zu Gott abzusprechen.

Man braucht gar nicht darüber zu diskutieren, dass viele Katholiken Dumpfbacken sind, während zugleich viele Nichtkatholiken bewundernswerte, tolle Menschen sind. Ich kenne nicht nur evangelische Christen, von deren persönlicher Frömmigkeit ich mir gerne eine Scheibe abschneiden würde, nein, es gibt auch Atheisten, Agnostiker und Muslime, deren Lebenshaltung ich zutiefst bewundere. Dennoch kann logischerweise keines dieser Bekenntnisse so wahr sein, wie das der katholischen Kirche, oder aber der Glaube der Kirche ist nicht wahr. Diese Aussage ist hart und unangenehm – allerdings nur dann, wenn man zwischen Person und Doktrin nicht trennt. Der persönliche Glaube eines Menschen und/oder seine Beziehung zu Gott können sehr gut und innig sein, während das Bekenntnis, dem er angehört, voller Irrlehren ist. Das liegt an zwei Dingen: Zum einen liebt Gott jeden Menschen und will jedem nah sein. Außerdem sind alle Menschen seine Geschöpfe und tragen (laut heiliger Schrift) das Gesetz Gottes, das Gespür für das Gute, in sich. Wenn sie danach leben, können sie natürlich Gott nahe sein, ohne das Evangelium zu kennen. Z.B. sagt der Islam sehr klar, dass Ungläubige getötet werden dürfen. Je nach Auslegung variieren die Umstände, in denen das in Ordnung ist, aber niemand kann behaupten, der Koran verbiete es eindeutig und kategorisch. Dennoch gibt es sehr viele Muslime, die in dieser Frage nicht dem Koran sondern dem Gesetz ihres Herzens folgen.

In protestantischen Bekenntnissen mag es nicht ganz so dramatisch zugehen, aber auch hier ignorieren Gläubige regelmäßig die eigene Lehre, um nicht wider die Vernunft und wider ihr Gewissen handeln zu müssen: So nimmt kaum ein Reformierter die Prädestinationslehre ernst. Es wird zwar ab und zu behauptet, der Mensch habe keinen freien Willen, man zieht aber im Leben nicht die Konsequenzen daraus, die das hätte. Obwohl Werke an sich nichts bringen sollen, rufen Protestanten mit Vorliebe zu sozialem Engagement auf. Obwohl sie behaupten, dass allein die (wortwörtlich genommene) Schrift Autorität habe, haben alle evangelischen Gemeinden und Konfessionen Traditionen, die sich nicht aus der Schrift ableiten lassen – den Reformationstag z.B. Außerdem haben sie alle unausgesprochene „Vereinbarungen“ darüber, wie verschiedene Bibelstellen zu verstehen seien.

Die Nähe eines Menschen zu Gott ergibt sich nicht aus seiner Treue zu seinem eigenen Bekenntnis, sondern aus der Treue zur Wahrheit, die er nach bestem Gewissen zu erkennen trachtet. Und oft genug erkennen eben Nichtkatholiken sehr wohl, sehr gut, und auch besser, worauf es ankommt. Der Unterschied zum Katholiken ist nur, dass ihm tatsächlich in Autorität und Fülle offenbart ist, was diese Wahrheit ist. Aber auch er kann dann dieser Offenbarung gemäß leben oder sie ignorieren – nichts zwingt ihn dazu, auch katholisch zu leben. Dies ist übrigens auch ein wichtiger Punkt im Hinblick auf die Erlösung: Während Protestanten, die ihren Glauben ernstnehmen, mitunter in höchster Gewissensnot und Angst sind, weil etwa ein Verwandter oder ein lieber Freund Christus nicht bekennt, und er also laut strenger evangelischer Doktrin nicht gerettet werden kann, sieht das der katholische Glaube anders: Er verlangt nichts Unmögliches vom Menschen und Gott verdammt nicht, weil jemand nicht das Glück hatte, einem Missionar zu begegnen, oder weil er intellektuell oder emotional nicht frei dazu war, die Wahrheit zu erkennen. Wir nennen das Begierdetaufe: Wenn dem Menschen die Lehre klar vorliegen würde, würde er Christus dann annehmen? Dies widerspricht nicht dem Bibelwort, dass man nur durch Christus gerettet werden könne, denn auch dann wird man schließlich durch Christus gerettet. Der katholische Glaube kann also problemlos daran festhalten, dass die Kirche allein in der Fülle der Wahrheit steht, und zugleich davon ausgehen, dass der einzelne Mensch in diese Fülle auch gelangen kann, wenn er nicht katholisch im Sinne der Kirchenmitgliedschaft ist. Der Witz ist, dass viele bekennende Protestanten (vor allem eher freikirchlicher Prägung) so selbstverständlich von der Verdammung aller Nicht-Rechtgläubigen ausgehen, dass gemeinhin gar nicht vermutet wird, Katholiken könnten das anders sehen. Deshalb finden Protestanten, die die Ungerechtigkeit einer solchen Position erkennen, nur selten zu dem Bekenntnis der katholischen Kirche, sondern versuchen, einen Glauben ohne Hölle, z.B. einen Allerlösungsglauben zu etablieren, während zugleich Katholiken immer wieder mal damit konfrontiert werden, dass sie doch nicht allen Ernstes alle für verdammt erklären könnten, die ihren Glauben nicht teilen. Nö. Tun wir auch nicht.

Katholiken haben häufig Hemmungen, den eigenen Wahrheitsanspruch ernst zu nehmen und zu bekennen. Das kann verschiedene Ursachen haben: Entweder, man hält sich damit für arrogant, weil man meine, anderen etwas vorauszuhaben: Nun. In diesen sauren Apfel der Auserwähltheit muss man beißen. Tatsächlich hat man ja selbst keinen Anteil daran, dass einem die Offenbarung geschenkt wurde. Christus hat unmissverständlich gefordert, allen Menschen das Evangelium zu verkünden und sie zu taufen. Das meinte er sicher nicht aus Jux. Die Offenbarung erhalten zu haben ist keine Auszeichnung, die zu Stolz berechtigt, sondern ein Geschenk, das mit der Aufgabe und Pflicht verbunden ist, es den anderen zu überbringen. Ein anderer Grund ist, dass man an dem, was die Kirche verkündet, zweifelt und meint, sie habe Unrecht. Das ist ein komplizierter Punkt: Ich verstehe, dass es Menschen widerstrebt, zu meinen, ihr Glaube sei richtiger als der eines anderen Menschen. Dennoch wissen wir alle, dass es persönliche Glaubenseinstellungen gibt, die man nicht tolerieren darf. Wenn etwa jemand einen Glauben vertritt, der Tötung oder Entwürdigung gutheißt, oder einen, der ihm selbst psychische Probleme bereitet, so würde man es natürlich als notwendig empfinden, zu versuchen, bei diesem Menschen eine Änderung des Glaubens zu bewirken. Um wieviel mehr ist es notwendig, eine falsche Doktrin als solche zu entlarven? Schon in der Bibel wird viel Tinte aufgewendet, um falsche Glaubenshaltungen zu korrigieren.

Abgesehen davon ist übrigens ein bedenkenswerter Punkt, dass es ein Unterschied ist, Gott nah zu sein und Gott zu „kennen“. Ich kann Gott sehr nah sein und doch niemals wissen, dass ich es bin. Gott aber ist die Liebe, und lieben können wir nur, was wir kennen. Mission und Lehre sind also nicht nur wichtig, weil wir um das Heil des anderen fürchten, sondern noch viel mehr, weil wir möchten, dass jeder, der will, in eine liebende Beziehung mit Gott eintreten kann, weil er ihn erkennt (soweit dies dem Menschen möglich ist – und in Christus hat Gott ja diese Erkenntnisschwelle eklatant herabgesetzt, da er uns als Mensch entgegentritt) und somit dann weiß, wen er anbetet. 

Also: Das Bestehen auf der Wahrheit der katholischen Lehre bedeutet weder, dass man die Anhänger dieser wahren Lehre für besser oder wahrhaftiger hält als andere Menschen, noch, dass man andere Menschen für schlecht oder unwürdig hielte. Ein Mensch kann lediglich in der Wahrheit stehen oder nicht, seine Zugehörigkeit zu der Religion, die sie lehrt, bedeutet „nur“, dass er die Wahrheit kennen müsste und darum in größerer Verantwortung steht, der Wahrheit gemäß zu handeln, als jemand, der sie nicht kennen kann.