Literarisch-liturgisches Ragout von zweierlei Irrwegen und schuld ist das 19. Jahrhundert

Ein sonnendurchfluteter Sonntag, 11-Uhr-Messe im Osnabr… ups…ich will doch diskret sein…im Dom zu O. Ich habe vorher im Internet nachgeschaut, und keinen Hinweis auf irgendwelche Abstrusitäten gefunden, und dann heißt es in der Begrüßung doch, dass es sich um eine Familienmesse handele. Dafür ist die Präsenz junger Menschen erstaunlich gering. Nach dem Orgelvorspiel folgt ein vollkommen infantiles Lied, das mit Händeklatschen und Liebhaben zu tun hat, aber nicht mit Gott oder Gottesdienst. Es folgt kein Kyrie (warum auch), dafür aber wird nach dem Evangelium (der einzigen „Lesung“ übrigens) „Jesus Christ, you are my life“ gesungen. Das soll wohl eine Annäherung an die Jugend sein, leider ist die nicht übermäßig präsent und niemand kennt dieses Lied – als unverbesserliche Altritualistin meine ich natürlich, dass das Mitsingen (-können) keinesfalls eine Voraussetzung für tätige Teilnahme ist – spannend, wenn man sich mit den Modernisten auf unvermutetem Terrain mal so ganz und gar einig ist! Es folgt keine Predigt (warum auch), sondern eine Frau tritt mit Mikrophon nach vorn und bittet Kinder, zu ihr zu kommen, denn sie wollen den Gottesdienstbesuchern „etwas zeigen“. Ab da bekomme ich nichts mehr mit, da ich mich meiner chronistischen Pflichten kurzerhand entziehe und flüchte. Es ist noch früh, und irgendwo in gesegneteren Gegenden wird es eine Abendmesse für mich geben, mit der ich meiner Sonntagspflicht nicht nur äußerlich, sondern sogar geistlicherweise werde gerecht werden können.

Dies ist die eine entsetzliche Richtung, in die Religion abdriftet, wenn man sich nicht fest an die Lehre Petri klammert. Eine ganz andere aber hat mich an diesem Sonntag fast noch mehr entsetzt, und gerade als „konservativer“ Katholik (im Sinne einer Tautologie) tut es (schmerzlich) gut, sich bewusst zu werden, dass eine lebendige Beziehung zu Gott nicht automatisch winkt, da, wo man so tut, alles so zu machen wie die Altvorderen.

Kurz vor dem Gottesdienst betete ich vor der Ikone der Hilfe der Christen. Dort war es ziemlich voll mit Betern, und hinter mir schob eine indische Schwester einen alten Mann im Rollstuhl vor die Bankreihen. Er war geistig bereits etwas angeschlagen und hatte große Mühe zu sprechen. Er sagte zur Schwester „Ach ja, die Muttergottes… die Muttergottes… die ist lieb. Die ist viel lieber als…“. Er stockte, und mir lief es eiskalt den Rücken herunter, weil ich genau wusste, was er sagen wollte. Offensichtlich, obwohl nicht mehr ganz fit im Kopf, war auch ihm dieser Gedanke nicht geheuer, und er scheute sich, ihn auszusprechen. Er druckste herum, dann aber brach es doch auch ihm heraus: „Die ist viel lieber als der Herrgott selbst.“ Die Schwester sagte nichts, ich weiß nicht, ob sie ihn wirklich verstanden hat, und selbst wenn, kann man einem solchen Greis ja nun keine katechetische Vorlesung mehr halten. Mich hat diese Episode recht traurig gemacht. Schließlich ist Mariens Liebe nur deshalb so unermesslich, rein und groß, weil sie so unmittelbar aus Gott durch sie hindurch fließt. Man kann sich für diesen Mann nur wünschen, dass sie in der Stunde seines Todes bei ihm sein wird um ihm zuerst das große Licht der Liebe Gottes zu zeigen. Es ist gut möglich, dass dieser Mann Zeit seines Lebens oder wenigstens eine lange Zeit seines Lebens lang ein „guter Katholik“ gewesen ist. Und dennoch ist etwas dramatisch schiefgelaufen in der Vermittlung des Glaubens an ihn – denn was außer den am tiefsten sitzenden Regungen und Prägungen wird ein Mensch in seinem Alter noch halbwegs eloquent äußern können?

Ich habe gerade „Das Lied von Bernadette“ ausgelesen, und angesichts der Schilderung der Muttergottes in diesem fantastischen Werk fiel mir dieses Erlebnis wieder ein. Ich habe nämlich mit den Erscheinungen insbesondere von Lourdes (und Fatima) lange gehadert, nicht, weil es mir an Glauben gefehlt hätte, anzunehmen, dass die Erscheinungen wahr sind, sondern, weil die Art, wie Maria dargestellt wird, dieses blutleere, püppchenhafte Gesicht mit den wässrigen Äuglein, diese übermäßig „sanfte“ Aura, mir überhaupt nicht behagt. Werfel macht deutlich, dass diese „Verarbeitung“ der Erscheinung durch das Volk zwar legitim ist, dass diese gewisse Legitimität sich aber auf das Recht der Menschen bezieht, ihre Gefühle bezüglich der heiligen Jungfrau auszudrücken, nicht auf die Muttergottes selbst. Es ist also „in Ordnung“, kitschige Marmorbüsten her- und aufzustellen, aber das bedeutet keineswegs, dass sich die heilige Gottesgebärerin in solchen Darstellungen auch nur annähernd einfangen ließe. Diese eigentlich leicht begreifliche Feststellung hat mich innerlich richtiggehend aufatmen lassen – ich muss diese Darstellungen weder schön noch angemessen finden. Es reicht, sie hinzunehmen. Aber auch dieses Hinnehmen hat seine Grenzen, wenn es in Fehlvorstellungen mündet, wie sie der alte Mann aus O. entwickelt hat. In der Tradition der Kirche hat Maria keine blutleeren Namen. Sicher, sie ist Rose und Lilie, aber sie ist eben auch die Zertreterin der Häresien, die, die Ägyptens Götzen vom Thron gestürzt hat. Sie ist die Schutzwehr der Christenheit, eine mächtige Streiterin. Wer alte Ikonen betrachtet, der wird keine herkömmliche, abgegriffene „Lieblichkeit“ in der Darstellung Mariens finden, sondern viel herbe Schönheit, viel Strenge. Mittelalterliche Darstellungen dagegen sprühen vor Leben, mit Pausbäckchen, Wallehaar und so manchem verschmitzen Lächeln. Beide Richtungen schaffen etwas, das das 19. Jahrhundert der bürgerlichen Empfindsamkeit geopfert hat: Sie umgehen weiträumig die Gefahr, Gott und Maria als latenten Gegensatz zwischen Gericht und Gnade, väterlicher Strenge und mütterlicher Sanftheit zu konstruieren. Maria erscheint vielmehr tatsächlich als der „Mond“, der das Licht der Sonne (Christus) reflektiert: Was ihn ausmacht, sowohl Strenge als auch Macht als auch Freundlichkeit, das zeichnet auch sie aus, wenn auch alle Eigenschaften sekundär sind angesichts der Liebe, denn „Gott ist die Liebe.“ Ohne ihn könnte auch Maria nicht „lieb“ sein. Ihre Mütterlichkeit ist kein eigenständiges Prinzip neben Gott, sondern fließt ebenso wie Väterlichkeit aus dem Schöpfer aller Dinge. Wir tun gut daran, z.B. zu bedenken, dass das hebräische Wort für „Barmherzigkeit“ anatomisch nicht beim Herzen ansetzt, und explizit weiblich-mütterlich besetzt ist: רחמים („Rachamim“ – Barmherzigkeit) ist der Plural von „Mutterschoß“, „rächäm“.  Es ist also eine durchaus bedeutsame Beschneidung des Gottesbildes, wenn wir das mütterliche Prinzip Maria so vorbehalten, als sei sie eigentlich „autonom“ mütterlich und nicht auch dies durch Gott.

Wir „konservative Katholiken“ (i.S. einer Tautologie) benutzen gerne mal den Spruch „Zu Jesus durch Maria“. Wir ergehen uns in ausgiebiger marianischer Frömmigkeit. Das ist gut so. Aber gelingen kann das nur, wenn wir, so, wie wir auf der Suche nach dem ganzen Christus sind, auch die ganze Maria verehren, die kein sanft-verstrahltes Püppchen ist. Schiefe Mariologie, auch „Vulgärmariologie“ führt in alle Richtungen zu einem schiefen Gottesbild.