Die Lebensmittelampel und der geistige Niedergang

Wenn ich mit dem Auto unterwegs bin, höre ich den Radiosender, der nur Musikhits sendet und zwischendurch ein paar Celebrity-News über Leute, die ich nicht kenne (außer, ich befinde mich im WDR-Land. WDR ist gut.). Wenn ich allerdings den Sendebereich verlasse und es nur noch rauscht, kann es sein, dass, bevor ich den jeweils neuen Gute-Laune-Hit-Sender finde, irgendwas Seriöses kommt, Nachrichten zum Beispiel. Ich versuche, das zu vermeiden, denn wenn ich Nachrichten höre, rege ich mich auf.

Letztens also hörte ich unfreiwillig Nachrichten, und da wurde irgendeine Landesministerin befragt, deren Namen ich leider vergessen habe. Sie hatte eine penetrant hochgepresste, kindliche Stimme, die bei mir bereits alle Nerven blank liegen ließ – ich halte es ja nicht für glaubwürdig, Emanzipation hochzuhalten und dabei zu sprechen wie eine siebenjährige Animé-Heldin in Schuluniform, die Helium genommen hat.

Es ging um Lebensmittelampeln und darum, welches System dafür am besten sei. Frau Ich-spreche-gerne-in-der-dritten-Oktave erklärte füllwortreich, dass sie für ein einfaches System sei. Die Einfachheit wurde mehrfach nachdrücklich betont. Sie war also für ein Ampelsystem, das ein gesundes Lebensmittel mit grün und ein ungesundes mit rot kennzeichnet, und dazwischen ordnen sich dann noch mittelgesunde oder mittelungesunde Produkte als gelb ein.

Das klingt bescheuert, ist es auch: Zuerst einmal muss ich ja einen oder mehrere Parameter suchen, nach denen ich die Ampel aufstelle. Man müsste also Bestandteile finden, die man gut findet, Vitamine, Ballaststoffe und so weiter, und Dinge, die man schlecht findet, und das Ganze in irgendeiner Weise sinnvoll verrechnen und in ein Verhältnis setzen, das dann irgendwie als mehr oder weniger gesund bezeichnet wird. Angesichts der zahlreichen „gesunden“ (gemeint ist: wichtigen, lebensnotwendigen, gesundheitsfördernden) Inhaltsstoffe wäre es aber so gut wie unmöglich, eine aussagekräftige und leicht zu durchschauende Kennzeichnung vorzunehmen. Das wird noch dadurch erschwert, dass viele Inhaltsstoffe „ungesund“ werden, wenn man zu viel davon zu sich nimmt. Eigentlich kann man also nur die Inhaltsstoffe festlegen, die man schlecht findet, und deren Gehalt oder Nichtgehalt kennzeichnen. So, wie der Ernährungshype gerade aussieht, liefern sich die Nahrungsbestandteile Zucker und Fett einen Wettlauf darin, wer als ungesünder gilt. Je nach Agenda der Lebensmittelindustrie und eifriger Ideologen schwenkt das Pendel mal zur einen, mal zur anderen Seite aus.

Ich höre sehr oft Sätze wie „Da ist so viel Fett drin, das ist ungesund.“ Oder „Oh, da ist normaler Zucker drin, so ungesund.“. Die Mittelmeerküche, die als sehr gesund gilt, enthält aber z.B., wenn sie von guten alten Nonnas zubereitet wird, literweise Öl (und Kohlehydrate aus Weißmehl ohne Ende.. ). Und während man von einem unverschleiert süßen Baklava eben nur ein Ministückchen nimmt und schon völlig befriedigt und selig ist, kann man von „gesund“ schmeckendem veganen/ vegetarischen Kuchen mit Rohrohrzucker und Honig Massen in sich hineinstopfen (was man ja unter Umständen sogar in dem Irrglauben tut, er sei ja „gesund“). Manche Produkte enthalten dagegen „gar nichts“, und sind trotzdem (oder deshalb) alles andere als gesund.

Eine solche Ampel kann also gar nicht funktionieren, weil Ernährung nun einmal komplex ist. Besagte Ministerin hält „einfach“ für ein Synonym von „gut“. Sie ist für ein einfaches System und meint, gar nicht mehr erklären zu müssen, wieso das besser sei als ein komplexes. Tatsächlich darf eine Vereinfachung aber natürlich nur so weit gehen, dass sie noch zutreffende Aussagen über das zu Bestimmende erlaubt, sonst ist sie ja völlig sinnlos: Wir erfahren durch eine solche Ampel gerade bei fraglichen Lebensmitteln nicht, ob sie gesund sind oder nicht; sie setzt bloß Fett, Zucker oder sogar Salz mit „schlecht“ gleich. Die einfache Couchpotatoe, die denkt, dass Erbsen in der Dose wachsen, wird also bezüglich eines feinen Camemberts oder einer Bio-Heumilch in Zweifel geworfen, nicht aber, was die Coke Zero betrifft.

Die Lebensmittelampel und ihre „Einfachheit“ ist nur ein weiteres Steinchen im Mosaik der bedingungslosen Kapitulation vor der Verdummung und Faulheit der Allgemeinheit. Die Politik könnte in Bildungsprogramme investieren, die Kindern den Wert des Kochens und des Wissens um Lebensmittel nahe bringen. Viel einfacher ist es aber, an Lebensmittel mit hohem Fett- oder Zuckergehalt einen scharlachroten Punkt zu pappen. Nur lernt dadurch niemand, wie man sich „gesund“ (ich meine mit gesund „ausgewogen“) ernährt. Wenn ich wissen will, ob ich ein Produkt kaufen sollte, muss ich mir die Inhaltsstoffe durchlesen, und eventuell die Nährwerte. Tja, Pech gehabt, aber leichter, einfacher ist die Info nicht zu bekommen. Wenn ich wissen will, wie Goethes Faust geht, muss ich ihn halt lesen. So ein Mist aber auch.

Wie wäre es, wenn man sich etwa statt Digitalisierung „Lebensmittelmündigkeit“ auf die Fahnen schreiben würde? Essen ist schließlich lebensnotwendig, Smartphones sind es immer noch nicht (nein, wirklich nicht!). Im Augenblick befinden wir uns in einer Abwärtsspirale, in der auf immer mehr Unfähigkeit statt mit befähigenden Maßnahmen mit solchen geantwortet wird, die die Unfähigkeit steigern. Jeder weiß, das Muskeln degenerieren, wenn sie nicht benutzt werden, und dass man sie bei Einschränkung maßvoll wieder belasten muss, damit sie ihre volle Funktionstüchtigkeit wiedergewinnen. Bildung wäre eine Maßnahme, die die Unabhängigkeit des Bürgers nach und nach aber auch nachhaltig wiederherstellt. Sie regt ihn zum selbstbestimmten und selbstdurchdachten Handeln an.

Eigentlich müssten unsere Politiker ja ohnehin schon vor Scham erröten, dass in einer führenden Kulturnation überhaupt irgendjemand nicht weiß, wie man ausgewogen isst, Kochen ist eine grundlegende Kulturtechnik. Wenn das Kind aber in die Fritteuse gefallen ist, gut, dann muss man Lösungen finden. Aber doch keine einfachen, sondern adäquate.