Fronleichnam in der Diaspora – unverhüllte Glaubenslosigkeit

Am Donnerstag nach dem Dreifaltigkeitssonntag feiert die Kirche ein ganz besonderes Fest. Es heißt „Kommunionkleidfest“ und bezeichnet einen feierlichen Gottesdienst mit Prozession, der den Erstkommunionkindern, besonders den Mädchen, die Gelegenheit gibt, ihre schönen weißen Kleidchen noch einmal zu tragen. Ähm – naja. Eigentlich heißt das Fest natürlich Corpus Christi, und gefeiert werden nicht die Erstkommunionkinder, sondern der Herr, der sich so sehr in unsere Hand gegeben hat, dass er sich von uns durch die Straßen tragen lässt. Wo er hinkommt, sinken die Menschen in die Knie um anzubeten und zu zeigen, dass das, was da feierlich unter einem Baldachin an uns vorbeizieht, keinesfalls ein Stück Brot ist, und auch kein Sinnbild für Christus – sondern Er selbst.

Nun hat sich aber anscheinend herumgesprochen, dass der Festinhalt ein wenig sperrig ist. Irgendwie kann das ja keiner mehr so richtig glauben, dass das wirklich der Leib des Herrn IST, und nicht bloß bedeutet. Zwar bringen sich in anderen Ländern immer noch regelmäßig Menschen in Lebensgefahr, weil sie bei Anschlägen und Terrorakten in die Kirche rennen um den Leib des Herrn zu retten, statt einfach wegzulaufen – selten dämlich, aber es sind halt unaufgeklärte Leute in der Dritten Welt. Von uns kann man so etwas nicht erwarten. Und dass ich mein Kleid schmutzig mache und mich hinknie, wenn das goldene Dingsbums – äh – Monstranz vorbeizieht mit der Oblate drin, ne, also echt.

Ich bin sonst ein Mensch, der sparsam damit umgeht, von Äußerlichkeiten auf die innere Befindlichkeit eines Menschen zu schließen. Aber ich meine, an der Kniebeuge vor dem Allerheiligsten, wenn es nicht im Tabernakel ist und man die Kniebeuge automatisch macht, weil man es so gelernt hat, kann man, abzüglich der Kniekranken etc. sehr wohl etwas ablesen über den Glaubenszustand der hiesigen Katholiken.

In diesem Jahr habe ich in der Kathedrale eines Diasporabistums gefeiert und muss sagen: Ich bin völlig fertig, weil ich das Gefühl habe, die ganze „Last“ der Anbetung ruhte auf maximal 1/5, eher weniger, der Anwesenden. Ja, die Kirche war voll – schließlich lässt sich kaum ein Mädchen die Chance entgehen, ihr Hochzeitskleidchen noch einmal anzuziehen, und kaum eine Mutter, sich das noch einmal anzusehen. Ja, die Messe war eine Messe, ohne Firlefanz (und zum ersten Mal seit geraumer Zeit durfte ich Musik in einer Kathedrale hören, deren Darbietung in ihrer Qualität tatsächlich einer Kathedrale würdig war). Und doch: Der Kern dieser Feier wird an keinem Tag so deutlich wie diesem, wenn die Gegenwart Christi noch einmal besonders herausgestellt und durch die Prozession bezeugt wird. Wenn kein Mensch meint, man müsse auch nur den Hauch einer Ehrbezeugung darbieten, wenn das Allerheiligste vorbeigetragen wird, dann läuft etwas falsch. Ich bin zwar selbst ein Fan ausufernden Herumkniens, ich kann aber gut verstehen, wenn Menschen das als unpraktikabel ansehen. Insbesondere bei größeren Traddiveranstaltungen, wo viele Priester Kommunion austeilen, kann es zum Spießrutenlauf werden und gleicht mitunter einem Rugbyspiel, wenn man übereinander fällt vor lauter Anbetungsfleiß. Ja, ich bin bereit, auch eine Kopfverneigung oder ein sonstiges bescheidenes Zeichen der Ehrerbietung zu akzeptieren. Tatsächlich laufen die Leute einfach dran vorbei.

Über die Predigt könnte ich übrigens vor Frust einen eigenen Artikel schreiben. Ich höre immer, im Christentum ginge es um Liebe. Ich habe kaum Liebe für den Heiland spüren dürfen, und dabei sollen doch gerade prunkvolle Feste wie dieses die Liebe in Gemeinschaft erfahrbar machen, damit der Christ für seinen Alltag gestärkt ist!

Das denkwürdige Ende der Prozession sagt alles aus, was dazu zu sagen wäre: Bei den Altären (der letzte war vor der Kirche) sang ein kleiner studentischer Gospelchor. Außerdem gab es eine sehr gute Bläsergruppe, die während der Prozession spielte und sich zum Schluss auch am letzten Altar einfand. Nun stand auf unseren Liedzetteln, dass nach dem eucharistischen Segen der Herr in den Tabernakel zurückgebracht würde, mit der ganzen Gemeinde, und der Gospelchor würde dann noch „ein paar Lieder“ singen.

Der Segen wurde erteilt, und der Zug der Kleriker schritt durch das Hauptportal – das in diesem Augenblick von einem eifrigen Küster geschlossen wurde. Durchhuschen konnten noch ein Pärchen, das nicht deutsch war, ich nehme an polnisch, eine Nonne und ihr Begleiter, sechs Studenten der zwei Verbindungen, die zugegen waren samt Flaggen, ein Malteserritter, zwei weitere Ritter und eine Dame eines mir unbekannten Ordens, und ich, weil ich naiv davon ausgegangen war, dass nun alle erst einmal in die Kirche gehen würden, es hatte ja noch kein Te Deum gegeben. Da ich die meiste Zeit sehr weit hinten war, wollte ich die Gunst der Stunde nutzen und arbeitete mich sofort in Richtung Hauptportal vor, als der Segen erteilt war.

Wir brachten den Herrn in die Sakramentskapelle, wo wir niederknieten, ein Kleriker stimmte das Te Deum an (also, nein, natürlich stimmte er „Großer Gott, wir loben dich“ an), wovon wir zwei Strophen sangen – sehr laut und gut, aber eben nur zwei Strophen, weil niemand wusste, wie inbrünstig und liebestoll man denn nun sein darf gegenüber Gott.

Während dessen hörten wir draußen die Leute klatschen für den Gospelchor: Dessen „Auftritt“ war das, was die Leute hören und sehen wollten. Es wäre als Unhöflichkeit aufgefasst worden, wegzugehen, während dieser noch sang, also ließ man den Herrn einfach mal allein.

Diaspora ist, zugegeben, kein besonders schönes Setting für Fronleichnam. An diesem einen Tag geht es um Prunk, um Macht, um Triumph, um Blütenteppiche. Die Kirche will an diesem Tag alles aufbieten, was sie an Glanz hat, alles, was sie an Menschen hat, nicht, weil sie sich so toll findet, sondern weil ihr bewusst ist, dass selbst der kostbarste Goldschmuck und der größte Jubel nicht annähernd ausreichen für den größten, wahren und unverfügbaren Schatz, den Gott der Kirche geschenkt hat: Sich selbst. Man ist versucht, den kleinen Zug von Menschen, vorbei an Leuten, die völlig perplex sind und gar nicht raffen, was da gerade passiert, für irgendwie traurig zu halten. Auf der anderen Seite ist Diaspora auch die Situation, in der das eigene Zeugnis am unbequemsten und intensivsten ist: Knien wir uns hin vor einem vermeintlichen Stück Brot? Da, wo es alle machen, ist das schön und gut, da, wo man zu den wenigen gehört, stellt man an den Rest der Welt eine Frage, die aufrütteln kann. Bei sonstigen Glaubenszeugnissen kann man sagen, ein Mensch sei eben heroisch, besonders nächstenlieb, er brauche das eben, weil es ihm gut tut etc. Man kann das Zeugnis isolieren als gute Tat oder geschuldet der persönlichen Disposition des entsprechenden Menschen. Wenn jemand vor einem Stück Brot in den Staub sinkt, kann das Urteil nur sein, dass die Person verrückt sein müsse – oder aber man muss darüber nachdenken, was das bedeutet, was das für das eigene Leben bedeutet. Und hier hat die Gemeinde, die ich dieses Jahr erleben durfte, eindrucksvoll versagt. Sie hat ein Zeugnis gegeben dafür, dass Katholiken gemeinsam durch Straßen ziehen und singen. That’s it.

Ich habe Fronleichnam in zwei weiteren Diasporakirchen erlebt – im einen Fall waren derart viele Polen in den Gemeinden der Stadt, dass man das Glaubensdefizit nicht bemerkte, der zweite Fall war Berlin, wo zwar einiges nicht gut lief, aber wiederum zahlreiche Ausländer auffingen, was die Deutschen an Liebe, Hingabe, Ehrerbietung, Anbetung und Glauben schuldig bleiben. Ich bin Gott unendlich dankbar für das Allerheiligste Sakrament des Altares und dafür, dass er uns so nahe sein will, dafür, dass er uns dieses Unterpfand der kommenden Herrlichkeit schenkt. Aber ich bin auch frustriert und erschöpft, weil das, was einfach nur katholisch ist, offensichtlich in Deutschland eine Minderheitenposition ist. Es ist jedenfalls ganz und gar kein Wunder, dass unsere Kirche in Deutschland so wenig wirkmächtig ist: Wer nicht an den glaubt, der die Macht verleihen will, kann auch seinen Auftrag nicht ausführen.