Der Eunuch im Bibelkreis

Eher zufällig wurde ich gestern auf eine Bibelstelle gestoßen, die mich immer sehr berührt hat, aber über die ich längere Zeit nicht mehr nachgedacht hatte. Es handelt sich um die Taufe des Kämmerers der äthiopischen Königin durch den Philippus, geschildert in der Apostelgeschichte.

An dieser Geschichte hat mich immer besonders bewegt, dass dieser Mann, ein Gottesfürchtiger, also ein Nichtjude, der den Gott Israels bekannte, sich größter Frömmigkeit befleißigt, obwohl er ja niemals „vollgültig“ Angehöriger des auserwählten Volkes würde sein können, zumal als Eunuch. Gerade heute wird ja oft irgendwie ein Zusammenhang zwischen Glaube und „Belohnung“ angenommen – also, ich glaube, weil mir das irgendein Wohlgefühl beschert. Weil es mir hilft, gut zu leben. Im Extremfall: Weil man sich davon soziale Aufwertung verspricht oder sogar Wohlstand und Erfolg. Gerade diese Gottesfürchtigen aber zeigen, dass die Gottesbeziehung keine soziale Einrichtung ist, die uns beim Aufstieg hilft: Sie waren in religiösen Dingen immer „zweiter Klasse“. Sie konnten nicht damit rechnen, damit belohnt zu werden, eines Tages „echte Juden“ zu sein. Das alles hielt aber diesen Äthiopier nicht davon ab, die lange Reise nach Jerusalem anzutreten um wenigstens im „Vorhof der Heiden“ Gott anzubeten.

Ein Zweites aber ist die ganz selbstverständliche Demut, mit der er die heilige Schrift behandelt, und die ganz dringend wieder Eingang in die Haltung der Katholiken finden muss: Als Philippus ihm begegnet, ist er auf der Rückreise und liest in der Schrift. Philippus fragt ihn: „Verstehst du auch, was du liest?“ (Apg 8,30) und jener antwortet: „Wie könnte ich es, wenn mich niemand anleitet?“ (Apg 8,31). Daraufhin erläutert Philippus, auf wen sich Jesaja in seinen Prophetien bezieht, der Kämmerer hört, glaubt, und lässt sich an Ort und Stelle taufen – und wird damit erster eines der ältesten christlichen Völker überhaupt.

Man beachte, dass der Kämmerer Philippus ohne Wenn und Aber als Autorität annimmt. Er geht nicht davon aus, ermächtigt zu sein, das Wort selbst auszulegen. Es ist einfach herrlich lapidar, und ein Schlag ins Gesicht jedes modernen, individuellen, geistgeküssten Bibelteilers, wie er schlicht feststellt, dass er ja nicht verstehen könne ohne Anleitung. Genau das ist ein Grauen in den Augen vieler: Anleitung? Autorität? Auf keinen Fall!

Nun muss man einschränkend sagen: Der Kämmerer war eben noch nicht getauft. In dem Augenblick, in dem er durch die Taufe mit dem Heiligen Geist begabt ist, ist er durchaus auch bevollmächtigt. Dennoch fällt die Anleitung nicht einfach weg, sie geschieht nur von nun an durch den Heiligen Geist.

Viele Protestanten, Evangelikale, aber auch Katholiken, die die evangelikale Herangehensweise an die Schrift attraktiv finden, meinen, dass diese Leitung des Heiligen Geistes jede „weitere“ Autorität überflüssig mache.

Dabei übersehen sie zwei wichtige Punkte, nämlich zuerst den, dass der Heilige Geist als Teil der Heiligen Dreifaltigkeit und ausgehend vom Vater und vom Sohn sich nicht selbst widersprechen kann. Er kann also durchaus den einzelnen Gläubigen zum Verständnis führen, der Gläubige, dessen Charisma der Unterscheidung aber nur durchschnittlich ausgeprägt ist, bedarf aber der ständigen Rückversicherung, dass der, dem er folgt, wirklich der Heilige Geist ist, nicht der eigene oder gar ein schlechter Geist. Die Gefahr, in eigener Autorität zu deuten, ist immens. Auch sehen wir an der Fülle von Bibelkommentaren, die uns von den Kirchenvätern überliefert sind, dass ein unüberschaubar großes Detailwissen nötig wäre, um eine Bibelstelle auch nur annähernd in ihrer Fülle zu erfassen.

Und schließlich ist die Autorität der Kirche keine „weitere“ Autorität. Es ist ja die Kirche als Gemeinschaft der Getauften, die mit dem Geist ausgerüstet ist und durch das Pfingstwunder eingesetzt und bestätigt. Die Autorität der Kirche ist eigentlich ureigene Autorität, die einzige, auf die man sich persönlich verlassen kann als unberührt von jeglichem Irrtum. Zugespitzt heißt das: Statt eine Einsicht, die mir die Bibellektüre beschert, mit jeder jemals dagewesenen Einsicht eines jeden jemals dagewesenen Christen zu vergleichen um zu überprüfen, ob sich da auch nichts widerspricht, kann ich über die Autorität der Kirche schnell erkennen, ob eine Einsicht vom Geist inpiriert sein kann oder nicht.

Das gilt nicht nur so, dass ich durch den Rückgriff z.B. auf die Väter eben den Reichtum der Bedeutung der Schriftworte tiefer erfassen kann. Gemeint ist viel mehr als „nur“ tieferes Verständnis für diese oder jene Schriftstelle. Eigentlich dreht es sich um das Gesamtgefüge der Erlösung, dessen Scharniere manchmal ganz unerwartet ineinander greifen. Der Gläubige, der sich demütig mit dem Kämmerer an die Kirche wendet, um angeleitet zu werden, wird mit erstaunlichen, atemberaubenden Einblicken in die Zusammenhänge der Erlösung und des Welt- und Ewigkeitsgefüges beschenkt. Einblicke, die so viele Schriftstellen zusammenschauen, die auch historische, soziale, psychologische, anthropologische Realitäten so dicht mit einbeziehen, dass sie der Einzelne in dieser Intensität nicht entwickeln kann.

Es ist eine traurige Entwicklung, dass, ausgehend von den Fake News, Katholiken würden sich zu wenig mit der Bibel beschäftigen, ausgerechnet evangelische Formen des Bibelstudiums genutzt werden, die die Autorität der Kirche als zweitrangig sehen, wenn sie sie nicht gar gänzlich negieren. Man kann von Protestanten gar nicht erwarten, dass sie im Einklang mit der Kirche denken und fühlen, weil sie in unterschiedlich hohem Maße von der Kirche abgeschnitten sind. Für Katholiken stellt Bibelteilen etc. dagegen eine wirkliche Verarmung dar (wenn nicht konsequent katholisiert), weil sie sich damit aktiv der Fülle des Heiligen Geistes entziehen und die Bedeutung des Schriftwortes auf den eigenen Erfahrungshorizont reduzieren.