Die Erkenntnis des Heils: unnötige Übersetzungspannen
Ad dandam scientiam salutis plebi eius in remissionem peccatorum eorum.
Lk 1, 77
Diesen Satz betet die Kirche jeden Morgen in den Laudes. Er ist Teil des Benedictus, des Canticums, „Gesangs“, des kirchlichen Morgengebets. Es ist ein ziemlich reicher Satz, über den man lange nachdenken kann, aber die Einheitsübersetzung hat sich auch hier seiner Poesie in verfälschender Weise angenommen, um auch ja jeden inneren Reichtum zu killen. Das ist ungut, denn man will den Morgen ja mit Gebet beginnen, nicht mit Ärger. Zu welcher Gebetsäußerung zwingen uns die Macher der „Einheits““übersetzung“?
„Du wirst sein Volk mit der Erfahrung des Heils beschenken in der Vergebung seiner Sünden.“
Tut mir leid, aber das ist ein Verbrechen (noch schlimmer ist im selben Gesang die Übersetzung von Horn des Heils mit starker Retter, aber das ist ein anderes Thema).
Übersetzung ist eine heikle Angelegenheit. Schon die Übersetzung zwischen mir und meinem Gegenüber kann schnell an ihre Grenzen geraten. Geht es um jahrtausendealte Texte, so wird es ungemein komplex, wenn man die Lebens- und Bedeutungswelt einer vergangenen Epoche – die man ja wirklich präzise gar nicht kennen kann – transportieren will und zugleich ohne ausufernde Kommentare unmittelbar verständlich sein will. In diesem Fall aber ist das Problem nicht der Text, die Sprache, die Zeit, sondern der blanke Unwille, den biblischen Text korrekt wiederzugeben.
Erst einmal sind da Nickeligkeiten wie willkürliche Ausschmückungen: Statt lapidar-nüchternem geben großzügiges schenken. Ich persönlich mag ja an den Alten Sprachen ihre archaische Geradlinigkeit, aber meine Güte. Beschenken soll hier vielleicht Unverdientheit betonen, da geben aber nichts Gegenteiliges impliziert, eine Belagerung von Luftschlössern. Abgesehen davon ist es unglücklich, da der Satz auf Johannes den Täufer bezogen ist, nicht direkt auf Gott. Gott schenkt uns das, indem Johannes es uns (weiter)gibt bzw. vermittelt. Beschenken impliziert, dass Johannes der Besitzer dessen wäre, was er schenkt, ist er aber nicht. Weder die Taufe, noch die Sündenvergebung noch die Erkenntnis des Heils gehören ihm zum Beschenken anderer. Nur eine Frage: WARUM ein Wort erfinden, das einen falschen Eindruck erweckt, wenn es eine einfache wörtliche Übersetzung gibt?
Dann aber kommt ein echter Brocken: Gott will uns nämlich in der Vergebung unserer Sünden was schenken? Scientia des Heils (salutis). Im Griechischen Text Gnosis der Rettung. Das bedeutet Erkenntnis bzw. Wissen und ist etwas völlig anderes als „Erfahrung“. Es gibt keinen legitimen Grund, hier nicht Wissen oder Erkenntnis zu nutzen, wie es jede gescheite Bibelübersetzung tut (übrigens erschreckend, was meine Lieblings-Hass“übersetzungen“, im Grunde freie Nachdichtungen, wie Hoffnung für alle oder Gute Nachricht Bibel daraus machen. Man sollte meinen, ein klarer Satz sei auch klar zu übersetzen – weit gefehlt!).
Erfahrung hat (anders als das zugehörige Verb, das auch in sachlich-rationalem Sinne verwendet werden kann) besonders im sozialpädagogischen Sprech eine Konnotation des schwammigen, aber entschieden subjektiven Erlebens, das tendenziell dem Außen und dem Anderen unzugänglich ist (damit auch tendenziell nicht kritisierbar). D.h. es rührt fast an einen Gegensatz zu dem, was scientia hier ausdrücken will, nämlich ein rationales Erkennen von Fakten, hier vom Faktum der Erlösung, die Gott vorgesehen hat. Es geht hier gerade nicht darum, dass ein Individuum spürt, dass es erlöst ist, sondern dass es weiß, dass es erlöst ist. Auch, wenn das Gefühl dafür nicht ausgebildet oder zugänglich ist. Selbst die von manchen evangelischen Übersetzungen gewählte Variante, er solle/werde dem Volk das Heil verkünden, ist sinngetreuer, da ich durch Verkündigung etwas erfahre, aber eben im sachlichen Sinne, und es dann eben weiß. Hier mit Erfahrung zu übersetzen (was eben keine Übersetzung, sondern eine Erfindung ist), verschiebt Gottes Wirken in die Sphäre des individuellen Erlebens. Er hat aber nicht „nur“ eine individuelle Person auf einer individuellen Ebene erlöst, sondern die gesamte Schöpfung. Und das erkennen wir an bzw. in der Vergebung der Sünden, d.h. in der Taufe. Sinnig, schließlich singt Zacharias diesen Lobgesang angesichts der Geburt seines Sohnes, des Täufers.
Zudem kann man „Erfahrung“ jeweils unterschiedlich machen. Durch diese sehr unglückliche Konnotation kann also sogar eine Art Relativierung des Erlösungsgeschehens entstehen: Der eine erfährt das Heil eben so, aber der andere kann sie auch so erfahren. Vielleicht bin ich nur paranoid, aber definitiv würde Erkenntnis diese Schwammigkeit überhaupt nicht erst ermöglichen.
Im Markusevangelium wird geschildert, wie Jesus zu einem Gelähmten gerufen wird. Statt ihn zu heilen, sagt er ihm, dass ihm seine Sünden vergeben seien. Als diese „Anmaßung“ Unwillen hervorruft, sagt er sinngemäß: „Damit ihr seht, dass ich die Vollmacht dazu habe, sei gesund.“ Vergebung der Sünden und Heil(ung). Als Fakt: Der Mann ist aufgestanden und gelaufen. Er hat sich nicht bloß erlöst „gefühlt“, oder eine individuelle Erfahrung der Nähe Gottes gemacht, er ist konkret geheilt worden, und alle anderen haben es gesehen und erkannt.
Scientia verwurzelt das Erlösungsgeschehen durch die Taufe bombensicher und fest in der historischen und persönlichen Wirklichkeit. Ich verstehe nicht (nicht nicht nicht), wie man als christlicher Übersetzer dem Gottesvolk diese Dimension entreißen kann. Oder besser: Ich verstehe es. Ein postmoderner Übersetzer ist eben der postmodernen Ansicht, es gäbe keine Erkenntnis. Dann kann man natürlich nur noch erfahren. Allerdings interessiert mich nicht, was ein postmoderner Mensch findet, ich möchte wissen, was unaufgeklärte Semiten des ersten Jahrhunderts dachten. Der postmoderne Mensch kann doch sein eigenes Benedictus schreiben. „Lobgesang des Horst“ statt „Lobgesang des Zacharias“. Ist doch okay. Bloß Etikettenschwindel ist ärgerlich.
Das Benedictus ist ein sehr dichtes Gebet, das voller komplexer Ausdrücke ist. Die Einheitsübersetzung versagt bei jedem einzelnen. Wer also gerne wirklich das Benedictus des Zacharias beten möchte, aber unüberwindliche Hemmungen gegenüber der lateinischen Sprache hat, sollte hier auf die Lutherübersetzung (argh) zurückgreifen.
Liebe Anna, was Sie beschreiben, ist der Grund, warum ich Bibellektüre nur noch auf Latein und Griechisch betreibe. Allerdings habe ich das Privileg, dass die alten Sprachen mein täglich Brot sind. (Wobei man selbst da aufpassen muss: die derzeitig gängigen Urtextausgaben des NT sind leider eklektischen Editionsprinzipien verpflichtet und daher oft auch ein gelehrtes Konstrukt, auch wenn der Bibeltext glücklicherweise insgesamt stabil genug überliefert ist. Die protestantische Idee eines angeblichen „Urtextes“ hat viel Unheil in die Theologie gebracht, aber das ist ein anderes Thema.)
Aber das wirklich schlimme ist, wie Sie sagen, dass den Gläubigen, die ihren Berufen nachgehen und vielleicht nicht die Zeit oder die Mittel haben, Bibelübersetzungen nachzuprüfen, die Tiefe des biblischen Textes vorenthalten wird und die Übersetzer dabei noch behaupten, sie würden dem modernen Menschen die Bibel in seiner „eigenen“ Sprache vermitteln. Jemand mit gesundem Menschenverstand, der solchen Quatsch hört, wird aus dem Bauch heraus sagen: Das kann nicht stimmen. Nie und nimmer kann ein Zacharias so gebetet haben. Warum soll ich da hingehen, wenn ich dort den gleichen Käse höre wie überall?
Als ich die Ankündigung gehört habe, die revidierte Einheitsübersetzung sei von „zeitgebundenen“ Übersetzungen (gemeint war: der 70er Jahre) befreit worden, musste ich lauthals auflachen – es war nur eine Frage der Zeit, bis ich in irgendeinem Psalm das Wort „achtsam“ gefunden habe. 😀
In der Herder-Bibel lautet der Vers: „um seinem Volk Erkenntnis des Heiles zu geben / in der Vergebung seiner Sünden.“ Sie erweist sich immer mehr als gute katholische Alternative, wenn man nicht Luther lesen will.
Ein anderes Thema wären die Unterschiede zwischen griechischem Text und der Vulgata. Aus „in der Vergebung der Sünden“ (ἐν ἀφέσει ἁραρτιῶν) wird der Richtungsakkusativ „zur Vergebung der Sünden“ (in remissionem peccatorum). Das nicht einfach ein „Übersetzungsfehler“, sondern Theologie, die anscheinend eine lange Tradition hat, denn auch die syrische Übersetzung des NT hat diese Formulierung. Durch den Urtextfetischismus gehen alle diese Nuancen und die Tatsache, dass Texte ihre Geschichte haben und somit auch in der Heilgeschichte verankert sind, vollkommen verloren.
Da Sie neuerdings mit Vornamen auftreten, unterschreibe ich mit solchem,
Ludwig
Vielen Dank für diese ergänzenden Informationen! Das ist sowieso sehr sehr spannend, mit der Richtung, die Übersetzung hatte ich auch irgendwo gesehen, da ich aber weder Latein noch Griechisch kann (ich habe nur das Hebraicum und spreche diverse romanische Sprachen,so dass ich Bibellatein recht gut verstehe), war das schon zu fein, das konnte ich nicht überprüfen. Sie Glücklicher! Ich muss auch endlich mal die Zeit finden mich diesen Sprachen zu widmen…
Auch volle Zustimmung zum Urtextfetisch. Dazu werde ich natürlich im Bereich catholic Basics demnächst noch mal rumätzen…