Wie aufgeklärt sind wir eigentlich?
Die Ermordung des französischen Lehrers Samuel Paty lässt die Gemüter hochkochen, wie jedes Mal, wenn ein islamistischer Anschlag Europa erschüttert. Dass in anderen Teilen der Welt islamistischer Terror zum Teil Staatsdoktrin ist, lässt dagegen die meisten kalt.
Nun würde man meinen, wenn Islamisten ein Verbrechen begehen, müsse man Islamismus kritisieren, bzw. je nach Definition den Islam, der Grundlage des islamistischen Terrors ist. Nicht so die taz. Die taz kritisiert „Religion“. Wer Terror mit Religionskritik beantwortet, der macht es sich leicht: Er hat vorher einen Religionsbegriff definiert, dem zufolge alle Religionen im Kern gleich seien, weshalb die Fehler einer Religion Fehler aller Religionen sind: Konkret führen gemäß linker Definition alle Religionen zu Hass, Gewalt, Unwissen und Unterdrückung, wenn sie konsequent gelebt werden. Das ist reine Fiktion. Konsequent gelebtes Christentum führt zu völlig anderen Phänomenen als konsequent gelebter Islam. Folgen wir also der Logik, muss zwischen beiden ein qualitativer Unterschied bestehen, der verbietet, negative Effekte des einen der gleichen Quelle zuzuordnen wie negative Effekte des anderen. Dass Stephan Grigat keinen belastbaren Religionsbegriff hat, macht er zum Glück schon in den ersten Zeilen deutlich: „Im Jahr 2020 über Religionskritik zu sprechen ist schwierig, weil man schlecht die Gefechte des Mittelalters wiederaufleben lassen kann. Es stellt sich die Frage, wie Menschen kritisiert werden sollen, die im 21. Jahrhunderts allen Ernstes behaupten, es gebe höhere Wesen, und sich also, ganz freiwillig und ohne Zwang, auf das intellektuelle Niveau von vor ein paar hundert Jahren begeben.“ (Hier geht’s zum archivierten Artikel – no Clicks für die taz… courtesy eines Freundes 😉 )
Die intellektuelle Leere der Linken in zwei Sätzen zusammengefasst.
- Erste Frage: Wieso kann man „Gefechte des Mittelalters“ nicht wiederaufleben lassen, wenn die Probleme von damals nun einmal nicht gelöst sind?
- Zweite Frage: Glaubt Herr Grigat allen Ernstes, die Frage der Religion sei in erster Linie die Frage nach „höheren Wesen“?
- Dritte Frage: Wie ist es um das intellektuelle Niveau von heute bestellt, und wie kann ein Mensch, der ein bisschen belesen ist, behaupten, dieses sei vor ein paar Hundert Jahren (bequeme Ungenauigkeit…) niedriger gewesen?
Die Mentalität „Was alt ist, kann weg“, ist bewährte 68er-Denke („Unter den Talaren…“), aber nicht hilfreich. Trotz intensiver Bemühungen und mehrerer Revolutionen ist es nicht gelungen, die grundlegenden, den Menschen seit Jahrtausenden bewegenden Probleme und Fragen zu lösen bzw. zu beantworten. Die Menschen haben immer noch Konflikte (auch im Sozialismus), sie haben immer noch Angst vorm Sterben, fragen sich immer noch, wie es um ihre Seelen bestellt ist (ja, sie glauben immer noch an Dinge, die man nicht sehen kann, wie etwa „Seelen“). Obwohl diese Konstellationen alt sind, sind sie kein bisschen muffig, sondern ewig aktuell. Weshalb keine linke Ideologie oder „Philosophie“ sie hat wegrationalisieren können.
Tatsächlich hat Benedikt XVI. in seiner Regensburger Rede gezeigt, dass ein zentraler religionsphilosophischer Konfliktpunkt zwischen Christentum und Islam seit seiner Entstehung, die Stellung der Vernunft im Glaubensgebäude, unverändert thematisiert werden muss. Er zitiert darin den byzantinischen Kaiser Manuel II. Palaiologos, der das Verhältnis des Islam zur Gewalt als nicht vernunftgemäß charakterisiert. Manuel II. Palaiologos war 1420 Kaiser von Byzanz. 2020 wird am helllichten Tage ein Lehrer, der Religionsfreiheit mit seinen Schülern thematisiert hatte, auf offener Straße brutal ermordet. Herr Palaiologos würde heute also nicht als besonders altmodisch oder rückwärtsgewandt auffallen mit seiner Aussage. Der Grund, weshalb Herr Grigat die „mittelalterlichen Gefechte“ nicht weiter ausfechten möchte, kann also nicht sein, dass sie „lange“ zurückliegen, sondern eher, dass das historische Gedächtnis des Herrn Grigat nicht gespeichert hat, dass die „mittelalterlichen Gefechte“ hochaktuell und auch nie zur Ruhe gekommen sind. Er weiß wahrscheinlich schlicht nicht, worin sie bestanden. Er scheint zu denken, barbarische Leute aus dem Okzident hätten ungefähr gleich barbarische Leute aus dem Orient abgeschlachtet, weil sie sich über die Farbe des Bartes des alten Mannes auf der Wolke nicht einig werden konnten. Dass es sich damals bereits um intellektuell komplexe (Und man kann sich sicher sein: Wenn etwas auf Altgriechisch diskutiert wird, dann wird es notgedrungen komplex.) Diskussionen gehandelt hat, kommt ihm nicht in den Sinn. Dass sich die christliche Religion mit durchaus viel Grundlegenderem beschäftigt als mit „höheren Wesen“, ebenso wenig. Obwohl Grigat ja das „intellektuelle Niveau“ eines (post)modernen Menschen hat. Was sagt uns das über das intellektuelle Niveau der Leute von heute?
Womit wir bei der dritten Frage angelangt wären. Kern des Artikels ist, dass die Aufklärung zum Maßstab der Religionskritik erhoben wird. Ich könnte hier wiederum fragen: Warum eigentlich? Was an der Gedankenwelt einiger Philosophen des 18. Jahrhunderts ist so gestaltet, dass es zum unhinterfragbaren Maßstab für Religion werden könnte? Wir haben es hier mit einem Dogma zu tun, nämlich mit dem Dogma vom Primat der Aufklärung. Allerdings gibt es keine Autorität, die es verkündet hätte. Es scheint einfach irgendwie zu gelten, weil immer wieder mal Menschen wie Stephan Grigat dies behaupten.
Der erste Stolperstein wird schon oben deutlich: Das Christentum war auch vor der Aufklärung qualitativ völlig anders als der Islam. Es glich ihm nur darin, dass es, damals wie heute, von Menschen gelebt wurde, die seine Ideen korrekter oder weniger korrekt oder gar nicht umsetzten. Die Idee, das Christentum sei durch die Aufklärung domestiziert bzw. zivilisiert worden, ist hanebüchen. Vielmehr muss man sagen, das Christentum hat durch die ihm innewohnenden Parameter Vernunft und Freiheit ermöglicht, dass sich mehr oder weniger kluge Köpfe aufklärerische Gedanken machen und diese verbreiten konnten. Es war sich selbst so treu, dass es seine Zerstörer hat walten lassen. Aber das nur nebenbei.
Viel spannender ist doch, sich einmal anzuschauen, wie Grigats diffamiertes „Niveau vor ein paar Hundert Jahren“ aussieht im Vergleich zum intellektuellen Niveau von heute. Dass es damals kein RTL 2 gab, geschenkt. Aber selbst, wenn wir die größten Beleidigungen der Vernunft der Postmoderne nicht einrechnen, kommt „Heute“ nicht so gut weg. Herr Grigat soll doch mal einen Abiturienten fragen, wie er so das „intellektuelle Niveau vor ein paar Hundert Jahren“ einschätzt. Es wird doch einen Schüler von heute nichts daran hindern, die Illias, ein bisschen Platon, Seneca, ein bisschen Thomas von Aquin, vielleicht noch etwas Shakespeare, Pascal und Hegel zu lesen (selbstverständlich alles im Original). Ach, sind wir doch mal ehrlich: Die frühkirchlichen Diskussionen zur Trinitätstheologie kann doch ein Sechsjähriger referieren! Also wirklich! Unser intellektuelles Niveau kann solche intellektuellen Peanuts doch locker wuppen.
Was sich hier zeigt, ist der Dunning-Kruger-Effekt in Echtzeit. Je weniger Ahnung ich habe, desto mehr gehe ich davon aus, dass von dem Metier auch keine Ahnung zu haben sei. Wenn mein intellektuelles Niveau es nicht zulässt, das Denken von „vor ein paar Hundert Jahren“ nachzuvollziehen und zu verstehen, dann wird es da wohl einfach nichts zu verstehen geben! Sollte mein Verstand etwa nicht Gipfel der Erkenntnis sein? Übrigens ein ganz schön ambitionierter… Glaube. Da glaube ich sogar lieber an einen Blitze schwingenden Zeus.
Man erlaube mir noch einen letzten Punkt bezüglich der Idealisierung der Aufklärung, abgesehen von dem Fakt, dass die Aufklärer selbst noch ein ungleich höheres intellektuelles Niveau hatten als die Leute, die sie heute vergöttern. Schauen wir uns das religiöse Leben heute an, dann können wir uns des Eindrucks nicht erwehren, dass die besagten Aufklärer, wüssten sie darum, geschlossen in Schweigeklöster eintreten würden, mit feierlichem Gelübde, nie wieder etwas zu publizieren. „Unaufgeklärte“ Religiosität, nein vorchristliche Religiosität, d.h. eine von Aberglauben gekennzeichnete, den Intellekt bzw. die Vernunft ausschließende Form religiösen Selbstverständnisses, ist heute weit verbreitet. Der Großinquisitor wäre not amused, angesichts der Aufgaben, mit denen er sich heute herumschlagen müsste: Er müsste Menschen davon abhalten, Engel zu rufen, Steine ins Trinkwasser zu legen; Horoskope, Amulette, Traumfänger, diffuse Kraftquellen und Kraftwellen, neogermanische und pseudokeltische Hexenkulte, Schamanismus, Ernährungskulte, Rituale, Beschwörungen, etc. Hier wird nun Grigats grundsätzlicher Fehler deutlich: Es handelt sich um nichts anderes, seichteres als klassische Projektion: Weil postmoderne Religiosität der Vernunft keinen Platz einräumt und dies selbstverständlich als Teil ihrer Identität sieht, kommt Herr Grigat nicht auf die Idee, dass das bei vormodernen Religionen zum Teil anders sein könnte. Wie man allerdings einer Intellektualität vertrauen kann, die grundsätzlich die eigene Disposition auf alles überträgt, erschließt sich mir nicht. Dies ist im wahren Sinne „unaufgeklärt“: Wenn ein Dreijähriger denkt, dass die Welt an der Grenze seiner Wahrnehmung endet, weil er nicht mehr wahrnehmen kann, dann beunruhigt mich das nicht weiter. Er muss erst erlernen, dass die eigene Wahrnehmung nicht das Ganze ist. Wenn er diese Haltung auch als Vierzigjähriger unverändert vertritt, ist das besorgniserregend. Grigat erkennt nicht einmal, dass er von heute auf früher schließt, trotz dem widersprechender Quellenlage (s. Kaiser von Byzanz).
Und schließlich haben wir „heute“ da noch die Vergötzung von Wissenschaft (normalerweise ist das sogar noch weniger, nämlich eine Vergötzung von Statistik). Ja, richtig gehört: Menschen schaffen es sogar, der Wissenschaft ein religiöses, verzerrendes Gepräge zu geben, wenn man sie nicht zu vernunftgemäßer Religion anleitet. Fazit: Wenn es die Aufgabe der Aufklärung war, den Menschen in die geistige Mündigkeit zu führen, dann hat sie versagt. Jedenfalls bei Wicca-Anhängerinnen und bei Herrn Grigat.
Ausgerechnet diese Versagerin nun zur Richterin über Religion zu erheben, erscheint mir nicht besonders überzeugend. Die Menschen von heute als intellektuell bewanderter darzustellen als die von „vor ein paar Hundert Jahren“, ist lächerlich. Und Diskurs aus dem Weg zu gehen mit fadenscheinigen Definitionen, weil man selbst nicht den intellektuellen Horizont hat, um sich ihm zu stellen, ist selbstverschuldete Unmündigkeit. Wagen, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, bedeutet auch, vielleicht sogar zuerst, sich den eigenen Grenzen zu stellen.
Vielen Dank für Ihren Beitrag! Den eigenen Bauchnabel für das Ziel der Geschichte zu halten, scheint mir eine ziemlich ausgeprägte Krankheit unserer Zeit zu sein. Dieses Virus befällt insbesondere Zeitungskolumnisten, wenn sie über Religion reden.
In der NZZ hat sich letzthin einer in der bahnbrechenden Erkenntnis gesuhlt, Religion sei im Wesentlichen der Glaube an ein „höheres Wesen“. Selbst man man in der Tat religiös unmusikalisch sein sollte – so dermaßen platt zweitausend Jahre Geistesgeschichte und Nachdenken vom Tisch zu wischen, erfordert schon ein gerüttelt Maß an fehlender Bildung.
Seufz. Es ist ein Trawerspil.