Ökumene und assistierter Suizid: Können wir jetzt bitte aufhören, uns selbst zu belügen?

Als Katholik soll man heutzutage vor allem kritisch sein. Gegenüber der heiligen Schrift, gegenüber der Überlieferung. Bloß in Sachen Ökumene, da soll man bloß nicht genauer nachhaken. Die Ökumene – gemeint ist damit meist nicht die mit der Orthodoxie, sondern lediglich die mit den Gemeinschaften der Reformation – ist eine heilige Kuh. Wer hier etwas Kritisches anmerkt, der gerät schnell in den Ruf, Hardliner zu sein, intolerant, spalterisch.

Gerne werden diese Behauptungen mit dem Argument unterfüttert, die Unterschiede seien doch „nur“ lehrmäßig, „nur“ akademisch, überholt, abgekoppelt von der Lebensrealität und nicht relevant für den normalen Gläubigen. Im gemeinsamen christlichen Leben und im zivilgesellschaftlichen Engagement sei man doch viel weiter. Nun. I beg to differ.

Lehre und Leben gehören zusammen

Zuerst einmal stört mich die Mantra-artig wiederholte, deshalb aber nicht wahre Unterstellung, Lehre, Theologie, habe mit Leben erst einmal nichts zu tun. Insbesondere frage ich mich, ob die Theologen, die das behaupten, sich eigentlich abgehoben oder gar „tot“ fühlen, während sie ihre Wissenschaft betreiben. Warum, wenn nicht, weil es das Leben bereichert, wähle ich ein solches Fachgebiet als Studieninhalt, promoviere darin, arbeite darin, wenn es mit meinem Leben nichts zu tun hat?

Aber abgesehen davon trifft auch die zweite Behauptung – im gemeinsamen zivilgesellschaftlichen Engagement sei man weiter – nicht pauschal zu. Die FAZ berichtet nun über eine Befürwortung aktiver Sterbehilfe durch hochrangige Vertreter der EKD; allerdings ist dies nicht neu: Schon lange gibt es in der EKD keinen geschlossenen Konsens mehr über das Lebensrecht Ungeborener. Und seit einiger Zeit wollen gewichtige Stimmen, der hannoversche Landes“bischof“ Meister und der Präsident der Diakonie, Ulrich Lilie, auch die letzte gemeinsame ethische Bastion, die Ablehnung der aktiven Sterbehilfe, schleifen.

Wunsch und Wirklichkeit

Hier zeigt sich nun, dass auch die „praktizierte“ Ökumene häufig eine Lüge ist. Und zwar eine, der insbesondere die katholische Kirche anhängt. Nicht, weil es ihr nicht um Wahrhaftigkeit ginge, sondern, weil man sich ja so sehr wünscht, mit den anderen auf Augenhöhe zusammenarbeiten zu können. Man wünscht sich, nicht belehrend mit anderen Konfessionen umzugehen, man wünscht sich Kooperation, man wünscht sich, mit Jesus Christus, „eins zu sein“ mit den getrennten Geschwistern. Ich finde diesen Wunsch nicht nur nachvollziehbar, ich hege ihn natürlich auch selbst. Natürlich tut es mir weh, wenn Menschen, die ich schätze, auch in ihrem Christsein, meinen Glauben nicht teilen. Aber hier sehen wir eben in aller Deutlichkeit, dass ein Wunsch nicht die Realität macht. Zu diesem Wunsch sollte auch gehören, den anderen ernst zu nehmen. Und die EKD muss ernst genommen werden in ihrer klaren Absage daran, dass Gott wirklich der Herr über Leben und Tod ist, dass der Mensch über sein Leben nicht absolut verfügt, weil er nicht selbst der Schöpfer des Lebens ist. Und: Ja, in letzter Konsequenz gibt sie ihren eigenen wohlgehegten Glaubenssatz auf, dass Jesus wirkmächtig für uns gelitten hat, dass es unsere Aufgabe ist, unser Kreuz zu tragen und unser Leid auszuleiden in, mit, durch Christus, dass Gott unser Leiden ansieht, nicht fern, sondern es sich mitleidend zu eigen macht, dass es darum gewürdigt ist – aber auweia, das sind ja alles ganz theologische Inhalte! So viel zum Thema, die Theologie habe mit dem Leben nichts zu tun – sie bestimmt bloß, mit welcher Haltung ich Leben und Tod begegne, völlig abgehoben, sieht man schon!

Mitmachen um jeden Preis?

„Natürlich wünsche ich mir, dass er von seinem Vorhaben Abstand nimmt. Aber wenn das nicht geschieht, muss ich ihm beistehen, auch in der Phase des Suizids. Warum sollte die Kirche das einem Sterbehilfeverein überlassen? (Hervorhebung von mir), so Ralf Meister im Interview mit Christ & Welt (das Interview selbst ist hinter der Bezahlschranke, man kann aber einige Zitate daraus auf der Seite der hannoverschen Landeskirche nachlesen). Ja. Warum wohl sollte man das einem Sterbehilfeverein überlassen? Vielleicht: Weil es falsch wäre, mitzumachen. Man beachte auch den Euphemismus „beistehen“. Hier zeigt sich eine Grundkrankheit deutscher Noch-Volkskirche, die Sehnsucht nach Gleichschritt: „Alle“ machen es – dann müssen wir irgendwie mitmachen. Würde Meister auch vorschlagen, kirchliche Bordelle zu betreiben, weil „warum sollte die Kirche das zwielichtigen Zuhältern überlassen“? Nein. Warum nicht? Es wäre doch gar nicht so abwegig. Die Kirche kann Prostitution nicht verhindern, aber sie könnte doch den Frauen „faire“ Löhne zahlen, sie medizinisch gut versorgen, den Erlös in Aktionen gegen Menschenhandel investieren… Oh je, vermutlich bringe ich die EKD noch auf dumme Gedanken. Wenn etwas gemäß der christlichen Lehre falsch ist, werter Herr Meister, dann „überlässt“ der Christ jenes Tun denen, die nicht christlich handeln wollen, weil er „dem Herrn dienen“ will, wie Josua bekennt. Deshalb unterhält die EKD keine Coca-Plantagen (obwohl Menschen Drogen nehmen wollen), Spielhöllen (obwohl Menschen gerne dem Glücksspiel frönen), Bordelle (obwohl Menschen zu Prostituierten gehen); und deshalb praktizieren evangelische Einrichtungen keine aktive Sterbehilfe.

Es war ein schöner Traum: Wir kommen zwar nicht überein über ein paar reformierte Sonderlehren und ein paar scholastische Begriffe, aber im Grunde glauben wir doch dasselbe. Das tun wir leider ganz offensichtlich nicht. Und dies einzusehen wäre übrigens auch der schmerzhafte aber notwendige Schritt zu echter Annäherung. Verschleierung hilft hier gar nicht.

Unehrliche Argumentationsstrukturen

Verschleierung, das ist hier allerdings die evangelische Taktik. Im Interview mit evangelisch.de sagt der Präsident der Diakonie, Ulrich Lilie, im Dezember 2020: „Wir begleiten alle Menschen, auch diejenigen, die trotz all dieser Angebote [der Seelsorge, Palliativmedizin etc.] den Weg des assistierten Suizids wählen.“ Darauf die insistierende Frage: „Das heißt konkret, Suizidassistenz wird auch in evangelischen Einrichtungen möglich sein?“. Diese Frage müsste problemlos mit „ja“ oder „nein“ zu beantworten sein. Als evangelischer Christ wird Herrn Lilie Jesu Wort „Eure Rede aber sei: Ja! Ja! Nein! Nein! Was darüber ist, das ist vom Übel.“ (Mt 5,37) sicherlich geläufig sein. Doch nein. Er wiederholt lieber: „Ich denke, wenn Menschen in einer für sie so völlig ausweglosen Situation sind, begleiten wir auch sie.“. Was für eine vergiftete, unehrliche Antwort! Er suggeriert, wie Meister, die einzige Möglichkeit, Menschen, die sterben wollen, zu begleiten, sei, ihrem Wunsch zu entsprechen, indem man sie tötet. Andere Formen der Begleitung werden vorher genannt, aber entwertet als „keine richtige“ Begleitung. Begleitung, das ist nur, wenn man tut, was der Begleitete als Wunsch ausdrückt. In jedem anderen Zusammenhang würde man deutlich machen, dass auch Widerständigkeit gegen einen geäußerten Wunsch das angemessene Verhalten sein kann. Eine Freundschaft etwa wird häufig gerade dann als wertvoll empfunden, wenn der Freund nicht nach dem Mund redet, nicht einfach alles abnickt, sondern sich auch in der unangenehmen Position des Korrektivs, des Kritikers, des Nachfragenden zur Verfügung stellt. Hier aber, im Angesicht des Todes, wo die Fragen und Ängste größer sind als im Leben, da soll plötzlich ein – eindeutig Gottes Zusage widersprechendes – willfährig Sein die einzige adäquate Haltung sein. Und wer nicht tötet, der begleitet nicht, der lässt im Stich? Diese Verdrehung ist leider typisch evangelisch. „Leider“ ist hier keine rhetorische Wendung. Ich war sehr gerne evangelisch und es tut mir erstens weh, dass evangelische Theologen so falsch sind, und zweitens, dass deshalb auch evangelische Christen, die ihren Glauben ernst nehmen, unter der Entzweiung leiden, die solche Aussagen säen. Alle, die sich jetzt noch kompromisslos dem Leben verschreiben, insbesondere die Ärzte, die immerhin einen Eid leisten, müssen sich angesichts solcher Aussagen nun dem Vorwurf stellen, lieblos zu sein, wenn sie nicht töten! Wenn Meister und Lilie der Ansicht sind, jeder Mensch solle selbst entscheiden, ob er leben oder sterben will und habe auch Anspruch darauf, getötet zu werden, dann sollen sie das genau so sagen. Es aber so zu sagen, dass diejenigen, die Leben schützen, und kein Menschenleben auf dem Gewissen haben wollen, als lieblos oder ignorant dargestellt werden, sollte für einen Christen jenseits der rhetorischen Möglichkeiten liegen.

Diese Unehrlichkeit rückt die Ausgangsfrage in ein noch dramatischeres Licht: Wir sind uns nicht nur nicht einig in der Frage nach der Unantastbarkeit des Lebens und dem Schutz der Leidenden. Mehr noch: Wer das Leben für unantastbar hält, wird deshalb – um die evangelische Position zu rechtfertigen – indirekt als lieblos gescholten. Wie soll auf der Basis solcher Selbstgerechtigkeit eine Zusammenarbeit praktisch aussehen?

P.S.: Mir ist klar, dass die hier geäußerte Kritik auf die Freikirchen ebenso wenig zutrifft wie auf bekenntnisorientierte Teile der EKD. Und auf individueller Ebene sieht es mit der Ökumene natürlich ohnehin anders und oftmals sehr viel besser aus. Ich halte die Haltung Meisters und Lilies daher für umso schwerwiegender, weil sie die konstruktive, ehrliche Ökumene, die durchaus existiert, um des Zeitgeistes willen von oben her angreifen.