Wer ist Jesus?
An Gott glaube ich, seit ich denken kann, Mit Dreizehn wurde ich getauft, seit acht Jahren gehöre ich der Heiligen Katholischen Kirche an. Nun weiß ich, und es ist mir immer wieder vor Augen getreten, dass man in diesem Glauben nie fertig wird: Es gibt so vieles zu entdecken, immer Neues, immer Reicheres. Als ich kürzlich in einer Universitätsbibliothek auf die Suche nach Literatur für eine Hausarbeit ging, warf es mich aber dann doch mit großer Heftigkeit um: Ich schritt an einem Regal vorbei, in dem jeder Buchrücken die Aufschrift „Jesus“ trug. „Jesus Christus“, „Jesus so und so betrachtet“, „Ein Rabbi spricht mit Jesus“ (Übrigens ein sehr empfehlenswertes Buch, des Rabbiners Jacob Neusner, das meiner Haltung zum jüdisch-christlichen Dialog sehr entspricht) usw. Auf der Suche nach einem bestimmten Titel streifte mein Finger über die Bücher und plötzlich stand ich da wie vom Donner gerührt: Ich sah diese unüberschaubare Menge an Büchern und fragte mich: Wer ist eigentlich Jesus? Ich hatte mir – ganz ehrlich – diese Frage noch nie gestellt! Ich blogge über den Glauben, habe mir schon viele Probleme eingehandelt, weil ich so offen über den Glauben spreche, ich gehe mindestens an allen Sonntagen und gebotenen Feiertagen in die Kirche, und ich habe mich noch nie gefragt, wer Jesus ist? Unfassbar!
Mit der Frage nach Jesus kann man in ganz schön viele Denkfallen laufen. Man kann sich in historisch-kritischen Klaubereien verzetteln, man kann sich überfordert fühlen mit diesen vielen Buchrücken. Man kann verzweifeln daran, dass man sich dafür entscheiden muss, an irgendetwas zu glauben, was über diesen Jesus gesagt wird. Dass er nicht existiert hat. Dass er existiert hat. Dass er ein Weisheitslehrer oder eben der Sohn Gottes war. Nach dem ersten Schock musste ich über mich lachen. Vielleicht ist das also ein Gnadengeschenk, dachte ich, dass dieser Jesus organisch in mein Leben hineingewachsen war (oder ich in ihn?), ohne, dass ich mich je explizit gefragt hätte, wer das ist. Als Kind fand ich ihn und das Neue Testament furchtbar langweilig. Da gab es keine Schlachten, keine Abenteuer, keinen Mord und Totschlag. Was man so in der Schule hörte, klang so, als sei dieser Jesus eine ganz schöne Lusche. Er liebte jeden. Das war’s. Öde. Damit konnte ich nicht wirklich etwas anfangen. Schulgottesdienst und Kirchenchor waren vielversprechender. Da sang man Choräle, in denen von seinem Leiden und Sterben gesungen wurde. Oder „Crucifixus sub Pontio Pilato“. Das klang schon besser. Das klang archaisch, rauh, gewaltig, epochal; das klang wie der Gott, der Abraham auf seinen Abenteuern begleitet hatte, der Israel aus Ägypten geführt hatte, der David erwählt und Saul verworfen hatte. Das klang wie der Gott, den ich kannte. Und dabei blieb es. Wenn Gott über diesen Jesus gesagt hat, dass er sein Sohn sei, dann war das so. Und wenn die Osterchoräle jubelten, er sei erstanden und deshalb freuten sich alle, dann freute ich mich. Das Lamm, das der Welt Sünde trägt, das war plausibel. Netter Typ in Sandalen, der immer lächelt, wie in den Kinderbibeln, die im Hort zu haben waren, das war nicht plausibel. Man benennt nicht die Zeitalter nach einem Typen, der immer lächelt. Es gibt keine Veranlassung, Choräle über einen langhaarigen Typen in Sandalen zu singen.
Ich denke, dass es mich vor vielen Umwegen bewahrt hat, dass mein Glaubensweg mit Genesis und Exodus begonnen hat, so, wie beim Volk Israel auch. Man hat mich nicht pädagogisch erst mit Kinderbibeln katechisiert, was dann beinahe unvermeidlich im Schock münden muss, wenn man dann irgendwann der Botschaft ausgesetzt wird, Gott habe diesen immer lächelnden Sandalenträger geopfert. Ich bin mit unvoreingenommenen Kinderaugen mit Abraham und Isaak mitgelaufen, und als mir Christi Opfer vorgestellt wurde, war das kein Schock, sondern eine Bestätigung. Und so war für mich weniger von Bedeutung, wer er ist, sondern was er getan hat, was durch ihn geschieht. Das ist ein spannender Zugang, weil er im Grunde der theologischen Aussage entspricht, dass Jesus der Logos, das Wort ist. Wir denken ja gewöhnlich nicht darüber nach, was Wort ist, sondern darüber, was Wort bewirkt.
Vielleicht habe ich mich auch deshalb nie gefragt, wer Jesus ist, weil ich ihn nicht, wie die meisten Glaubensinhalte, durchs Nachdenken, sondern durch die Begegnung kennengelernt habe. Man würde es doch als unhöflich empfinden, wenn man jemanden trifft, sich mit ihm gut, tiefsinnig und persönlich unterhält und sich dann hinterher fragt, „Wer ist das eigentlich?“. Denn das hat man doch erfahren im Gespräch, oder es war kein gutes Gespräch. Man fasst diese Erfahrung nicht in Worte, man legt sich nicht Rechenschaft darüber ab und psychologisiert, wer diese Person ist. Man nimmt sie hin und an, wie sie ist. Man weiß und achtet, dass man nie wissen wird, wer diese Person ist, weil kein Mensch je ganz erkannt werden kann durch einen anderen Menschen. Vielleicht ist es nur der Versuch, eine unglaublich unerhörte Nachlässigkeit meinerseits schönzureden, aber ich glaube (und hoffe) wirklich, dass ich mich nie gefragt habe, wer Jesus ist, weil er für mich kein Glaubensgegenstand ist, sondern eine, die Person.
Anfang Januar feiern wir das Fest des Namens Jesu. Ich kann nur empfehlen, im Januar öfter die Namen-Jesu-Litanei zu beten. Sie ist wunderschön und lässt einen in Kontakt treten mit Jesus in so vielen Facetten seiner Gottessohnschaft, in dem, was diese für uns bedeutet.
„Man kann sich in historisch-kritischen Klaubereien verzetteln…“
Liebe Anna, wenn Sie das nächste Mal in die Bibliothek kommen, recherchieren Sie mal folgende klassische Beiträge:
H. Strasburger, Die Bibel in der Sicht eines Althistorikers, in: H. Riedlinger, Die historisch-kritische Methode und die heutige Suche nach einem lebendigen Verständnis der Bibel, München – Zürich 1985, 11–34 (Nachdruck in: H. Strasburger, Studien zur Alten Geschichte III, Hildesheim 1990, 317–339).
W. Schadewaldt, Die Zuverlässigkeit der synoptischen Tradition, Theologische Beiträge 13, 1982, 201–223.
Auch wenn die Theologie die Mutter aller Geisteswissenschaften ist, sind wir doch seit einiger Zeit an einem Punkt, an dem wir historisches Arbeiten auf keinen Fall den Theologen, sondern den Leuten überlassen sollten, die das *wirklich* gelernt haben. Strasburger und Schadewaldt haben zu den wichtigsten Vertretern der Alten Geschichte bzw. der Altphilologie gehört und ich sehe nicht, warum ihre in Wesentlichen zuversichtliche Haltung zur biblischen Überlieferung revidiert werden müsste. Will sagen: Abgesehen davon, was Christus als der Logos bewirkt, wissen wir schon recht gut, wer er gewesen ist, ohne dass wir damit die methodischen Standards der Geschichtswissenschaft verletzen.
(Empfehlenswert sind auch die Arbeiten von Marius Reiser, ein katholischer Neutestamentler, der auch Geschichte und Philologie studiert hat, und das merkt man halt dann auch.)
Danke für die Empfehlungen!
Ja, ich sehe es genauso. Im Grunde scheint der historische Stand der Theologie irgendwo zwischen 1890 und 1920 stehengeblieben zu sein. Da sind ganz viele nicht hinterfragte Glaubenssätze, und Wissen, das eigentlich da ist, wird nicht integriert. Das erkennt man dann immer an den verdächtigen Formulierungen: Da wird ein Wissensstand von anno dazumal breit referiert (Inhalt meistens, dass alles, was in der Bibel steht, Bullshit ist), und dann kommt so etwas wie „mittlerweile“ wird „optimistischer“ in Hinblick auf die Zuverlässigkeit geurteilt, oder „neuere Forschungen“ „relativieren“ etc. etc. etc. Diese neueren Ergebnisse werden aber nicht in derselben Breite diskutiert wie der überholte Wissensstand, weshalb dieser sich in den Köpfen weiter festigt.
Ich kenne das aus meinem Gebiet (Musikwissenschaften): Auch lange Zeit deutsch dominiert, darum ideengesteuert. Da wird Glucks Orpheus immer noch als Reformoper geführt (der fortschrittliche Deutsche mit seinem Tiefsinn im oberflächlichen Frankreich, wo er die Franzosen erst mal wahre Gefühle statt verknöcherter Form lehrt), obwohl erstens die angesprochene Verknöcherung auf die italienische Opera seria zielt (und die auch fälschlich so verurteilt wird, s. oberflächliche Italiener), und obwohl zweitens die von Gluck gewählte Form eine damals verbreitete kleine Form war, die weder formal noch inhaltlich fortschrittlich ist. Aber man will daran festhalten, weil sich damit eine gefällige Architektur der Musikgeschichte ergibt, mit Monteverdis Orfeo am Beginn und Glucks Orfeo zur Erneuerung der Oper (wobei dann der ultimative Witz ist, dass man EBENFALLS weiß, dass Monteverdis Orfeo NICHT die erste Oper ist, sondern nach derzeitigem Stand Peris Euridice – auch aus feministischer Sicht interessant). Man lernt im Studium beide Fakten, aber der ältere Forschungsstand wird kapitelweise verinnerlicht, während der Fakt nach neuestem Stand in einem Sätzlein abgehandelt wird, der dann meistens mit so etwas beginnt wie „eigentlich…“.
Mein letztes Zusammentreffen mit Theologen war auch in intellektueller Hinsicht sehr sehr ernüchternd. Mangelnde Einordnungsfähigkeit. Da wird z.B. ein aufklärerischer pseudobiologischer Text über den Menschen gelesen, und auf meinen Hinweis, dass die dort vertretene Auffassung nicht nur gegen die Kirche polemisiert, sondern auch abgesehen von wenigen Ausnahmen (Singer und Konsorten) nicht anschlussfähig an die Moderne/Postmoderne sei, stellt sich raus, dass dem werten Herr nicht klar war, DASS es sich um einen Text aus der Aufklärung handelt – denn die ist für ihn Religionskritik und Philosophie- dass Aufklärer auch über Biologie nachgedacht haben? Nun, bei einem Neuntklässler hätte ich derartige Schmalspur akzeptiert: Lehrstoff Lessing und Kant, alles klar, gelernz. Bei einem Doktor (!) der Theologie hätte ich etwas mehr Transferleistung erwartet. Und so ging es weiter. Kein Wunder also, dass da wissenschaftlicher Stand aus Fachgebieten nicht rezipiert wird.
„Herr, wo wohnst Du?“
„Kommt und seht!“
Jesus zeigt mir seinen Wohnung und ich will ein ganzes Leben bei ihm bleiben.
„Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen, ich werde gehen und sie euch zu bereiten!“
Na wenn das keine Verheißung ist, dann weiß ich auch keinen Grund mehr ihm als Person zu glauben.
Hallo Anna,
hast Du „Counterfeit Christs“ schon gelesen? Trent Horn geht dort Deiner Frage „Wer ist Jesus?“ nach und zersägt die populärsten Zerrbilder.
Ich mag Trents klare Kante sehr. Kann aber sein, dass sein Stil für deutsche Ohren zu wenig schwurbelig ist, um als seriös durchzugehen… Am Ende jedes Kapitels hat man die jeweilige Christus-Fälschung erkannt – und außerdem begriffen, warum sie nicht haltbar ist.
Liebe Grüße, Tobias
PS: Das Buch ist voll der gruselige Rückschritt: man bekommt fast den Eindruck, man könnte Richtig und Falsch unterscheiden… ? Aber da sind wir ja in der aufgeklärten Moderne weiter, gell!
Super, danke! Nein, kenne ich noch nicht! Ach, weißt du, hast du auf meinem Blog schon mal auch nur ein ordnungsgemäßes Zitat entdeckt ?? Ich bewerte Seriosität rein nach inhaltlichen Gesichtspunkten… Entweder es stimmt oder es stimmt nicht… ?
Du glaubst also, es gibt eine objektive Realität, in der Dinge entweder stimmen oder nicht, mit „tertium non datur“ und so? Echt krass mittelalterlich!?
Noch was Unironisches: Ich glaube, wenn man einer Person begegnet (besonders einer zumeist unsichtbaren wie Jesus), ist es ganz natürlich, möglichst alles über sie in Erfahrung bringen zu wollen!
Worauf ich hinaus will: man darf Dogmen und persönliche Christus-Begegnung nicht gegeneinander ausspielen. Sie gehören gut katholisch (et…et) zusammen.
(Aber ich glaube auch nicht, dass Du die Christologie als zweitrangig abtun wolltest.)
Liebe Grüße, Tobias
Haha, naja, doch, tertium auch. Dinge können ja auch ein bisschen richtig sein oder nicht ganz falsch. Ich meinte es in dem Sinne, dass es mich eben sehr nervt, dass ein Argument nur dann eines sein soll, wenn es a) schon jemand gesagt hat oder b) jemand Wichtiges es schon gesagt hat etc. Und am allermeisten nervt es mich, wenn „Wissenschaft“ betrieben wird, ohne die eigenen Voraussetzungen und Hypothesen zu klären.
Ich finde die Christologie sehr sehr spannend und will sie auf gar keine Fall als zweitrangig abtun.
Und volle Zustimmung. Natürlich gehört beides zusammen. Und solide Forschung genauso. Es war ja mehr ein biographisch-anekdotischer Einblick.