Authentisches Christsein – Trotz oder wegen der Kirche?

Vor einiger Zeit las ich in dem larmoyanten Artikel einer enttäuschten Katholikin, die Kirche sei ein machtbesessener, korrupter Apparat, und authentisches Christentum innerhalb der Kirche sei maximal „trotz“ ihres heuchlerischen Wesens möglich. Aussagen dieser Art begegnen mir immer wieder, und man kann sie im Grunde herunterbrechen auf: „Die Kirche ist schlecht, aber weil es Menschen mit gutem Herzen gibt, gibt es eben auch in der Kirche ein paar Leute, die Gutes tun.“

Diese These ist extrem problematisch. Und sie ist übrigens das Gegenteil dessen, was die Kirche lehrt. Die Kirche lehrt, dass die Kirche gut sei (gut sein muss, weil sie von Jesus ist und Jesus gut ist), aber dass es in ihr Menschen mit bösen Herzen gibt (ich formuliere bewusst salopp), weshalb es innerhalb der Kirche sogar groteske Übel gibt.

Welche Seite hat Recht?

Zuerst einmal möchte ich einen Fehlschluss ausräumen, der sich häufig ergibt: Völlig unstrittig ist, und das wurde auch zu allen Zeiten in der Kirche gelehrt, dass es außerhalb der Kirche Menschen gibt, die aus dem Guten heraus leben. Das hat die Kirche nie bestritten. Aussagen wie, dass es außerhalb der Kirche kein Heil gibt und dass wir alle durch Christus gerettet werden, haben eine andere Bedeutung. Sie haben nie gemeint (jedenfalls nicht nach katholischer Lehre), dass nur (katholische) Christen wahrhaft gut sein können. Man kann also nun nicht einfach sagen „Außerhalb der Kirche gibt es auch gute Menschen, also ist der Mensch das Ausschlaggebende, nicht die Institution.“. Es handelt sich hier nicht um einen Gegensatz; und dass es eine „ausschließliche Gutheit“ der Kirchenmitglieder gäbe, hat ja auch die Kirche nie behauptet, weder in die eine (nur Christen sind gut), noch in die andere (alle Christen sind gut) Richtung.

Zugegeben, aus nichtgläubiger Sicht kann man diese Position durchhalten. Man kann die These aufstellen, dass Institutionen / Religionen / Organisationsformen etc. in sich alle gleich seien und nur durch das Handeln der Menschen in gute oder schlechte Institutionen verwandelt würden.

Allerdings muss man sich an dieser Stelle fragen, ob das denn wirklich allgemein gültig ist: Eine Institution kann ja nicht einfach lehren bzw. behaupten, was sie will. Eine „katholische Kirche“, die das fliegende Spaghettimonster bekennt, ist nicht mehr katholische Kirche, und ein Islam (der eigentlich keine Institution ist), der Jesus als Sohn Gottes bekennt, ist kein Islam. Ein Bund von Tierschützern, der bei seinen Sitzungen regelmäßig Katzen zu Tode quält, ist kein Bund von Tierschützern. Eine Schule, in der man Kinder vor einen Bildschirm setzt und sich selbst überlässt, ist keine Schule… Das, was die Institution lehrt oder was sie ausmacht, kann also nicht beliebig geändert werden, sonst wäre sie nicht mehr bestimmbar. Wir könnten die Institutionen gar nicht mehr erkennen.

Wenn das, was eine Institution sagt bzw. ausmacht, verbindlich sein muss, damit man sie als solche erkennen kann, muss man sich anschauen, ob das, was sie sagt, gut oder schlecht (oder etwas dazwischen) ist. Wir würden über eine Schule, deren pädagogisches Konzept in körperlicher Züchtigung besteht, nicht sagen, das Konzept der Schule sei unerheblich, wichtig sei nur, was die Lehrenden draus machen. Wir würden vielmehr sagen, dass die Schule trotz ihres Konzeptes gut sein könne, wenn die Lehrer nicht danach handeln (sondern liebevoll und freundlich sind).

Wir können also durchaus sagen, dass Institutionen bzw. ihre Konzepte und Richtlinien auch unabhängig von dem Verhalten der ihnen zugehörigen Menschen als gut/schlecht etc. eingeordnet werden können. Und wir müssen offensichtlich unterscheiden zwischen Institution (Religion, Organisation etc.) und dem Verhalten der Mitglieder: natürlich kann auch ein getaufter Katholik sagen, er glaube an die Wiedergeburt oder eben an das fliegende Spaghettimonster, und ein Mitglied des Tierschutzvereins kann eine Nerzfarm betreiben, aber das ist dann seine Privathaltung, in der er die Gemeinschaft mit der Institution aufkündigt.

Wenn man also nicht hardcore-relativistisch argumentiert und die Existenz von Gut und Böse an sich leugnet, kommt man nicht umhin, festzustellen, dass auch Institutionen anhand ihrer Maximen bewertet werden können. Das Verhalten der Mitglieder beeinflusst zwar die Glaubwürdigkeit dieser Maximen und der Institution selbst, ist aber nur ein Parameter. Er ist auch nicht der entscheidendste Gesichtspunkt zur Bewertung der Institution selbst, da Menschen ja nun einmal in Freiheit entscheiden, wie sie handeln. Um ein einfaches Beispiel zu wählen: Die Lehre, dass man jemandem helfen soll, der in Not ist, bleibt auch dann gut, richtig und befolgenswert, wenn sich kein einziger Christ daran hielte.

Welche Botschaften hat uns nun die Kirche gebracht, die ohne sie nicht oder weniger verbreitet wären? Ganz praktisch betrachtet: Ohne Kirche hätten wir keine Bibel (denn diese ist von der Kirche kanonisiert worden), wüssten wir nichts über Jesus Christus, wüssten wir also auch nichts über seine Lehren. Ohne die Kirche hätten wir kein modernes Konzept von Menschenwürde, menschlicher Freiheit und Menschenrecht. Um mal ganz grundlegende Dinge zu nennen. Ein Konzept der Nächsten- und Feindesliebe kann ein Mensch zwar auch ohne Christentum entwickeln, aber nur im Christentum ist es in Gott als dem absolut Guten verwurzelt und damit zwingend. Ohne die christliche Lehre könnte sich ein Mensch aus persönlicher Vorliebe dafür entscheiden, aber das Christentum belehrt uns darüber, dass sie „alternativlos“ ist, wenn wir gut handeln wollen. Die Kirche ist mit ihrer Lehre maßgeblich verantwortlich dafür, dass die entscheidenden Lehren, denen wir caritatives Handeln verdanken, stringent und klar dargelegt wurden, und dass sie mehr oder minder seit 2000 Jahren dort, wo Christen wirken, als Handlungsmaximen gelten. Sie ist also auch dafür verantwortlich, dass die Menschen, die als Christen Gutes getan haben, diese Lehren haben kennenlernen können, sie haben vertiefen können, dass sie sich darin eingeübt und sich dafür entschieden haben, sie auszuüben.

Während also unzweifelhaft viele Christen trotz der (guten) Lehre der Kirche schlecht handeln, handeln Christen überwiegend der Kirche wegen gut: Weil sie ohne Kirche nicht oder nicht sicher wüsste, wie man gut handeln soll, oder weil sie z.B. durch die Lehre der Kirche auch dann gestützt werden, wenn der unmittelbare eigene Vorteil durch gutes Handeln gefährdet würde oder man sogar gegen den eigenen Vorteil handeln müsste, um gut zu handeln. Hier sehen wir auch, wie ignorant es wäre, Menschen abzusprechen, wegen der Kirche, um der Kirche willen gut zu handeln: Was sagt man einem Märtyrer wie Maximilian Kolbe, der wegen seines Glaubens und getröstet durch seinen Glauben, das Leben eines anderen gerettet hat? Woher, wenn nicht aus dem Gebet der Kirche, erhalten Ordensleute die Kraft, umgeben von größtem Elend, oft dieses Elend teilend, Liebe und Trost zu spenden?

Wer einfach sagt, diese Menschen würden aus sich heraus so handeln, und obwohl die Kirche böse wäre, leugnet das, was sie selbst als Motivation und Stärkung bezeugen. Und derjenige unterschlägt, dass „die Kirche“ selbst Gründerin unzähliger caritativer Einrichtungen ist. Ohne sie keine Johanniter, keine Malteser, keine Barmherzigen Schwestern, Schulen, Krankenhäuser gehen auf ihre Initiative zurück und waren lange Zeit hauptsächlich in ihrer Trägerschaft.

Ich denke aber, dass die wenigsten, die so sprechen, eine kohärente Argumentation anstreben und ihre Worte durchdacht haben. Vielmehr meine ich, dass, gerade weil die Maximen der Kirche gut sind, weil die Institution Kirche gut ist, das Fehlverhalten ihrer Mitglieder umso eklatanter heraussticht. Man ist häufig von dem Fehltritt eines Menschen, den man für seine positiven Eigenschaften schätzte, enttäuschter als von demselben Fehltritt bei jemandem, von dem man nichts anderes erwartet hat. Korruption bei Geldwäschern wundert niemanden. Bei der Kirche schmerzt sie ungleich mehr. Und beim Thema Missbrauch ist natürlich der Graben zwischen dem Anspruch, den die Kirche stellt, und dem, was einige ihrer Vertreter tun, schlicht unerträglich.

Es ist über diese Enttäuschung leicht, all das Gute, das durch die Kirche geschieht, zu übersehen und wegzuwischen, zumal vieles davon so grundlegend ist, dass man es sich gar nicht mehr klar macht. Wer denkt z.B. zuerst daran, dass er ohne Kirche den Begriff Nächstenliebe gar nicht kennen würde? Dass er die Maßstäbe gar nicht hätte, an denen er die Kirche misst? Dass er durch die Kirche getauft ist, also von der Erbsünde befreit wurde? Wer denkt bei Kirche zuerst daran, dass man durch sie Christus in der Eucharistie empfängt? Die Kraft dieser Gnaden ist uns so selbstverständlich, dass wir nicht daran denken, dass diese ja nun wirklich nur (außer in Ausnahmefällen) durch die Kirche vermittelt werden.