Durch die Wüste – konstruktiv katholisch bleiben

Die heilige Schrift spricht häufig von der Wüste, und dieser Begriff ist auch für unser geistliches Leben traditionell von Bedeutung: In der Wüste wurde Christus versucht, dorthin zogen sich die Einsiedler zurück, um ein ganz auf Gott fokussiertes Leben zu führen. Aus meiner Kindheit und der kindlichen Beschäftigung mit dem Alten Testament ist mir die Wüste aber nicht so sehr in Erinnerung geblieben als ein Ort der Einsamkeit und Zurückgezogenheit, sondern als ein Ort der Bewegung. Meine biblische „Lieblingspersönlichkeit“, Abraham, zog durch die Wüste, das Volk Israel natürlich ohnehin. Bis heute ist die (halb-) nomadische Lebensweise diejenige, die für Menschen in der Wüste in organischer Weise möglich ist (natürlich kann man auch Wolkenkratzer aus dem Sand stampfen), und dieser Lebensraum bleibt geheimnisvoll, existenziell, faszinierend, obwohl er auch bedrohlich und lebensgefährlich bleibt.

Wenn wir die Situation von Kirche und Glaube in Deutschland, oder vielleicht allgemein in der „westlichen Welt“ beschreiben, dann nennen wir das auch gern eine „Glaubenswüste“. Wir erleben, dass es sehr schwierig ist, eine Gemeinde zu finden, in der der Glaube authentisch gelebt wird: Wo Pfarrer und Gemeindereferentin vollumfänglich hinter den Lehren der Kirche stehen, sie erklären und verteidigen können, wo man sich Mühe gibt, evangelisierend tätig zu sein, wo liturgisch weder Kahlschlag noch Versumpfung stattfinden. Das Dilemma beginnt eigentlich schon früher: Einfache, sachliche Informationen über den Glauben zu bekommen, ist schwierig. Wissen, das vor ein paar Jahrzehnten noch zur Allgemeinbildung gehörte, ist heute im Wust von Fehlinformationen, mit denen Google offensichtlich gefüttert wird, unheimlich schwer aufzufinden. Von lebendiger Katechese reden wir da noch gar nicht.

Diese Gesamtsituation sieht auf den ersten und zweiten Blick trostlos aus – nicht anders, als wenn wir auf einem Hügel stünden und auf die judäische Wüste blickten.

Schauen wir aber mit dem Blick Abrahams oder Moses auf diese Wüste, dann kann die veränderte Perspektive dafür sorgen, dass wir konstruktiv mit diesem Lebensraum umgehen: Es ist ja nicht so, dass die Wüste wasserlos wäre. Es ist nur gut versteckt. Und um es zu finden, muss man in Bewegung bleiben. Wir neigen dazu, zu idealisieren, dass man früher von dem einen Pfarrer getauft, gefirmt und getraut wurde, der Großeltern und Eltern beerdigte. Dass man in stabilen Gemeinden den Glauben erleben durfte, dass alles, was der Christ zum Leben brauchte, mehr oder minder fußläufig erreichbar war: Der Gottesdienst, die Beichte, der Rosenkranz, der Frauenkreis, die Jugendgruppe, die Wallfahrt. Diese Ordnung hat große Vorteile, und wir sind sie, obwohl ich selbst sie z.B. nur noch am Rande mitbekommen habe, gewöhnt, wenn wir an Kirche, Pfarrei und Gemeinde denken. Aber es ist nicht die einzige Lebensweise, die katholisches Leben ermöglicht. In vielen anderen Teilen der Welt kann man so nicht katholisch sein. Sei es, wegen der geographischen Gegebenheiten, wie am Amazonas, oder wegen der gesellschaftlichen, wie in China, Nordkorea oder der arabischen Welt.

Eigentlich ist es sogar längst so, dass ein katholisches Leben auf diese Weise in Deutschland nur in Ausnahmefällen möglich ist: Dann, wenn sich ausgerechnet im eigenen Lebensumfeld eine Gemeinde findet, in der die Menschen zusammentreffen, die dies ermöglichen – und solange, bis ein Bischof umfangreiche Versetzungen plant oder bis ein Störenfried Uneinigkeit sät.

Ich will die Unzufriedenheit vieler Gläubiger z.B. angesichts massiver Gemeindezusammenlegungen, normalerweise gepaart mit verminderter Anzahl von Messen und erschwertem Zugang dazu, nicht kleinreden. Ich meine aber, dass wir durch diese Unzufriedenheit in Gefahr geraten, drei Fehler zu begehen. Der erste ist eine Idealisierung der Vergangenheit. Wie war es denn früher, wenn der eigene Pfarrer sein Christsein und sein Amt nicht authentisch gelebt hat? Wie viel Glauben ist denn verloren gegangen, wenn man an dem Ort, an den man gefesselt war, und an dem Alternativen rar waren, Verletzungen erfahren hat, die einen vom Glauben entfremdet haben? Darüber wurde nie Buch geführt, und es wurde, schaut man sich manche Folgen des Zweiten Vatikanums an, offensichtlich zu spät thematisiert, dass viele Menschen nicht im Glauben verwurzelt waren.

Der zweite Fehler ist, dass wir, statt die eigene Trägheit zu verurteilen, die Strukturen zum Schuldigen erklären. Ich war nicht wenig erstaunt, als auf Facebook unter Freunden die Meinung formuliert wurde, dass man sich zu den Messen nun wegen der Pandemie anmelden müsse, sei schlecht, weil man es vergesse, dann nicht zur Messe könne und somit „lerne“, dass man den Sonntag auch ohne Messe wunderbar verbringen könne. Die Struktur soll eigene Anstrengung ersetzen. Übrigens meine ich ausdrücklich nicht, dass man Strukturen so nicht nutzen oder genießen dürfe, wo sie vorliegen. Ich meine nur, man sollte sich darauf besinnen, dass man erstens keinen Anspruch darauf hat und dass es zweitens auch anders geht: Wir können uns als Christen wirklich nicht aussuchen, worin das Kreuz unserer Zeit besteht. Wenn es im Ausharren bestand, dann war das so, wenn es in Verfolgung besteht, dann ist das so. Wenn es in mangelnder Stabilität liegt und in erhöhtem persönlichen Aufwand, dann ist das so! Es gibt keinen Grund, wieso wir daran nicht geistlich wachsen sollten.

Der dritte Fehler ist, dass wir Kräfte, die wir in die Erhaltung und Vermehrung des Glaubens investieren könnten, wenn wir uns den Gegebenheiten anpassten, in Unzufriedenheit, Hoffnungslosigkeit und / oder Resignation fließen lassen.

Statt dessen wäre es angebracht, für unser katholisches Leben die Einstellung Abrahams zu erlernen: Mit Gott an der Seite in Bewegung zu sein. Wer mobil ist, kann (und muss) sich heute von Glaubensoase zu Glaubensoase bewegen um dort die Wasservorräte aufzustocken. Und mit diesen muss er jene versorgen, die sich nicht selbst auf den Weg machen können. Und die Oasen sind an sich zahlreich: Es gibt viele kleine Initiativen des Laienapostolats, wie den „Halbkreis“ in Sachsen – Anhalt, es gibt das Gebetshaus in Augsburg, die charismatische Erneuerung und die Petrusbruderschaft, es gibt die katholische Pfadfinderschaft Europas, die Nightfever-Initiative, Gebetskreise noch und nöcher. Es gibt Einkehrtage und Exerzitien, Vortragsreihen wie die der Potsdamer „Arche“, es gibt Klöster, in denen es tatsächlich noch um Gott geht, und schließlich gibt es die weite Prärie des Internets, in der Karl-Leisner-Jugend und Priester wie Pater Recktenwald, Father Mike Schmitz oder Father Longenecker wirken, wo Blogger von punk-katholisch bis gewissenhaft-informativ den Glauben diskutieren, und wo Netzwerke entstehen, die dann auch in persönlicher Begegnung Früchte tragen.

Es ist gewöhnungsbedürftig, aber es ist wichtig, dass wir all diese Phänomene wahrnehmen. Wenn wir aus unserer Ödnis nicht herauskommen, aber wissen, dass unsere Glaubensgeschwister an vielen Orten aktiv ist, dann kann uns das vor Pessimismus und Bitterkeit schützen.

Jeder von uns kennt den Spruch, dass es kein falsches Wetter gäbe, nur falsche Kleidung. Ähnlich ist das mit unserer Glaubenswüste. Wenn wir meinen, mit den Mitteln und Wegen des Auenlandes in der Sahara auskömmlich leben zu können, so täuschen wir uns. Es kann zudem auch blockierend sein, zähneknirschend die uns auferlegten Mühen zwar auf uns zu nehmen, dabei aber kontinuierlich nur an das zu denken, was uns verwehrt ist.

Eine Perspektivänderung ist dabei – aus meiner Erfahrung – auf zweifache Weise möglich. Wir können einerseits Dankbarkeit erwecken für das, was wir haben, indem wir an die denken, die in objektiv deutlich schwereren Situationen ihren Glauben behalten haben und behalten, und die in diesen Situationen aktiv Kirche bauen. Die Gefahr bei diesem Ansatz ist, dass man die eigene subjektive Not verdrängt und sich unter Druck setzt, „gute Miene zum bösen Spiel“ zu machen, um nicht undankbar zu erscheinen. Die eigene Not wird aber nicht irrelevant dadurch, dass es anderen schlechter geht. Man muss sich also auch zugestehen können, zu schimpfen und zu klagen. Man muss nur wissen, wann das Dampf Ablassen in eine destruktive oder blockierende Grundhaltung führt.

Eine andere Möglichkeit ist, sich wirklich die Haltung des Nomaden Abraham zu eigen zu machen – er hat ja übrigens nicht von Beginn seines Lebens an als Nomade gelebt, sondern tatsächlich seine Heimat für Gott erst aufgegeben: Es kann ein Abenteuer sein, zu dem man „Ja“ sagt, nur mit Zelt und Gott bewaffnet durch die Welt zu gehen. Natürlich ist das einerseits eine Belastung. Andererseits aber ist es eine wirklich Stärkung, von München bis Berlin, von Aachen bis Dresden Menschen zu kennen, die Gott lieben.

Und wenn wir uns doch ohnehin nicht aussuchen können, in welche Zeiten wir gestellt sind, wieso nicht gleich mit Schwung die Mittel ergreifen, die sich uns bieten, und den Lebensmodus wählen, der in unserer konkreten Situation Christsein ermöglicht?