Die Gnade der Vergegenwärtigung

Kurzer Disclaimer in eigener Sache: Nein, ich war nicht eingeschlafen, die letzten Wochen, mein Laptop ist bloß kaputt gegangen ich habe meinen Laptop kaputt gemacht, und konnte mich nicht überwinden, mit dem Handy zu arbeiten. Daher die Funkstille. So. Jetzt geht’s aber endlich weiter.

Zur einzigartigen Qualität des katholischen Glaubens gehört die Vergegenwärtigung. Was ist das? Katholiken glauben nicht lediglich bloß an etwas Vergangenes, an das man sich nur erinnern kann; wir glauben allerdings auch nicht an etwas rein Mythisches, dessen Verankerung in der Zeit beliebig und unerheblich wäre. Vielmehr schafft der katholische Glaube eine Synthese, die streng genommen gar keine Synthese ist, sondern etwas wirklich Anderes: Wir glauben durchaus an tatsächlich in der Zeit fest verankertes Geschehen – Jesus Christus wurde an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Stunde geboren, ist gekreuzigt worden wiederum an einem bestimmten Tag, ist gestorben, begraben worden, auferstanden und in den Himmel aufgefahren. Dies sind einmalige Ereignisse. Durch die Sakramente und insbesondere durch die Feier der heiligen Messe erhalten diese Geschehnisse aber eine gegenwärtige Qualität.

Das klingt ein wenig abstrakt, weil wir uns so sehr an protestantisches Denken gewöhnt haben, dass es uns etwas fremd vorkommt. Der moderne Christ muss sich sehr anstrengen, in der Vergegenwärtigung kein „Nachspielen“ zu erblicken, sondern sich wirklich in das Geschehen hineingestellt zu empfinden. Es lohnt sich aber ungemein, diese Haltung zu erlernen und zu entwickeln:

Wenn man sich einmal in einer orthodoxen Kirche eine größere Ikone angeschaut hat, die ein Heilsgeheimnis darstellt, also z.B, die Geburt Jesu oder die Eucharistie, dann kann man häufig feststellen, dass auf diesen Ikonen Dinge gleichzeitig passieren, die nicht gleichzeitig geschehen können. Man sieht z.B. Jesus nach der Entbindung im Arm seiner Mutter, ebenso in der Krippe und in den Armen des heiligen Joseph. Christus reicht die Hostie und in die andere Richtung gewandt reicht Christus zugleich den Kelch, etc. Das Bild ist ein Medium, mit dem man die Gleichzeitigkeit dieser Handlungen darstellen kann – Schrift etwa ist dazu nicht fähig. Damit kann man sich eine Verständnisbrücke bauen zum Heilsgeschehen: Genau wie die Schöpfung, die einen definierten (uns lediglich unbekannten) Anfangszeitpunkt hatte, aber doch zugleich immerzu im Prozess der Schöpfung befindlich ist, ist auch die Erlösung ein Geschehen, dass im Hier und Jetzt stattfindet, ohne dass deshalb der zeitliche Kontext aufgehoben wäre: Er wird vielmehr ins Heute hinein „verlängert“ (was jetzt bitte eine sehr saloppe und eine theologisch nicht wasserdichte Formulierung ist!). Der Protestantismus reproduziert leider immer noch das Missverständnis, die Kirche gehe davon aus, dass sie das Heilsgeschehen „wiederhole“. „Wieder-holen“ als deutsches Wort wäre eigentlich kein schlechtes für den tatsächlichen Sachverhalt, denn wir ziehen in der Heiligen Messe das Heilsgeschehen aus der Ewigkeit in unsere konkrete Zeit hinein, „holen sie uns wieder“. Nur leider hat das deutsche Wort eben schon eine festgelegte Bedeutung, nämlich im Sinne einer „Repetition“, es bedeutet „noch einmal machen“. Und genau das bedeutet die Messe eben nicht: Wenn wir die Messe feiern, dann gehen wir mit in den Abendmahlsaal, stehen mit auf Golgatha, gehen mit zum leeren Grab usw. Es handelt sich dabei nicht um eine „Erinnerung“ daran, wie es damals war, sondern eben um gegenwärtigen Mitvollzug. Ich liebe es besonders, wenn die Liturgie ganz lapidar auf diese Gegenwart hinweist: Wenn es etwa am Gründonnerstag bei den Einsetzungsworten heißt „Das ist heute“: Ein Gänsehautmoment. Wir schauen das Heil. Das, was so viele Väter und Propheten hatten sehen wollen. Wir erblicken es. Jetzt. Hier. Heute. Ich denke, dass ein Schlüssel zu dieser Art des Mitvollzugs ist, dass man sich von der aufgeklärt-abendländischen Haltung, selbst aktiv-kreativ (durch Nachdenken, Erinnern etc.) sein zu müssen, lösen muss: Nicht wir schaffen durch den Gottesdienst Realität, sondern Gott schafft Realität und wir werden von dieser Realität erfasst, wir werden in sie hineingestellt, wir können nur staunend beobachten bzw. in biblischer Diktion „betrachten“, was sich vor und um uns vollzieht.

Diese Qualität macht, dass der katholische Glaube zugleich am überkommenen Glaubensgut festhalten und dennoch so dynamisch und „heutig“ (im positiven Sinne) sein kann: Wir feiern keine alten Geschichten, die uns vielleicht irgendetwas sagen können, wir feiern diese alten Geschichten als Gegenwart. Mit diesem Ansatz lösen sich übrigens wie von selbst so manche Glaubensknoten, weil man sich von dem krampfhaften Versuch, für jedes Bibelwort eine moderne Bedeutung finden zu müssen, befreit.

Als ich vor einiger Zeit in einem evangelischen Weihnachtsgottesdienst saß, ist mir der Mangel an Gegenwärtigkeit extrem aufgefallen, weil gerade die zentralen Feste in der katholischen Kirche so „erfüllt“ und „gefüllt“ sind mit Präsenz dessen, was geschehen ist. Wenn die Engel das Gloria singen, sind wir mittendrin, statt nur darüber nachzudenken, wie schön das damals gewesen sein muss. Den gesamten Gottesdienst durchzog der Gedanke, dass man Weihnachten feiere, weil man sich erinnere an etwas Vergangenes, nicht zuletzt daran, wie man als Kind leuchtende Augen hatte, wie schön es als Kind war, Weihnachten zu feiern, etc. Ich habe überhaupt nicht verstanden, wieso sich die leuchtenden Augen jemals verdunkeln sollten angesichts des Weihnachtsgeheimnisses! Später verstand ich es dann: Für Kinder ist eine erzählte Geschichte wahrhaftig gegenwärtig, und man muss sie erst lehren, dass es nicht so ist. Letztlich sehnt man sich mit dem Weihnachten der Kinderzeit die unmittelbare Gegenwärtigkeit des Erlebens zurück. Aber wieso lässt man sich diese überhaupt nehmen? In solchen Momenten der Ratlosigkeit spürt die Blogbetreiberin besonders penetrant den göttlichen Zahlendreher: Sie hätte ins 12. Jahrhundert gehört, nicht ins 21. Beam me out, Becket!

Erinnerungen dagegen verblassen! Daher auch im evangelischen und im modernistischen katholischen Rahmen die Sucht nach Aktualisierung: Eine Glaubenshaltung, die nicht in der Gegenwart des Heils steht als Geschehen, das uns stetig umgibt und umwebt, muss natürlich ständig nach dem Aktuellen suchen, das uns „die alte Geschichte“ aka „der Glaube“ als Antwort auf die immer fortschreitende Zeit geben könnte: Der Kontakt zur Ewigkeit ist abgerissen. Im Extremfall kann man dann irgendwann nur noch so tun, als ob man bestimmte Dinge glaube, denn die tatsächliche Relevanz für das eigene Leben ist gleich null. Aktualisierung ist aber eben nicht Vergegenwärtigung. Nebenbei bemerkt ist dies auch ein Grund, warum es so wichtig ist, das liturgische Jahr als solches auch wirklich ausgestaltet zu leben: Jede Übersetzung des liturgischen Lebens in den Alltag hilft uns dabei, uns in eine Haltung einzuüben, die den Glauben vom Reenactment zu einem wahrhaften Erleben transformieren kann.

Ich empfinde es als ungeheure Gnade, das Triduum als Katholikin begehen zu können: Nicht nur Christus als den Auferstandenen bekennen zu dürfen (was ja auch schon eine ungeheure Gnade ist, nichts für ungut den nichtkatholischen Geschwistern), sondern in die Gegenwart seines Leidens, Sterbens und seiner Auferstehung hineingestellt zu werden in der heiligen Messe, im Stundengebet, in all den Riten und Feiern, die den Osterfestkreis prägen, setzt eine unbeschreiblich große Kraft frei. Eine Kraft, die letztlich unerheblich macht, ob wir persönlich Gottesdienste feiern können „wie immer“, ob wir zusammenkommen können oder nicht: Die Kirche feiert Ostern.