Einbahnstraße Nächstenliebe

Was dem Deutschen die Nazikeule, ist dem Katholiken – dasselbe Instrument, bloß „positiv“ formuliert – der Barmherzigkeitsdolch. Er wird dem orthodoxen Opfer in den Rücken gestoßen, meist mit den Worten: Du bist katholisch, du musst doch deinen Nächsten lieben! Wie kannst du, Kirche, jemandem die Kommunion verwehren? Wie kannst du, Kirche, jemandem sagen, es sei Sünde, was er tut? Wie kannst du anderen vorschreiben, wie sie zu leben haben?

Der sich auf der Recamière zurücklehnende Chauvi-Traditionalist blickt gelangweilt über den Rand seiner Champagner – pardon – Weihwasserflöte, zuckt mit den Schultern, zieht die Mundwinkel etwas angeekelt zusammen und sagt desinteressiert „Mimimi“.

Ich kann mir keinen Champagner leisten, trinke kein Weihwasser (wirklich nicht!) und habe keine Recamière, also kann ich mir derart ignorantes Verhalten nicht leisten und muss statt dessen zu ernster Argumentation greifen.

Zuerst einmal schreibt die Kirche nicht anderen vor, wie sie zu leben haben. Sie sagt allen, was richtig und was falsch ist. Was „alle“ damit anfangen, ist deren Problem. Allerdings schärft die Kirche auch ein, dass es ein Problem für die unsterbliche Seele sein könnte, ein Ausmaß, das vielleicht nicht jeder so ganz ermessen kann, weshalb es im Zweifel vielleicht doch besser wäre, zu tun, was die Kirche lehrt, aber hey, wir sind freie Menschen, und anders als die Protestanten lehrt die Kirche den freien Willen.

Sodann gibt es die Kirchenglieder. Der Katholik ist ja nicht irgendwer, sondern in den Leib Christi eingemeindet. Insofern hat er seinem Haupt zu gehorchen. Wenn die Kirche ihm etwas vorschreibt, so also nur das, was er als lebendiges, funktionstüchtiges, gesundes Glied an Christi Leib auch selbst hätte erkennen können. Da viele von uns aber mit Ödemen überzogen, von Krebs zerfressen, von der Chemo geschwächt, kurz, alles andere als voll funktionstüchtig sind (danke, Jesus, dass du uns trotzdem liebst), hilft uns die Kirche durch ihre Anweisungen. Das Klügste, was man als von Sünde korrumpierter Christenmensch also tun kann, ist, dem Wort der Kirche zu vertrauen. Ihr liegt nämlich daran, gesund zu sein, und das kann sie nur, wenn es auch ihre Glieder sind. Sonst wäre sie wie ein Hirn, das absichtlich der Hand rät, sich selbst abzuhauen. Kein gutes Rezept für ein langes Leben. Wenn die Kirche also ihren Mitgliedern etwas vorschreibt, ist das etwas ganz anderes, als der ganzen Welt etwas zu raten. Zudem befiehlt die Kirche nicht als despotische Herrscherin – „Dreadful as the Storm and the Lightning! Stronger than the foundations of the earth. All shall love me and despair!” sondern als liebende Mutter, d.h. ihre Anweisungen sind auf unser Glück ausgelegt, ohne dass irgendwer daran gehindert wäre, dennoch anders zu handeln (und dann die Konsequenzen zu tragen). Das Nette: Als wirklich und wahrhaftig Liebende sagt sie, wenn man dann erschöpft, traurig und zerstört zu ihr zurück kommt, nicht „Siehste, han isch doch jesacht“, sondern sie nimmt uns in den Arm und freut sich, dass wir wieder da sind. Eine andere weithin gebräuchliche (und auch biblische!) Analogie ist die des Arztes: Finden Sie es barmherzig, wenn ein Arzt dem Patienten nicht nur die Schwere der Krankheit verschweigt, sondern gar sagt, der Kranke sei gesund? Wohl kaum. Die Kirche tut das nicht und nennt die Krankheit. Der Kranke kann sich weiterhin gesund nennen und gesund fühlen, er kann die Warnung ignorieren, oder er kann die Medizin nehmen.

Dies alles ist natürlich nur Vorgeplänkel. Einen anderen Punkt finde ich viel wichtiger. Eines nämlich wundert mich nicht wenig: Wer von Barmherzigkeit und Nächstenliebe spricht, der meint meistens nur eine Seite. Das betrifft nicht nur Religion. Aber hier ist es besonders schmerzhaft. Wenn alle paar Monate jemand den Ehebruch legitimieren will, indem das gesamte Sündenverständnis der Kirche (immerhin erprobt, krisensicher, tausendmal besser als das schwammige „Keiner weiß es so ganz genau“-Bla der Protestanten und durch seine Klarheit auch besonders sanft und wenig neurosenaffin) ohne viel Aufhebens über Bord gekippt werden soll, um einer handvoll Leute die Kommunion spenden zu können (was man ohnehin schon tut, aber, hey, wenn man’s auch noch darf, ist es nicht so anstrengend für’s geknebelte Gewissen), dann offenbart das eigentlich nur eins: Bodenlose, abgrundtiefe Unbarmherzigkeit mit verlassenen, treuen Ehepartnern, die ihr Versprechen ernstnehmen, das sie jemandem gegeben haben, die die Realität Gottes und seiner Gnade nicht in den Dreck treten und verspotten. Diese Menschen scheinen völlig irrelevant zu sein. Warum? Weil sie keine Lobby haben. Warum haben sie keine Lobby? Weil sie nicht herumschreien. Es ist nämlich nicht schön, in seiner Einsamkeit und Hilfsbedürftigkeit vor der Welt offenbar zu werden. Wir wurschteln herum, wir tun, was wir können, aber kaum einer von uns steht gerne vor der Öffentlichkeit und sagt „Sorry, Leute, aber mir geht es oft schlecht, ich bin einsam und traurig.“ Wir haben 500+ Facebookfreunde – da hat Einsamkeit nichts zu suchen. Dann sind da vielleicht Kinder, die versorgt, Pflichten, die erfüllt werden. Ein hartes Leben. Wie viel härter, wenn man weiß, dass der, für den man das tut, es nicht achtet und nicht wertschätzt. Wie noch viel viel viel härter, wenn die Kirche es nicht mehr achtet und nicht mehr wertschätzt. Eigentlich ist es doch die Kirche, die wie Christus zu den Menschen sagen soll: Kommt her, die ihr mühselig und beladen seid, ich spende euch Trost. Hier, bei uns, in der wunderschönen Kirche Jesu Christi sollen die Gemeinschaft haben, die sonst der Gemeinschaft beraubt worden sind. Wie kann man sie indirekt dazu zwingen, außen vor zu bleiben? Guck mal, Hans, deine Grete, die ist jetzt mit’m Schorsch z’amm, und da gehen sie und empfangen den Leib Christi. Die haben alles, du hast nichts. Du bist zwar allein und traurig, aber hey, mach dir nichts draus! Außerdem werden die ja im Stand schwerer Sünde vorm Herrn erscheinen, also, da werden die dann nichts zu lachen haben, aber das kann uns ja jetzt erst mal wurscht sein, „esst und trinkt und seid guter Dinge“. Und hier der zweite Punkt: Wenn man Sünde und Sühne ernst nimmt, dann ist es schlicht und einfach unbarmherzig, Menschen den Ernst ihrer Situation vorzuenthalten. Es gibt also nur zwei Möglichkeiten: Denen, die solches fordern, ist egal, dass Menschen ihr Seelenheil aufs Spiel setzen, oder sie glauben gar nicht an das Seelenheil!

Die Kirche hat oft mit scharfem Blick gesehen, dass die Beladenen nicht immer die sind, die vor aller Welt so erscheinen, und dass Last nicht immer das ist, was wie eine Last aussieht. Sie ist nicht bloß an Ränder gegangen, sondern auch in die Tiefe, in den Mittelpunkt, hat versucht, bis in tiefste Seelentiefen zu helfen. Darum ist sie den Ehebrechern schuldig, sie auf ihr Vergehen hinzuweisen. Und sie ist es den Treuen schuldig, sie in den Arm zu nehmen. Ich möchte mich nicht mit einer Kirche abfinden, die dem Zeitgeist hinterherrennt und nur noch nach Instagramfiltern entscheidet, wem man seine Liebe zukommen lässt, und wem nicht. Ich bin nicht der Ansicht, dass ein einzelner Mensch das ganze Bild sehen und einschätzen kann. Ich erwarte nicht von Menschen, die in einer zweiten Verbindung ihr Glück suchen, dass sie sich nicht nach der Kommunion sehnen. Aber man muss leider der Realität ins Auge blicken: Für viele ist Kommunionempfang etwas, worauf sie ein Recht zu haben meinen, ein Cookie, der ihnen zusteht. Wer Christus wirklich liebt, wird irgendwann auch dazu stehen, dass er sich, aus welchen Gründen auch immer, dafür entschieden hat, Christus in einem entscheidenden Punkt nicht nachfolgen zu wollen, und wird die Konsequenz tragen (und diese Menschen brauchen unser Gebet, unsere Unterstützung und die Bestärkung und Bekräftigung durch die Kirche!!!) Über die Situation letztlich zu urteilen steht niemandem als Gott zu, das ist selbstverständlich. Aber dass ich der Kirche Christi gehorche, wenn sie die Sakramente verwaltet, sollte eben auch selbstverständlich sein. Wenn ich das aus irgendeinem Grund die Ehe betreffend nicht schaffe, sollte ich nicht noch mit einem weiteren Sakrament sakrilegisch umgehen. Der Schluss liegt also nahe, dass die, die die Kommunion für sich einfordern, zu einem großen Teil von der inneren Einstellung her ohnehin nicht kommunizieren sollten, da sie das Sakrament gar nicht ernst nehmen.

Manchmal dauert aber auch einfach der Prozess, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein. Jeder von uns kennt gewiss aus irgendeinem Kontext, dass man ihm aus falsch verstandener „Freundlichkeit“ einen wichtigen Rat oder Hinweis vorenthalten hat – und sei es nur ein dramatisch verrutschtes Kleidungsstück, auf das aus Rücksichtnahme niemand hinweisen will. Ganz egal, ob es etwas ist, was einem, wenn man es bemerkt, einfach nur peinlich ist, oder ob es tatsächlich schmerzt und schlimme Folgen hat – jeder sagt sich in dem Augenblick der Erkenntnis „Hätte mir das nur jemand vorher gesagt!“. Die Kirche ist dieser jemand. Sie muss das ganze Bild vor Augen haben und darf nicht nach kurzsichtigen Maßstäben urteilen.