Das Gesetz lieben #2
Im ersten Teil dieses Artikels ging es darum, dass nicht Gottes oder stellvertretend der Kirche Gesetze gesetzlich sind, sondern, wie Menschen mit dem Gesetz umgehen. Da sie der Liebe Gottes entspringen, und einzig und allein zum Besten des Menschen existieren, bedeutet es geistliches Wachstum, wenn wir lernen, das zu lieben, was uns aus Liebe heraus gegeben wurde, und beginnen, Gebote als Geschenk wahrzunehmen (wenn sie auch sicher manchmal ebenfalls eine Bürde darstellen können).
Ein Weg dahin, das Gesetz Gottes zu lieben, ist, es einfach denen gleichzutun, die es vorgemacht haben: Das Beten des Stundengebets ist mir persönlich dabei eine große Hilfe. In der alten Form wird jeweils am Sonntag in den kleinen Horen der 119. (118.) Psalm gebetet. (Hier auf Latein – ich finde, dass auf Latein der meditative Charakter besser deutlich wird.)
Das ist der gefürchtete längste Psalm, der unermüdlich in zahllosen Versen eigentlich immer nur eines sagt: Dass das Gesetz Gottes unfassbar toll ist, und dass man sich wünscht, sein ganzes Leben damit zu verbringen, es besser kennenzulernen und zu befolgen. Der Psalm ist dabei wie eine Meditation, deren Sprache sich gleichmäßig und sanft hin und her wiegt und so das Gesetz „im Herzen bewegt“. Die einzelnen Teile sind jeweils mit einem Buchstaben des hebräischen Alphabets überschrieben, man betet also „von A bis Z“ oder „Alpha bis Omega“, d.h. man will das Gesetz Gottes also von jeder Seite betrachten, es ganz und gar durchdringen und umfassen.
Wow. Da in der Kirche eigentlich nichts zufällig ist, ist es ziemlich vielsagend, dass ausgerechnet dieser Psalm, der das Gesetz Gottes besingt, am Sonntag betrachtet und gebetet wird, also an dem Tag, an dem wir mit der Auferstehung Christi das zentrale Glaubensgeheimnis der Christenheit feiern. An jenem Tag, an dem wir uns besonders die Befreiung des Menschen vom Gesetz der Sünde vergegenwärtigen, lobt die Kirche Gott mit den Worten des Psalmisten für sein Gesetz. Und das ist genau die richtige Haltung: Wer über Gottes sanftes und liebevolles Joch meckert, der hat offensichtlich nicht mehr vor Augen, von welchem grauenvollen Joch er befreit worden ist! Man könnte nun, wenn man wollte, den ganzen Sonntag über alle paar Stunden einmal für eine Viertelstunde bedenken, wie toll das Gesetz Gottes ist. Und je länger und öfter man darüber nachdenkt, desto lieber wird es einem auch werden. Mein Tipp: Man suche sich dazu eine Sonnenbank, am besten unter einem schönen Baum. Denn in der Natur wird das Wesen des göttlichen Gesetzes noch einmal ganz anders fassbar: Ist nicht in der Natur alles vortrefflichst geordnet? So, dass Wissenschaftler bis heute immer wieder auf ihnen zuvor unbekannte Mechanismen stoßen, die ein sensibles Gleichgewicht regeln, ein komplexes interdependentes System, in dem alles seinen Platz und seine Bedeutung hat und wo man keinen Bestandteil entfernen kann ohne Folgen für das Ganze.
Ein praktischer Weg ist auch, sich einmal vorzunehmen, dem Vertrauen Vorrang vor dem Verständnis zu geben. Auch hier ein persönlicher Einblick, weil ich denke, dass er Bände spricht. Als Jugendliche hatte ich eine (kurze) Phase, in der ich beim Vaterunser in der Kirche den Satz „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ ausließ. Wieso? Ich wollte meinen Schuldigern eben gar nicht vergeben! Was sollte das?! Ich soll Leuten vergeben, die mir etwas Schlechtes getan haben? Wo kommen wir denn dahin? Irgendwann verstand ich natürlich den Zusammenhang zwischen der Vergebung Gottes, die ich für mich will, und der Vergebung, die ich meinem Nächsten zugestehen muss. Also betete ich dann irgendwann wieder brav alles mit. Mit Paulus kann ich also sagen, dass ich in diesem Bereich den kindischen Unverstand ablegte und die Verständigkeit annahm, die einer Erwachsenen würdig war. Kann ich mich darauf verlassen, dass dies in den Fragen, die mich heute bewegen, ebenso ist? Kann ich sicher davon ausgehen, dass, bei der Grenzenlosigkeit Gottes und der Begrenztheit meines Verstandes, ich jedes Gebot gänzlich werde verstehen können? Kann ich davon ausgehen, dass diese Einsicht rechtzeitig kommt, bevor mir etwas Böses zugestoßen ist oder ich einem anderen Böses zugefügt habe? Darum ist es gut, sich vorzunehmen, Gottes Gebote zu akzeptieren und davon auszugehen, dass sie sich als wahr erweisen werden. Meiner Erfahrung nach passiert ab diesem Zeitpunkt Wunderbares, und viele Gedankenknoten lösen sich auf, weil sich alles zusammenfügen darf.
Nichts stärkt in uns die Liebe zur Kirche und zur Lehre so sehr, wie das Betrachten derselben. Wenn wir die Lehre der Kirche als altes Gebäude wahrnehmen, das nicht wir geplant, konstruiert und gebaut haben, sondern das wir nur begehen und betrachten können wie einen Renaissancepalast oder ein barockes Schloss, in dem wir an jeder Ecke irgendwelche klug gefügten Zusammenhänge entdecken und bewundern dürfen, wenn wir uns dem Staunen öffnen, dann sehen wir plötzlich Menschenfreundlichkeit, Wahrheit, Kunstfertigkeit, Schönheit und Vollkommenheit in der katholischen Lehre und in ihren Vorschriften, Geboten und Regeln. Natürlich erkennen wir dann auch verschiedene Abstufungen: Manches ist Gottes Gesetz, manches ist Menschengebot, aber nicht jedes Menschengebot sollte geändert werden, nur, weil es nicht Gottes Gesetz ist. Versuchen wir zuerst, den Sinn dahinter, die Liebe, die darin steckt, zu finden. Wenn wir die gefunden haben, können wir erst wirklich beurteilen, ob und wie Gesetze und Regeln verändert werden können und dürfen. Und meistens werden wir das in dem Augenblick nicht mehr für notwendig erachten!
Der 119. Palm in der Schlachter-Übersetzung
119 [a] Wohl denen, deren Weg unsträflich ist,
die da wandeln nach dem Gesetze des Herrn!
2 Wohl denen, die seine Zeugnisse beobachten,
die ihn von ganzem Herzen suchen,
3 die auch kein Unrecht getan haben,
die auf seinen Wegen gegangen sind!
4 Du hast deine Befehle gegeben,
daß man sie fleißig beobachte.
5 O daß meine Wege dahin zielten,
deine Satzungen zu befolgen!
6 Dann werde ich nicht zuschanden,
wenn ich auf alle deine Gebote sehe.
7 Ich werde dir mit aufrichtigem Herzen danken,
wenn ich die Verordnungen deiner Gerechtigkeit lerne.
8 Deine Satzungen will ich befolgen;
verlaß mich nicht ganz und gar!
9 Wie wird ein Jüngling seinen Weg unsträflich gehen?
Wenn er sich hält nach deinem Wort!
10 Ich habe dich von ganzem Herzen gesucht;
laß mich nicht abirren von deinen Geboten!
11 Ich habe dein Wort in meinem Herzen geborgen,
auf daß ich nicht an dir sündige.
12 Gelobt seist du, o Herr!
Lehre mich deine Satzungen.
13 Mit meinen Lippen zähle ich
alle Verordnungen deines Mundes auf.
14 Ich freue mich des Weges deiner Zeugnisse,
wie über lauter Reichtümer.
15 Ich will über deine Wege nachsinnen
und auf deine Pfade achten.
16 Ich habe meine Lust an deinen Satzungen
und vergesse deines Wortes nicht.
17 Gewähre deinem Knecht, daß ich lebe
und dein Wort befolge!
18 Öffne meine Augen, daß ich erblicke
die Wunder in deinem Gesetz!
19 Ich bin ein Gast auf Erden;
verbirg deine Gebote nicht vor mir!
20 Meine Seele ist zermalmt vor Sehnsucht
nach deinen Verordnungen allezeit.
21 Du hast die Übermütigen gescholten,
die Verfluchten, welche von deinen Geboten abirren.
22 Wälze Schimpf und Schande von mir ab;
denn ich habe deine Zeugnisse bewahrt!
23 Sogar Fürsten sitzen und bereden sich wider mich;
aber dein Knecht sinnt über deine Satzungen.
24 Ja, deine Zeugnisse sind meine Freude;
sie sind meine Ratgeber.
25 Meine Seele klebt am Staube;
belebe mich nach deiner Verheißung!
26 Ich habe meine Wege erzählt, und du hast mir geantwortet;
lehre mich deine Satzungen!
27 Laß mich den Weg deiner Befehle verstehen
und deine Wunder betrachten!
28 Meine Seele weint vor Kummer;
richte mich auf nach deinem Wort!
29 Entferne von mir den falschen Weg
und begnadige mich mit deinem Gesetz!
30 Ich habe den Weg der Wahrheit erwählt
und deine Verordnungen vor mich hingestellt.
31 Herr, ich hange an deinen Zeugnissen;
laß mich nicht zuschanden werden!
32 Ich laufe den Weg deiner Gebote;
denn du machst meinem Herzen Raum.
33 Zeige mir, Herr, den Weg deiner Satzungen,
daß ich ihn bewahre bis ans Ende.
34 Unterweise mich, so will ich dein Gesetz bewahren
und es von ganzem Herzen befolgen.
35 Laß mich wandeln auf dem Pfad deiner Gebote;
denn ich habe Lust daran.
36 Neige mein Herz zu deinen Zeugnissen
und nicht zur Habsucht!
37 Wende meine Augen ab, daß sie nicht nach Eitlem sehen;
erquicke mich auf deinen Wegen!
38 Erfülle an deinem Knechte deine Verheißung,
die denen gilt, die dich fürchten.
39 Wende die Beschimpfung von mir ab, die ich fürchte;
denn deine Verordnungen sind gut!
40 Siehe, ich sehne mich nach deinen Befehlen;
erquicke mich durch deine Gerechtigkeit!
41 Deine Gnade, o Herr, komme über mich,
dein Heil nach deinem Wort!
42 Damit ich dem antworten kann, der mich schmäht;
denn ich verlasse mich auf dein Wort.
43 Und entziehe nicht allzusehr meinem Munde das Wort der Wahrheit;
denn ich harre auf deine Verordnungen!
44 Und ich will dein Gesetz stets bewahren,
immer und ewiglich.
45 Und ich möchte auf weitem Raum wandeln;
denn ich habe deine Befehle erforscht.
46 Und ich will von deinen Zeugnissen reden vor Königen
und mich nicht schämen.
47 Und ich will mich an deinen Befehlen vergnügen;
denn ich liebe sie.
48 Und ich will meine Hände nach deinen Befehlen ausstrecken, weil ich sie liebe,
und will nachdenken über deine Satzungen.
49 Gedenke des Wortes an deinen Knecht,
auf welches du mich hoffen ließest!
50 Das ist mein Trost in meinem Elend,
daß dein Wort mich erquickt.
51 Die Übermütigen haben mich arg verspottet;
dennoch bin ich von deinem Gesetz nicht abgewichen.
52 Ich gedachte deiner Verordnungen, Herr, die von Ewigkeit her sind,
und das tröstete mich.
53 Zornglut hat mich ergriffen wegen der Gottlosen,
die dein Gesetz verlassen.
54 Deine Satzungen sind meine Lieder geworden
im Hause meiner Wallfahrt.
55 Herr, des Nachts habe ich an deinen Namen gedacht
und dein Gesetz bewahrt.
56 Das ist mir zuteil geworden,
daß ich deine Befehle befolgen darf.
57 Ich sage: Das ist mein Teil, o Herr,
die Beobachtung deiner Worte!
58 Ich flehe von ganzem Herzen um deine Gunst:
Sei mir gnädig, wie du verheißen hast!
59 Als ich meine Wege überlegte,
wandte ich meine Füße zu deinen Zeugnissen.
60 Ich habe mich beeilt und nicht gesäumt,
deine Gebote zu befolgen.
61 Als die Schlingen der Gottlosen mich umgaben,
vergaß ich deines Gesetzes nicht.
62 Mitten in der Nacht stehe ich auf,
dir zu danken für die Verordnungen deiner Gerechtigkeit.
63 Ich bin verbunden mit allen, die dich fürchten,
und die deine Befehle befolgen.
64 Herr, die Erde ist voll deiner Gnade;
lehre mich deine Satzungen!
65 Du hast deinem Knechte wohlgetan,
o Herr, nach deinem Wort.
66 Lehre mich rechte Einsicht und Verständnis;
denn ich vertraue deinen Befehlen.
67 Ehe ich gedemütigt ward, irrte ich,
nun aber befolge ich dein Wort.
68 Du bist gut und wohltätig;
lehre mich deine Satzungen!
69 Die Stolzen haben mich mit Lügen besudelt;
ich beobachte von ganzem Herzen deine Befehle.
70 Ihr Herz ist stumpf wie von Fett;
ich aber vergnüge mich an deinem Gesetz.
71 Es war gut für mich, daß ich gedemütigt wurde,
auf daß ich deine Satzungen lernte.
72 Das Gesetz deines Mundes ist besser für mich
als Tausende von Gold- und Silberstücken.
73 Deine Hände haben mich gemacht und bereitet;
gib mir Verstand, daß ich deine Befehle lerne!
74 Die dich fürchten, werden mich sehen und sich freuen,
daß ich auf dein Wort gewartet habe.
75 Herr, ich weiß, daß deine Verordnungen gerecht sind
und daß du mich in Treue gedemütigt hast.
76 Laß doch deine Gnade mir zum Trost gereichen,
wie du deinem Knechte zugesagt hast!
77 Laß mir deine Barmherzigkeit widerfahren, daß ich lebe!
Denn dein Gesetz ist meine Lust.
78 Laß die Stolzen zuschanden werden, weil sie mir mit Lügen Unrecht getan;
ich aber denke über deine Befehle nach.
79 Mir wird zufallen, wer dich fürchtet
und deine Zeugnisse anerkennt.
80 Mein Herz soll sich gänzlich an deine Satzungen halten,
damit ich nicht zuschanden werde.
81 Meine Seele schmachtet nach deinem Heil;
ich harre auf dein Wort.
82 Meine Augen schmachten nach deinem Wort
und fragen: Wann wirst du mich trösten?
83 Bin ich auch geworden wie ein Schlauch im Rauch,
so habe ich doch deiner Satzungen nicht vergessen.
84 Wieviel sind noch der Tage deines Knechtes?
Wann willst du an meinen Verfolgern das Urteil vollziehen?
85 Die Übermütigen haben mir Gruben gegraben,
sie, die sich nicht nach deinem Gesetze richten.
86 Alle deine Gebote sind Wahrheit;
sie aber verfolgen mich mit Lügen; hilf mir!
87 Sie hätten mich fast umgebracht auf Erden;
dennoch verließ ich deine Befehle nicht.
88 Erhalte mich am Leben nach deiner Gnade,
so will ich die Zeugnisse deines Mundes bewahren.
89 Auf ewig, o Herr,
steht dein Wort im Himmel fest;
90 von einem Geschlecht zum andern währt deine Treue!
Du hast die Erde gegründet, und sie steht;
91 nach deinen Ordnungen stehen sie noch heute;
denn es muß dir alles dienen!
92 Wäre dein Gesetz nicht meine Lust gewesen,
so wäre ich vergangen in meinem Elend.
93 Ich will deine Befehle auf ewig nicht vergessen;
denn durch sie hast du mich belebt.
94 Ich bin dein; rette mich,
denn ich habe deine Befehle gesucht!
95 Die Gottlosen lauern mir auf, um mich zu verderben;
aber ich merke auf deine Zeugnisse.
96 Von aller Vollkommenheit habe ich ein Ende gesehen;
aber dein Gebot ist unbeschränkt[b].
97 Wie habe ich dein Gesetz so lieb!
Ich denke darüber nach den ganzen Tag.
98 Dein Gebot macht mich weiser als meine Feinde;
denn es bleibt ewiglich bei mir.
99 Ich bin verständiger geworden als alle meine Lehrer,
denn deine Zeugnisse sind mein Sinnen.
100 Ich bin einsichtiger als die Alten;
denn ich achte auf deine Befehle.
101 Von allen schlechten Wegen habe ich meine Füße abgehalten,
um dein Wort zu befolgen.
102 Von deinen Verordnungen bin ich nicht abgewichen;
denn du hast mich gelehrt.
103 Wie süß ist deine Rede meinem Gaumen,
mehr denn Honig meinem Mund!
104 Von deinen Befehlen werde ich verständig;
darum hasse ich jeden Lügenpfad.
105 Dein Wort ist meines Fußes Leuchte
und ein Licht für meinen Pfad.
106 Ich habe geschworen und werde es halten,
daß ich die Verordnungen deiner Gerechtigkeit bewahren will.
107 Ich bin tief gebeugt; Herr,
erquicke mich nach deinem Wort!
108 Herr, laß dir wohlgefallen die freiwilligen Opfer meines Mundes
und lehre mich deine Verordnungen!
109 Meine Seele ist beständig in meiner Hand,
und ich vergesse deines Gesetzes nicht.
110 Die Gottlosen haben mir eine Schlinge gelegt;
aber ich bin von deinen Befehlen nicht abgeirrt.
111 Deine Zeugnisse sind mein ewiges Erbe;
denn sie sind meines Herzens Wonne.
112 Ich habe mein Herz geneigt,
deine Satzungen auf ewig zu erfüllen.
113 Ich hasse die Unentschiedenen[c];
aber dein Gesetz habe ich lieb.
114 Du bist mein Schirm und mein Schild;
ich harre auf dein Wort.
115 Weichet von mir, ihr Übeltäter,
daß ich die Gebote meines Gottes befolge!
116 Unterstütze mich nach deiner Verheißung,
daß ich lebe und nicht zuschanden werde mit meiner Hoffnung!
117 Stärke du mich, so ist mir geholfen
und ich werde mich an deinen Satzungen stets ergötzen!
118 Du wirst alle zu leicht erfinden, die von deinen Satzungen abweichen;
denn eitel Betrug ist ihre Täuschung.
119 Wie Schlacken räumst du alle Gottlosen von der Erde fort;
darum liebe ich deine Zeugnisse.
120 Mein Fleisch schaudert aus Furcht vor dir,
und ich habe Ehrfurcht vor deinen Verordnungen!
121 Ich habe Recht und Gerechtigkeit geübt;
überlaß mich nicht meinen Unterdrückern!
122 Stehe ein zum Besten deines Knechtes,
daß mich die Übermütigen nicht unterdrücken!
123 Meine Augen schmachten nach deinem Heil
und nach dem Wort deiner Gerechtigkeit.
124 Handle mit deinem Knecht nach deiner Gnade
und lehre mich deine Satzungen!
125 Ich bin dein Knecht; unterweise mich,
daß ich deine Zeugnisse verstehe!
126 Es ist Zeit, daß der Herr handle;
sie haben dein Gesetz gebrochen!
127 Darum liebe ich deine Befehle
mehr als Gold und als feines Gold;
128 darum lobe ich mir alle deine Gebote
und hasse jeden trügerischen Pfad. –
129 Wunderbar sind deine Zeugnisse;
darum bewahrt sie meine Seele.
130 Die Erschließung deiner Worte erleuchtet
und macht die Einfältigen verständig.
131 Begierig öffne ich meinen Mund;
denn mich verlangt nach deinen Befehlen.
132 Wende dich zu mir und sei mir gnädig
nach dem Rechte derer, die deinen Namen lieben.
133 Mache meine Schritte fest durch dein Wort
und laß kein Unrecht über mich herrschen!
134 Erlöse mich von der Bedrückung durch Menschen,
so will ich deine Befehle befolgen!
135 Laß dein Angesicht leuchten über deinen Knecht
und lehre mich deine Satzungen!
136 Tränenströme fließen aus meinen Augen,
weil man dein Gesetz nicht befolgt.
137 Herr, du bist gerecht,
und deine Verordnungen sind richtig!
138 Du hast deine Zeugnisse gerecht
und sehr treu abgefaßt.
139 Mein Eifer hat mich verzehrt,
weil meine Feinde deine Worte vergessen haben.
140 Deine Rede ist wohlgeläutert,
und dein Knecht hat sie lieb.
141 Ich bin gering und verachtet;
deine Befehle habe ich nicht vergessen.
142 Deine Gerechtigkeit ist auf ewig gerecht,
und dein Gesetz ist Wahrheit.
143 Angst und Not haben mich betroffen;
aber deine Befehle sind meine Lust.
144 Deine Zeugnisse sind auf ewig gerecht;
unterweise mich, so werde ich leben!
145 Ich rufe von ganzem Herzen: Herr, erhöre mich;
deine Satzungen will ich befolgen!
146 Ich rufe zu dir; errette mich,
so will ich deine Zeugnisse bewahren!
147 Vor der Morgendämmerung komme ich und schreie;
ich harre auf dein Wort.
148 Meine Augen kommen den Nachtwachen zuvor,
daß ich über deine Reden nachdenke.
149 Höre meine Stimme nach deiner Gnade, o Herr,
erquicke mich nach deinem Recht!
150 Die dem Laster nachjagen, sind nah;
von deinem Gesetz sind sie fern.
151 Du bist nahe, o Herr,
und alle deine Gebote sind wahr.
152 Längst weiß ich aus deinen Zeugnissen,
daß du sie auf ewig gegründet hast.
153 Siehe mein Elend an und errette mich;
denn ich habe deines Gesetzes nicht vergessen!
154 Führe meine Sache und erlöse mich;
erquicke mich durch dein Wort!
155 Das Heil ist fern von den Gottlosen;
denn sie fragen nicht nach deinen Satzungen.
156 Deine Barmherzigkeit ist groß, o Herr;
erquicke mich nach deinen Verordnungen!
157 Meiner Verfolger und Widersacher sind viele;
dennoch habe ich mich nicht von deinen Zeugnissen abgewandt.
158 Wenn ich die Abtrünnigen ansehe, so ekelt mir,
weil sie dein Wort nicht beachten.
159 Siehe, ich liebe deine Befehle;
o Herr, erquicke mich nach deiner Gnade!
160 Die Summe deines Wortes ist Wahrheit,
und alle Verordnungen deiner Gerechtigkeit bleiben ewig.
161 Fürsten verfolgen mich ohne Ursache;
aber vor deinem Wort fürchtet sich mein Herz.
162 Ich freue mich über dein Wort
wie einer, der große Beute findet.
163 Ich hasse Lügen und habe Greuel daran;
aber dein Gesetz habe ich lieb.
164 Ich lobe dich des Tages siebenmal
wegen der Ordnungen deiner Gerechtigkeit.
165 Großen Frieden haben, die dein Gesetz lieben,
und nichts bringt sie zu Fall.
166 Ich warte auf dein Heil, o Herr,
und erfülle deine Befehle.
167 Meine Seele bewahrt deine Zeugnisse
und liebt sie sehr.
168 Ich habe deine Befehle und deine Zeugnisse bewahrt;
denn alle meine Wege sind vor dir.
169 Herr, laß mein Schreien vor dich kommen;
unterweise mich nach deinem Wort!
170 Laß mein Flehen vor dich kommen;
errette mich nach deiner Verheißung!
171 Meine Lippen sollen überfließen von Lob,
wenn du mich deine Satzungen lehrst.
172 Meine Zunge soll deine Rede singen;
denn alle deine Gebote sind gerecht.
173 Deine Hand komme mir zu Hilfe;
denn ich habe deine Befehle erwählt.
174 Ich habe Verlangen nach deinem Heil, o Herr,
und dein Gesetz ist meine Lust.
175 Meine Seele soll leben und dich loben,
und deine Verordnungen seien meine Hilfe!
176 Ich bin verirrt wie ein verlorenes Schaf; suche deinen Knecht!
Denn deine Gebote habe ich nicht vergessen!
Das erinnert mich daran, was C. S. Lewis in „Gespräch mit Gott – Gedanken zu den Psalmen“ (so der Titel der Übersetzung) schreibt – kennen Sie das Buch? (Es ist toll.)
„Wir ahnen sogleich, er [der Dichter von Psalm 119] habe für das Gesetz Ähnliches wie für die Dichtung empfunden; beide heischen genaue und liebevolle Angleichung an ein schwieriges vorgegebenes Muster. […] Sie [diese Haltung] ist Freude an Ordnung, Vergnügung am Präzisen – wie am Tanzen eines Menuetts. Natürlich weiß der Dichter, dass etwas unvergleichlich Ernsthafteres als ein Menuett zur Frage steht. Auch weiß er darum, dass ihm selbst so vollendete Zucht schwerlich gelingen wird: „Ach wären doch meine Wege beständig, indem ich deinen Satzungen folge!“ (5) Zur Zeit sind sie es nicht. Aber seine Anstrengungen entspringen nicht sklavischer Furcht. Die Ordnung des göttlichen Geistes, verkörpert im göttlichen Gesetz, ist schön. Kann man Besseres tun als sie im täglichen Leben soweit wie möglich darstellen? „An deinen Satzungen habe ich meine Lust“ (16); über sie zu sinnen, ist „mehr als Besitz“ (14); sie wirken wie Musik: […] Das ist weder Ziererei noch Skrupelhaftigkeit; es ist die Sprache eines von moralischer Schönheit Verzückten. Zu bedauern ist, wer diese Erfahrung nicht zu teilen vermag. […]
Aber noch ein zweites in diesem ernsten Gedicht kann uns weiterhelfen. An drei Stellen versichert der Dichter, das Gesetz sei „verlässig“ oder „Wahrheit“ (86,138,142). […] Henne übersetzt das Wort dreimal mit „Wahrheit“: „wahr“ im hebräischen Sinne ist etwas, worauf Verlass ist. […] Der Dichter, der die Weisungen oder Vorschriften Jahwes „wahr“ nennt, drückt damit die Gewissheit aus, dass diese und nicht jene anderen „echt“, „gültig“ oder unangreifbar seien; dass sie auf dem Wesen der Dinge und dem Wesen Gottes beruhen.
Mit dieser Gewissheit stellt er sich in einer Streitfrage, die sehr viel später unter Christen entstanden ist, auf die rechte Seite. Im achtzehnten Jahrhundert gab es schreckliche Theologen, die behaupteten: „Gott hat nicht darum gewisse Dinge befohlen, weil sie recht sind, sondern gewisse Dinge sind recht, weil Gott sie befohlen hat.“ Um seinen Standpunkt ganz unmissverständlich klarzumachen, sagte einer von ihnen sogar, zwar habe Gott nun einmal befohlen, Ihn und uns zu lieben; doch hätte er uns genausogut befehlen können, Ihn und uns zu hassen; und dann wäre eben Hass das Rechte gewesen. Anscheinend war es reiner Zufall, wofür Er sich entschied. Eine solche Ansicht macht Gott zum willkürlichen Tyrannen. Es wäre besser und verstieße weniger gegen die Religion, an keinen Gott und keine Moral zu glauben, als sich zu einer solchen Moral und einer solchen Theologie zu bekennen. […] Er [Gott] auferlegt das Gute, weil es gut ist, weil Er gut ist. Darum haben Seine Gesetze emeth, „Wahrheit“, innere Geltung, auf Fels gegründete Echtheit, da sie in Seinem Wesen wurzeln, und sind daher so dauerhaft wie die von Ihm geschaffene Natur. Aber die Psalmisten selbst wissen es am Besten zu sagen: „Gleich Gottesbergen ist deine Gerechtigkeit, dein gerechtes Walten wie das weite Meer“ (36,7). Ihre Lust am Gesetz ist die Lust, auf festem Grund zu stehen; gleich der Lust des Wanderers, die harte Straße unter den Füßen zu spüren, nachdem ihn eine verräterische Abkürzung über lehmige Äcker lange Zeit in die Irre geführt hat.
Es gab nämlich andere Straßen, welchen es an „Wahrheit“ fehlte. Zu unmittelbaren Nachbarn, ihnen nach Rasse wie nach Lage nahe, hatten die Juden Heiden von der schlimmsten Sorte, Heiden, deren Religion sich durch keine Spur jener Schönheit oder (gelegentlichen) Weisheit auszeichnete, die wir bei den Griechen finden. Ein solcher Hintergrund ließ die „Schönheit“ und „Süße“ des Gesetzes umso vernehmlicher hervortreten; nicht zuletzt darum, weil diese benachbarten heidnischen Kulte für den Juden eine ständige Versuchung bedeuteten und in manchen Äußerlichkeiten seiner eigenen Religion nicht unähnlich waren. Die Versuchung bestand darin, in Schreckenszeiten – wenn zum Beispiel die Assyrer vorstießen – zu solchen grauenvollen Riten Zuflucht zu nehmen. Wir [die Engländer], die wir vor nicht allzu langer Zeit [im 2. Weltkrieg, das wurde 1958 geschrieben] täglich die Invasion eines Feindes erwartet haben, der ähnlich den Assyrern für systematische Grausamkeit bekannt und darin geschult war – wir wissen, wie ihnen zumute gewesen sein mag. Sie waren versucht – da der Herr taub schien –, jene grausigen Gottheiten anzugehen, die so viel mehr forderten und daher vielleicht auch mehr gewähren mochten. Betrachtete aber ein Jude solche Kulte zu glücklicherer Stunde oder ein besserer Jude sogar zu eben jener – dachte er an Tempelprostitution, Tempelsodomie und an die Kinder, die dem Moloch ins Feuer geworfen wurden –, so musste ihm sein eigenes „Gesetz“, wenn er sich ihm wieder zuwandte, in außergewöhnlichem Glanz erstrahlen. Süßer als Honig, oder sagen wir, die wir nicht so sehr aufs Süße versessen sind wie alle alten Völker (teils weil wir reichlich Zucker haben) und denen dieses Bild daher nicht passt – sagen wir wie Quellwasser, wie frische Luft nach einem dumpfen Verlies, wie klare Vernunft nach einem Alptraum.“ (S. 83-87)
Ah! Wie immer war jemand weiser, klüger und begabter als ich!
Nein, ich kenne das Buch nicht. Aber was er beschreibt, ist genau das, was ich empfinde.
Das Buch ist wirklich gut. Er schreibt auch doppelte Bedeutungen der Psalmen, über den Tod in den Psalmen, oder über die Fluchpsalmen – darüber, dass sich die Psalmisten oft nach dem göttlichen Gericht über ihre Feinde sehnen, deshalb, weil sie zu den Unterdrückten oder Verfolgten gehören, für die Gottes Gerechtigkeit nicht bedrohlich ist, sondern die auf sie hoffen. Er hat auch einen Essay über dieses Thema geschrieben, der sich auf Deutsch in dem Sammelband „Gedankengänge. Essays zu Christentum, Kunst und Kultur“ findet (und den ich hier sehr ausführlich zitiert habe: https://nolitetimereweb.wordpress.com/2017/02/13/ueber-schwierige-bibelstellen-teil-7-ein-beispiel-die-rachsuechtigen-und-selbstgerechten-psalmen/). Nur, falls es noch jemanden interessieren sollte – ich bin einfach ein großer Fan von C. S. Lewis 🙂
Danke für den Literaturtipp! Ich muss beschämt zugeben, dass ich noch NICHTS von C.S. Lewis gelesen habe (außer den Dienstanweisungen…). Ich hab da sehr viel aufzuholen…
Übrigens hat Bonhoeffer zum Thema Psalmgebet auch eine sehr schöne kleine Abhandlung geschrieben, in der er auch erklärt, wie man die Fluchpsalmen (und die Klagepsalmen…) verstehen und in welchem Sinne man sie beten soll.
Leider weiß ich nicht mehr wie es hieß, ich hatte es mal in einer Bibliothek gefunden und mir kopiert.
Oh, da müssen Sie wirklich was aufholen! Am liebsten mag ich von ihm irgendwie „Narnia“ und „Till we have faces“ (Deutsch: „Du selbst bist die Antwort“), also auch seine fiktionalen Bücher, aber viele der Essays sind natürlich auch richtig genial („Laiengeblök“, „Wir haben kein Recht auf Glück“, usw.), „Über den Schmerz“ („The problem of pain“) lohnt sich auf jeden Fall auch, usw. usf….
Danke gleichfalls für den Tipp! Na ja, sowas findet man ja im Internet meistens schnell
Kleine Ergänzung: Bis zur Brevierreform durch Pius X. (1911) wurden die Abschnitte von Psalm 118 sogar an jedem Tag in den kleinen Horen gebetet.
…und damit oute ich mich als stiller Mitleser dieses Blogs. Die Beiträge sind immer ein Vergnügen. Weiter so!
:D. Vielen Dank. Und danke für die Info. *Schluck* Da bin ich ja zur Abwechslung mal FÜR eine Reform :D. JEDEN Tag brauch ich das nicht… *hust*.
Nur ein kleiner Gedanke zum Thema „Gesetz“ – so ganz allgemein: Es scheint mir ein großes Unglück, dass wir“Gesetz“ mit „Strafgesetz“ verwechseln. Schon in der weltlichen Gesetzgebung sind die wenigsten Gesetze Strafgesetze, es sind Regeln des Zusammenlebens.
So ist es auch bei kirchlichen und göttlichen Gesetzen: Es sind Regeln für das Zusammenleben, in der Kirche, mit Gott. Wer sich diese Regeln selbst macht, der macht sich seine Kirche, seinen Gott, der glaubt nicht an die Ansprache durch Gott, sondern nur an sich selbst. Und wir haben doch den historischen Beweis im Judentum und (kürzer) in der Kirche: Wer sich an Gottes Gebote hält, der lebt; wer Gottes Gebote durch eigene ersetzt, der vergeht.
Amen.
Toller Artikel.
(Aus Gründen: Ich hoffe, die Liebe zum Gesetz bezieht sich auch auf die Großzügigkeiten des Gesetzgebers einschließlich dessen, daß Leute auch auf die Idee kommen könnten, diese auch zu nutzen^^.)
Ja. Tut es.