Das Gesetz lieben

Ein großes Missverständnis im Austausch zwischen Protestanten und Katholiken, aber auch im Verhältnis der Gläubigen zur Kirche, besteht im Zusammenhang mit „dem Gesetz“ und den „Geboten“. Das Thema ist sehr spannend und spannungsreich, aber auch sehr komplex. Man kann im Hinblick auf dieses Thema jeden Tag etwas dazulernen, denn natürlich sind wir als Christen und einfach allgemein als Menschen ständig mit der Frage konfrontiert, wie wir mit bestehenden Regeln umgehen sollen.

Erst einmal ist ja überhaupt die Frage, was wir meinen? Das göttliche Gesetz? Das göttliche Gesetz in Form des mosaischen? Jenes, das Gott den Heiden ins Herz gelegt hat? Sagen wir „Gesetz“, meinen aber eigentlich „Gebote“ oder „Regeln“? Da hier normalerweise schon eine Begriffsbestimmung gar nicht vorgenommen wird, sondern „Gesetz“ einfach irgendwie alle Regeln meint, die einen irgendwie betreffen, ist die Kommunikation hier bereits signifikant erschwert. Darin liegt also bereits die typische ökumenische Stolperfalle, der Begrifflichkeitsnebel.

Viele Menschen ignorieren ironischerweise einen Großteil dessen, was die Bibel zu diesem Thema sagt und behaupten, die in der Bibel kritisierte „Gesetzlichkeit“ sei generell ein Vorhandensein von oben vorgegebenen Regeln. Das kann nicht sein: Zugleich würde nämlich kein Protestant behaupten, man müsse sich an die 10 Gebote, an soziale Regeln im Umgang miteinander oder auch an Naturgesetze nicht halten. Was sich mit Christus verändert hat, ist nicht das Vorhandensein von Regeln. Das mosaische Gesetz aber ist in Christus erfüllt. Diese Formulierung ist unglaublich wichtig, denn es wäre ein ziemlicher Schuss ins Knie, wenn der allmächtige, ganz gute, ganz liebende, allwissende Gott ein Gesetz gegeben hätte, dass er dann wieder „aufhebt“ oder „auflöst“ oder gar „abschafft“. Denn dann wäre an diesem gottgegebenen Gesetz ja etwas nicht gottgemäß, falsch, wenn es so beschaffen wäre, dass man es abschaffen würde. Oder aber, es ist eben von Mose erdacht, nicht von Gott gegeben, aber dann wäre Mose ein Lügner, alles in allem auch nicht befriedigend. Nun ist aber das Gesetz eben nicht abgeschafft, sondern in Christus erfüllt. Allein über diesen Sachverhalt kann man mit Sicherheit ein ganzes Leben lang nachdenken und nicht zum Ende kommen. Erfüllt, d.h. Christus hat dieses tatsächlich von Gott gegebene und nicht von Menschen erdachte Gesetz als erster und einziger tatsächlich ganz und gar ergriffen. Und in seinen Lehren und in seinem Leben macht er auch uns den tiefsten Sinn des göttlichen Gesetzes deutlich: Liebe.

Gesetzlichkeit ist nicht, dass Regeln vorhanden sind, sondern das Befolgen (und Aufstellen) von Regeln um der Regeln willen. Tatsächlich sollen sowohl das Aufstellen von (notwendigen) Regeln wie auch das Befolgen derselben von Liebe ausgehen und von Liebe geprägt sein. Grundlage dessen ist Vertrauen in die Wahrheit und Güte Gottes: Wenn Gott wirklich vollkommen gut und vollkommen wahr ist, dann sind alle Regeln, die er gibt, nicht nur geboten, sondern auch geschenkt, und dann kann es nicht ein einziges geben, das nicht aus Liebe an den Menschen ergeht. Wenn ich ein Gebot nicht erfüllen will, dann bedeutet das, dass ich im Grunde Gott nicht wirklich vertraue. Nehmen wir ein leicht einsichtiges und kaum beachtetes Gebot wie das Sonntagsgebot. Es besagt, dass jeder Christ jeden Sonntag an der Feier der heiligen Messe teilnehmen muss. Wie für alle christlichen Gebote gilt hier, eben weil sie um des Menschen willen und aus Liebe existieren, dass Not keines kennt, d.h., wer aus einem schwerwiegenden Grund fernbleibt, begeht keine Sünde. Warum nun hat die Kirche dieses Gebot aufgestellt? Weil Gott eitel ist und eine ihm frenetisch zujubelnde Menge braucht? Weil Priester ihre prächtigen Messgewänder publikumswirksam ausführen wollen? Gut, völlig überzogen. Aber schon hier wird es brenzlig: Vielleicht, weil die Kirche ihre Macht festigt, in dem sie die Menschen dazu zwingt, zumindest einmal in der Woche ihre Lehren anzuhören? Weil sie die Kollekte will? Das wären Vermutungen, die man schon eher in freier Wildbahn antrifft. Weil die Kirche kontrollieren, gängeln will. Wer – wenn auch halb unbewusst – so denkt, der zeigt damit, dass er der Kirche nicht vertraut, und damit auch Gott nicht: Wenn Gott die Kirche eingesetzt hat, dann muss man ihr vertrauen, wenn nicht, dann haben wir ein Problem, denn dann könnten wir über Gott nichts sagen oder wissen, denn wenn uns die Offenbarung nicht durch die Kirche übermittelt und tradiert würde, hätten wir keine und wüssten also gar nichts. Tatsächlich gibt es dieses Gebot, damit wir immer fester in der Liebe Gottes gegründet sind, damit wir  von der Kirche lernen, wie man in Lobpreis, Dank und Bitte allezeit vor Gott steht, nicht nur eine Stunde pro Woche. Damit wir die Gemeinschaft des Glaubens erfahren, die uns stärkt, wenn wir wieder allein in unserem Alltag sind. Damit wir die wahre Freude erfahren. Damit wir Christus in uns aufnehmen können. Damit wir die Gnade geschenkt bekommen, wie Maria und Johannes unter dem Kreuz wahre Zeugen des Kreuzesopfers, und wie Maria Magdalena Zeugen der Auferstehung sein können. Das Sonntagsgebot ist also ein einziges Gebot der Liebe, Liebe, Liebe. Und was sind die Reaktionen der Feld-Wald-und-Wiesen-Theologiestudenten und -dozenten, die man damit konfrontiert? „Ich brauche das nicht.“ „Das gibt mir nichts.“ „Das ist doch überholt.“ Kein Witz. Alles schon gehört. Das ist nicht „ungesetzlich“ sein, das ist pure Gesetzlosigkeit. Da nun aber in Christus ja das Gesetz erfüllt, nicht abgeschafft ist, ist Gesetzlosigkeit ebensowenig in Gottes Sinne wie Gesetzlichkeit.

Natürlich wäre es auf der anderen Seite tatsächlich gesetzlich, wenn ein Mensch nur in die Kirche ginge, weil er „muss“. Manchmal begegnet uns diese Haltung unter „guten“ Katholiken: Da wird bis eine Minute vor Messbeginn gegessen, schließlich besagt das Nüchternheitsgebot ja „eine Stunde vor Empfang der heiligen Kommunion“, und wenn das Hochamt eineinhalb Stunden dauert, kann man ruhig bis 9.59 Uhr essen. Da wird in der Fastenzeit der Teller vollgehauen, schließlich „dürfe man ja eine sättigende Mahlzeit am Tag essen.“ Wenn nicht nach dem tieferen Sinn, nach der Liebe in einem Gebot gefragt wird, besteht die Gefahr, dass man nicht mehr gemäß der Bergpredigt das Maximum sucht – zur größeren Ehre Gottes – sondern immer am Minimum, an der Grenze zur Übertretung entlangkraucht, und bald sein Vergnügen nicht mehr daraus zieht, sich von Gott erheben zu lassen, sondern daraus, sorgfältig am Abgrund entlangzubalancieren. Das mag als „Kölsch-katholisch“ in gewissen Gegenden geduldet sein, sollte aber auch dort nicht zur Gewohnheit werden. Man gerät also schnell in die Netze der Gesetzlichkeit, wenn man nur von dem ausgeht, was noch in Ordnung ist, anstatt zu fragen, was man mehr tun könnte (oder gar sollte). Das ist die Haltung, die bei den Pharisäern deutlich wird, wenn sie Jesus spitzfindige Fragen stellen – und das ist der Unterschied zu ebenfalls durchaus manchmal spitzfindigen Fragen, die sich auch in christlicher Theologie stellen: Nicht das genaue Wissenwollen dessen, was Sache ist, ist das, was Christus kritisiert, sondern, dass die Grundlage des Wissenwollens nicht die Liebe und das Vertrauen, sondern Pingeligkeit oder gar Bigotterie sind: Wie kann ich bei all den Regeln das Maximum an Eigenwillen für mich herausholen? Wer das Gesetz so befragt, fragt falsch.

Ein Ziel für den Christenmenschen muss es also sein, zu erkennen, dass das Gesetz Gottes nicht existiert, um ihn zu bremsen (auch rote Ampeln wurden ja tatsächlich nicht erfunden, um unschuldige Autofahrer ihres Vergnügens zu berauben, auch, wenn es manchmal wirklich den Anschein hat), sondern, um ihn sicher nach Hause zu bringen. Noch klarer ausgedrückt: Ich muss verstehen, dass es sich bei Gottes Geboten um Manifestationen seiner Liebe handelt. Im Idealfall bedeutet das, die Gebote Gottes lieben zu lernen. Nun ist es aber gar nicht so einfach, Gott wirklich zu vertrauen, und wirklich und tatsächlich anzunehmen, dass er durch die Einsetzung von Regeln das Leben der Menschen besser, sicherer und schöner machen will. Wie kann man das lernen?