Guerrillakrieg gegen siegreiche Bataillone

Ich liebe britische Dokumentationen. Anstatt die Illusion aufrechtzuerhalten, dass Geschichte aus „Fakten“ bestünde, machen viele von ihnen auf erfrischende und beruhigende Weise deutlich, dass das keinesfalls so ist. Nachdem man dieses Bekenntnis gemacht hat, kann man dramaturgisch recht frei an den Stoff herangehen, Witze machen, „Re-Enactment“, Selbstversuche – es gibt ja keinen Grund mehr, das, was man untersucht, als Gottes Offenbarung zu betrachten. Natürlich ist solch eine Einstellung -eigentlich die einzige, mit der Wissenschaft wissenschaftlich bleibt und nicht ideologisch verhärtet – nicht geeignet, um das Ego der Wissenschaftler, in diesem Falle der Historiker, aufzublähen: Denn nun ist der Historiker wie gesagt nicht Sachwalter göttlicher Eingebung, sondern jemand, der schlussfolgert und von seinen eigenen Prägungen abhängig ist.

Als ich turnusgemäß wieder einmal die obligatorischen sechs Folgen „Kings and Queens of England“ anschaute, stieß ich auf Dokumentationsreihen mit Dr. Lucy Worsley – der Titel „Doktor“ taucht natürlich nur im Abspann auf. Sie führt uns gut gelaunt, hübsch gekleidet, charmant und mit unwiderstehlich rotem Lippenstift durch die Geschichte. Ein derart feminin-selbstbewusst-stilsicherer Auftritt einer deutschen Wissenschaftlerin wäre eine Sensation. Frau muss sich offenbar nicht kastrieren, um ernst genommen zu werden. Aber das nur nebenbei. Eine ihrer Reihen heißt „British History’s biggest fibs“ und behandelt historische (Fehl)konstruktionen. Sie erklärt für jedermann verständlich (jawohl, jeder kann das verstehen!), dass Geschichte nicht in erster Linie aus Zahlen und Fakten besteht, sondern aus Geschichten, und das die erzählt werden von Leuten, die eine Meinung, eine Intention und im schlimmsten Fall auch einen klaren Auftrag haben. Yippieh! Anständige Allgemeinbildung für Alle ist möglich und kommt aus dem traditionell klassenbewussten England, na, das überfordert ja schon wieder Schubladen.

Natürlich ist definitiv eine der wirklich größten und nachhaltigsten „fibs“, Flunkereien, der britischen Geschichte die vom bösen King Richard. Um seine Herrschaft zu legitimieren, hat Henry Tudor alles tun lassen, um Richard III. zu diffamieren und als den Ursupator darzustellen, der eigentlich er selbst war. Durch Shakespeare, „Propagandachef“ der siegreichen Tudordynastie, im Drama unsterblich gemacht, lebt Richard III. also nun als böser König in der kollektiven Erinnerung. Die Macht der „Feder“ über das Schwert, wie the bard himself es ausdrückt, wird hier sehr eindrücklich deutlich. Übrigens genauso wie im Fall Galileo Galilei – in Deutschland kennt kaum jemand die „wahre“ Geschichte – alle kennen Brecht, fact und fiction sind so geschickt verwoben, dass es geradezu aussichtslos ist, sich dem Urteil der Schriftsteller entgegenzustemmen – Aussichtslos? Nicht für echte Briten! Lucy Worsley stellt uns die King Richard III Society vor. Das ist kein Witz. Seit 1924 bemüht sich dieser Zusammenschluss von Menschen, das bösartige Propagandamärchen Henry Tudors zu zerschlagen – gerade auch jetzt mit neuer Verve, da ja der König vor wenigen Jahren unter einem Parkplatz gefunden und endlich würdevoll bestattet worden ist. Über 500 Jahre Antipropaganda zu berichtigen – das Ziel der Richard III Society, die damit zu einem Vorbild aller Katholiken werden muss.

Ich bin natürlich sofort Facebook-Fan geworden. Ganz standesgemäß, wie man es von englischen societies erwartet, ist der Antagonist dieser Gesellschaft die Henry-Tudor-Gesellschaft, die sich empört gegen das Ansinnen der Ricardianer richtet. Sie hat allerdings weniger follower, und damit das so bleibt, möchte ich Werbung dafür machen, poor Hunchback-Dick zu rehabilitieren (Er hatte übrigens wirklich einen Buckel, jedenfalls suggerieren das die sterblichen Überreste.).

Gerade fiel mir die frisch gelikte Gruppe ins Auge, da sie in pathetisch-dramatischer Manier moniert, dass Shakespeares Richard III in Leicester Cathedral aufgeführt werden soll – das ist, als ob man „Der Stellvertreter“ im Vatikan aufführen würde – eine antiriccardianische Schmierenkomödie, erfunden, um den Nachfahren eines Kammerdieners den Anstrich von Blaublütigkeit zu verleihen, am Grab des verhöhnten und verleumdeten Plantagenets – nicht mit uns!, sagt die Richard III Society.

Das liebe ich an den Briten: Sie sind so emotional! Die ganze Fassade der Förmlichkeit dient einfach nur dazu, das Land vor Chaos oder italienischen Zuständen zu bewahren. Man stelle sich vor, Richard III-Fans und Henry Tudor-Anhänger träfen sich in Verona? Blutvergießen wäre vorprogrammiert! Vielleicht hat Shakespeare auch bloß als Ventil die Leidenschaftlichkeit seiner Nation nach Italien wegprojiziert… Wie dem auch sei, jedenfalls wurde nun fälschlicherweise kolportiert, die Society unterstütze ein derart perfides Ansinnen, was die Social-Media-Präsenz derselben nun vehement dementiert, die im Gegenteil ihr Entsetzen darüber zum Ausdruck bringt, dass es solch infame Pläne gibt.

Ich finde es unfassbar rührend, süß, tapfer und präraffaelitesk heroisch, dass sich diese Society mit Leidenschaft und ohne einen Funken Selbstironie für diesen geächteten und verfemten König einsetzt. Während man geneigt ist, dies für eine Sisyphosarbeit zu halten, während man das vielleicht ein wenig belächelt, weil hier jemand das „Prinzip“ und Fairplay hochhält, es wagt, William Shakespeare und 500 Jahre misrepresentation herauszufordern, ist es doch eigentlich die gebührende Haltung für die Nachkommen der Untertanen eines Richard III. Der Sohn seines Nachfolgers hat der Jungfrau Maria ihre Mitgift geraubt – Mary’s Dowry, katholisches Ureigentum sozusagen, ist ein Beiname Englands. Die Tudors haben das Land, dessen Missionare Deutschland unter Mühen und Martern in den Schoß der Kirche geholt haben, von Rom getrennt. Allein deshalb muss ich mit dieser eigentümlich britischen Gesellschaft sympathisieren. Sie gibt uns Mut im Fatimajahr: Menschen manipulieren die Geschichte, aber wir müssen uns das nicht bieten lassen! In den Worten des Gründers: „In my view historical belief must be founded on facts where possible and on honest conviction“. Sapperlot!

History may be rewritten. Und selbst, wenn das nicht passiert, so kann man wenigstens dafür sorgen, dass die eigene Lesart, die eigene Geschichte unter den vielen Geschichten, eine Stimme bekommt und gehört wird. Wir müssen nicht zulassen, dass die Welt Luther zum Helden stilisiert, die katholische Kirche des Mittelalters als düstere Folterkammer darstellt, überhaupt den blühenden Frühling Europas als „finster“ charakterisiert; dass die Öffentlichkeit Entklärung und Dissoziation zur „Aufklärung“ stilisiert, Opfer der Französischen Revolution totschweigt oder Pius XII. diffamiert. „Wehrt euch!“ ruft uns von der anderen Seite des Ärmelkanals eine kleine, beinahe gallisch anmutende Garnison tapferer Recken für justice, propriety and honour zu. 2017 kann uns neuen Elan verleihen – Fatima hat schließlich Europas Geschichte mitgeschrieben und Gott auch als Herrn der Geschichte verkündet.