Herbstliche Reformationsimpressionen

An meinem neuen Wohnort laufe ich jeden Tag an einer Lutherstatue vorbei. Sie ist mit Versen geschmückt. Da ist einmal die unvermeidliche „Hier stehe ich“-Sentenz (logisch, eine Statue kann sich ja auch schwerlich selbstständig fortbewegen), sowie ein Psalmvers, dessen Verwendung in Luthers Kontext uns irgendwie zu den Wurzeln des reformatorischen Übels führt. „Ich rede von deinen Zeugnissen vor Königen und schäme mich nicht“. Das Verhängnis in a nutshell. Der WITZ an der Sache ist doch, dass niemand die „Könige“ fester im Sattel montiert hat als Luther und seine Erben. Es ist dem denkenden Menschen ein Mysterium, wie es der Protestantismus 500 Jahre lang geschafft hat, entgegen jeder Faktenlage Eigenschaften, die er nicht besitzt, als originäre Erfindung darzustellen. Würde man heute fragen, was Protestanten mit der Reformation verbinden, dann würden sie wahrscheinlich alle ungefähr sagen „Irgendwas mit Freiheit“. Dabei spricht nicht nur die evangelische Theologie dem Menschen die Freiheit in entscheidenden Punkten ab, die Organisation der (klassischen europäischen) evangelischen „Kirche“ macht diese zu einem Instrument des Staates. Ist es schon für die katholische Kirche stets ein Drahtseilakt gewesen, in mit ihr sympathisierenden Staaten Handlungsfreiheit und Widerstandsfähigkeit zu erhalten, sich nicht vereinnahmen zu lassen, so ist es dem Protestantismus von seiner inneren Verfasstheit her unmöglich, sich dem Staat, so er reformiert ist, zu widersetzen: Denn das Staatsoberhaupt ist auch Oberhaupt der „Kirche“. Natürlich kann ein Individuum immer noch gegen die eigene Doktrin widerständig sein, aber es liegt eben im Wesen des sich auf Luther berufenden Protestantismus, dem Staat unterworfen zu sein. Im calvinistischen / reformierten Raum wird diese Tendenz noch einmal übertroffen durch einen immer wieder einmal auftretenden Hang zur Bildung von „Gottesstaaten“, zu naturgemäß eher kleinen Einheiten, in denen zwischen Staat und religiöser Gemeinschaft gar nicht mehr unterschieden werden kann. Dass die besagte Lutherstatue nun gerade Luther darstellt als unabhängig und unnachgiebig gegenüber der weltlichen Macht, wäre also eine Lachnummer, wenn es nicht so tragisch wäre. Hätten die Fürsten nicht erkannt, vielleicht mit mehr Glück als Verstand, dass ihnen die kruden Ideen eines skrupulösen und neurotischen Mönchleins im Ringen mit Kaiser und Papst zu Hilfe kommen würden, selbiges Mönchlein hätte lange hämmern und herumstehen und Zeugnis geben können, es hätte niemanden interessiert.

Nachtrag: Pünktlich gegen Höhepunkt des rauschenden Reformationsjubiläums werden hier übrigens sehr schmackhafte „Lutherbrötchen“, hierzulande ein krapfenartiges Gebäck, verkauft. Was die EKD noch begreifen muss, die Bäckerinnung weiß es: Die Reformation ist gegessen.