Begriffismus

Wenn ich mir so ansehe, wie sich unser Leben entwickelt, frage ich mich, wo eigentlich der gute alte Individualismus hin ist, über den man sich als Christ früher so schön aufregen konnte. Mittlerweile freue ich mich über jeden echten Individualisten, dem ich begegne, denn diese Spezies kann man mit der Lupe suchen. Tatsächlich leben wir im post-individuellen Zeitalter. Es war doch bis vor nicht allzu langer Zeit en vogue, etwas Besonderes zu sein – mittlerweile ist es dagegen von ungemeiner Wichtigkeit, zur Norm zu gehören.

Da niemand voll und ganz der Norm entspricht, wird der Einfachheit halber alles, was existiert, zur Norm erklärt – was den Begriff natürlich ad absurdum führt. Der Witz ist, dass diese Entkleidung des Menschen von seiner Persönlichkeit auf eine Übersteigerung des Individualismus zurückzuführen ist: Jegliche Struktur sollte aufgebrochen werden um die ganzheitlichere Entfaltung des Einzelnen zu ermöglichen. Resultat sind Strukturen, die sich gar nicht mehr aufbrechen lassen. Jeder ist gefangen in seiner Filter-Bubble, seinen Wahrnehmungsgrenzen, letztlich gefangen im Zwang, sich auszuleben. Du hast so und so zu sein, diktiert, ja, wer eigentlich? Vor einiger Zeit wurde auf einem Werbescreen der BVG ein Aufruf zum Kampf gegen Rassismus gezeigt. Vor rotem Hintergrund hieß es u.a. „Wir sind viele.“ Als ich das las, lief mir tatsächlich ein Schauer über den Rücken. Ich weiß nicht mehr, was da sonst noch stand, aber dieses drohende „Wir sind viele“, Warnung für die, die wagen, anderer Meinung zu sein, aber auch Warnung an den Mitläufer und Opportunisten, sich vorzusehen, auf welcher Seite man landet, ist mir eindrücklich geblieben („Pazifistisch alle Nazis erschießen“, nennt eine Freundin von mir übrigens dieses Phänomen der aggressiven Antiaggression.).

Es gibt kein Individuum mehr, das über einen Sachverhalt wie Rassismus differenziert nachdenken kann, das Befindlichkeit und Intention einrechnet, denn wenn man das tut, läuft man Gefahr, den „Vielen“ in die Quere zu kommen. Richtig und falsch waren noch nie so leicht zu erkennen: Klimaschutz ist gut, Geburtenkontrolle ist gut, Antirassismus ist gut, Feminismus ist gut, Inklusivität ist gut. Das führt uns zur Einsicht, wer heute bestimmt, wo es lang geht: Nicht das Individuum, sondern der Begriff ist Diktator unserer Zeit. Wichtig ist nicht, ob inhaltlich Gutes vekündet wird, sondern, dass als gut deklarierte Begriffe verwendet werden. Wenn ich das Label „antirassistisch“ auf etwas draufklebe, ist ganz egal, was drin oder dran ist, die Sache muss gut sein und verpflichtet daher zu Anhängerschaft. Kritisches Nachfragen kommt dem Anschluss an die gegenteilige Idee gleich.

Im Diskurs äußerst sich dieses Phänomen darin, dass Menschen nicht mehr wahrgenommen werden als Personen mit eigenem Werdegang und komplexen Lebenswelten, sondern nur noch als Exponenten einer Ideologie. Man ist homophob oder antirassistisch, freiheitlich-demokratisch und inklusiv. Man existiert nur noch unter Labels, die im Grunde über die wahren Beweggründe und Triebfedern unseres Handelns überhaupt nichts aussagen können. Ich empfinde es als degradierend, in den Augen anderer nur Vertreter einer Ideologie oder Idee zu sein, so, als seien nicht wir die, die Ideen haben, sondern als würden die Ideen uns hervorbringen.

Diese Haltung ist das Gegenteil von dem, was uns eigentlich vorschwebt, wenn wir Begriffe wie „Humanität“ oder „Humanismus“ verwenden, und es ist perfide, dass diese Begriffe durchweg ihrer eigentlichen Bedeutung beraubt werden!