Das Stundengebet – Gemeinschaft wiederentdecken

Natürlich ist das Stundengebet nicht verpflichtend für Laien. Es ist aber dennoch gut, es kennenzulernen und zu beten. Wenn ich so mit Katholiken landauf, landab spreche, dann bemerke ich zwei Defizite unterschiedlicher Natur: Die bekennenden Katholiken (man verzeihe mir die Tautologie 😉 ) leiden häufig unter Vereinzelung. Sie möchten ihren Glauben leben, aber weil der Glaube ein gemeinsamer ist und Gemeinschaft sucht und braucht, ist es eine große Last, allein zu stehen, oft unter großem persönlichen Aufwand versuchen zu müssen, etwas aufzubauen, das dann häufig an kleinlichen Widerständen oder mangelndem Engagement anderer scheitert. Die deutsch-säkularen „Katholiken“ dagegen haben gar kein Gebetsleben und auch keine Ahnung, dass sie als Glieder der Kirche in einer Gemeinschaft der Heiligen stehen (sollen). Für beide Nöte bietet das Stundengebet eine Kur.

Es ist bezeichnend, dass die Existenz dieses Gebets den meisten Menschen, auch den meisten Katholiken, unbekannt, das Wesen unverständlich ist. Der eine oder andere mag vielleicht noch etwas mit dem Begriff Vesper anfangen können und mit einem Abendgebet identifizieren, auch Laudes ist vielleicht noch ein Begriff. Wer öfter mal in einem Kloster eine Auszeit macht, betet die Gebetszeiten auch mit, versteht sie aber meistens in ihrer Struktur und Aufgabe trotzdem nicht. Z.B. sind auch die Gebetszeiten in Taizé eigentlich einfache Stundengebete. Als ich einmal mit meinem Diurnale (das ist das Gebetbuch, das die sieben Horen des Tages enthält, also Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet) überrascht wurde, fragte die Freundin, ob ich die Bibel läse. Ich verneinte und wurde folgerichtig gefragt, was ich da machte. Ich musste schmunzeln, denn als ich der betreffenden Person antwortete, dass ich das „Stundengebet bete“, textete diese mich völlig unbeeindruckt weiter zu – offensichtlich war „ich bete“ kein Anlass, mich dieser Tätigkeit zu überlassen: Dass jemand wirklich betet, mutet offenbar geradezu virtuell an.

Warum nun soll man sich die Mühe machen, eine unüberschaubare Menge verschiedenfarbiger Bändchen nach einem mysteriösen System geordnet in ein dickes Buch einzulegen?

  • Das Stundengebet ist nicht irgendein Gebet, es das und das eigentliche Gebet der Kirche. Selbst, wenn man nur eine der Horen  betet, klinkt man sich in dieser einen Gebetszeit ein in die zeit- und raumübergreifende Gemeinschaft der Heiligen. Man betet gemeinsam mit der ganzen Kirche, stellt die Kirche, die Welt und sich selbst vor Gottes Angesicht.
  • Das Stundengebet steht in der Gebetstradition des Alten Testaments: Es besteht vor allem aus Psalmen, dann aus Liedern, aus (wenig) Lesung und verschiedenen Gebeten. Damit wird uns die Verwurzelung im Judentum bewusst und wir lernen, mit Gottes Wort selbst zu beten. Das hat zur Folge, dass wir uns Gottes Gebetsworte zu eigen machen. Wir treten also aus unserer eigenen begrenzten Sprache und Gebetswelt und lassen uns von der heiligen Schrift bereichern. Wenn Paulus sagt, dass wir „nicht wissen, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt“, dann lehrt uns das Gebet der Kirche genau das. Wir lernen auch, dass unser kleines persönliches Gebet am besten aufgehoben ist, wenn wir es in den größeren Kontext der ganzen Kirche stellen: Wir alle sind Glieder eines Leibes und stehen füreinander ein.
  • Das Stundengebet zu beten, macht uns unsere Eigenschaft als Freunde Gottes und Miterben Christi besonders deutlich: Schließlich beten wir die Psalmen mit und in Christus. Wie sonst könnten wir etwa Jesu Leidenspsalm beten, oder die Bitten um Rache gegenüber den Feinden? Das kann man nur, wenn man es in Gemeinschaft mit Christus betet. Es geht nicht darum, irgendwelchen persönlichen Feinden (die wir ja lieben und für die wir beten sollen), Kohlen aufs Haupt zu wünschen, sondern den wahren Feind Christi geistlich zu bekämpfen. Das Stundengebet zeugt also auch von unserer Hoheit als Kinder Gottes.
  • Das Stundengebet ist losgelöst von räumlicher Organisation. Man kann allein oder mit Freunden beten, wo immer man will. Und obwohl die Horen natürlich am Tageslauf orientiert sind, kann man die Gebetszeiten an den eigenen Lebensrhythmus anpassen. Es verbindet uns immer mit jenen, die gerade irgendwo auf diesem Erdenrund genau die Hore mit uns beten, die auch wir gerade beten. So wird man sich bewusst, dass man als Christ nicht allein steht, auch, wenn es gerade so aussehen sollte. Unsere Verbundenheit mit der Kirche wird gestärkt.
  • Mit dem Stundengebet heiligt man den Tag: Man macht sich bewusst, dass alle Zeit Gottes Zeit ist und sein soll. In meinen „guten“ Phasen, wenn ich wirklich viele oder gar alle Horen (bis auf die Matutin) bete, dann ergibt sich, dass ich nicht das Tagesgeschäft unterbreche um zu beten, sondern dass das Tagesgeschäft aus dem Gebet hervorgeht. Es ist dann um ein Vielfaches produktiver und erfüllender, weil ich aus dem Gebet die Kraft und die Motivation schöpfen kann, zu arbeiten. Natürlich halten diese Hochphasen bei mir nie länger als ein paar Tage an, und dann kommen auch wieder solche, in denen ich mich so gar nicht aufraffen kann. Aber wann immer ich es schaffe, werde ich beschenkt mit ungeheurem Reichtum im Gebet. Man behält sozusagen das Himmelreich immer ein wenig im Blick, während man vor sich hin lebt.
  • Wir erleben den ganzen Reichtum des liturgischen Jahres mit all seinen Festen und Besonderheiten.

Nebenbei: Ich bevorzuge die außerordentliche Form des Stundengebetes, in der sich die Vielfalt und Schönheit des liturgischen Jahres erst so richtig entfaltet: Mit den Bitttagen, den Quatembern, den Vigilien und Oktaven, mit zahllosen Heiligenfesten, Kommemorationen, kleinen Besonderheiten, die die jeweilige liturgische Zeit auszeichnen und kostbar machen. Zugegeben: Es erfordert etwas Zeit, sich einzuarbeiten, und ich habe am Anfang viele Fehler gemacht – was ja kein Drama ist. Aber es ist auch einfach wunderschön, man entdeckt so manchen Heiligen und erschließt sich vor allem auch das Bewusstsein, dass wir als Erlöste leben dürfen und daher eine Grundhaltung des Christen die des Feiernden ist. (Natürlich bete ich auch einfach lieber auf Latein, um der Schönheit und poetischen Nüchternheit der Sprache willen, aber da das Diurnale zweisprachig ist, ist es auch kein Problem, deutsch zu beten, zumal ich die Übersetzung auch oft brauche, schließlich kann ich offiziell gar kein  Latein.)

  • Das Stundengebet ist ökumenisch, abgesehen von der marianischen Antiphon zum Tagesschluss. Da es vor allem aus Alten Testament schöpft, ist es besonders gut geeignet, um mit Protestanten gemeinsam gebetet zu werden – mit einem pädagogischen Nebeneffekt: Der immer noch populäre Vorwurf, Katholiken hätten es ja nicht so mit der Bibel, würde schnell zerstört, wenn Protestanten wüssten, dass die Kirche jeden Tag sieben Mal (und dazu nachts) den Herrn anruft, wie es bereits die Schrift bezeugt, und dass in diesen Gebetszeiten der Psalter der vornehmste Gebetsschatz ist. Bloß: Da die Katholiken dies selbst gar nicht mehr wissen, ist dies natürlich auch schwer zu vermitteln. Im Stundengebet kann es nicht zu liturgischen Übergriffen kommen und auch nicht zu liturgischer „Ausgrenzung“.

Mein Pro-Tipp: Man bestelle sich bei der Petrusbruderschaft kostenlos (Spende erbeten )das kleine Büchlein „Komplet für alle Tage“. Es ist quasi selbsterklärend und man hat auf Latein und Deutsch das Nachtgebet der Kirche übersichtlich und praktikabel betbar (und sogar singbar) vorliegen. Meiner Ansicht nach kann man mit der Komplet am unkompliziertesten einsteigen. Natürlich kann man sich auch ein benediktinisches oder sonstiges Brevier besorgen, wenn man das lieber mag.

Ansonsten kann man einfach schauen, was einem am meisten liegt. Wenn ich wieder in Fahrt kommen muss, fange ich z.B. gerne mit der Sext, dem Mittagsgebet, oder anderen kleinen Horen an. Denn die hat man auf Latein in unter 10 Minuten gebetet, während der innere Aufwand für eine Laudes „deutlich“ höher ist. Anderen hilft es vielleicht, den Tag mit den Laudes zu beginnen. Natürlich hält sich in Wirklichkeit bei allen Gebetszeiten der Aufwand in Grenzen, aber fast jeder kennt ja den inneren Schweinhund, der manchmal eine Kleinigkeit auftürmt, als sei es der Mount Everest.

Das Stundengebet ist ein unermesslicher Gebetsschatz, den man sich nicht entgehen lassen sollte!