Liebe und wertkonservative Ladehemmung

Es ist nicht gut, Facebook zu öffnen, bevor man seinen ersten Kaffee getrunken hat. Ohne den ersten Kaffee ist man gegen diese Büchse der Pandora einfach noch nicht gewappnet. Im konkreten Fall fiel mir ein Tagebucheintrag des Publizisten Klaus Kelle ins Auge, der fragt, ob Gott wirklich von uns wolle, dass wir auch Mörder, Vergewaltiger etc. lieben sollten (konkret geht es natürlich vor allem um solche, die zugereiste Mörder und Vergewaltiger sind). Er beantwortet die Frage überraschenderweise mit „Ich glaube nicht.“ Ich muss sagen, es ist schon eine Weile her, dass mich ein Text derart entsetzt hat (nebst dazugehörigen Kommentaren, aber wahrscheinlich wie gesagt nur, weil der Kaffee fehlte, der meine Nieren mit einer schwarzen, duftenden Schutzschicht auskleidet, die vor allzu viel Betroffenheit schützt.). Einschränkend möchte ich fairerweise darauf hinweisen, dass es sich um einen Eintrag in der Rubrik „Tagebuch“ handelt, also um einen Artikel, der in der ohnehin persönlichen Atmosphäre des Formats „Blog“ nochmals persönlicher ist. Mein Entsetzen bezieht sich explizit nicht auf die Frage, sondern auf die Antwort.

Mein ohnehin angeknackstes Vertrauen in das Milieu, das man als „christlich-bürgerlich“ bezeichnen kann, nimmt angesichts solcher Bekenntnisse rapide ab. Konservatismus hat es derzeit schwer, nicht vom Rechtspopulismus aufgefressen zu werden, christlicher Konservatismus führt einen Dreifrontenkrieg gegen so ziemlich alle. Deshalb habe ich beschlossen, mich auf die Insel „Reaktion“ zurückzuziehen und den Konservatismus nur, wenn auch sehr wohlwollend, zu beobachten. Vielleicht ist es feige, ich empfinde es im Augenblick als klug – zumal wenn ich dann solch einen Blogeintrag lesen muss.

Was ist hier so fürchterlich falsch? Sicher, Kelle bezieht sich auf eine Predigt, die er gehört hat, und die bereits ein falsches Verständnis von „Liebe“ vermuten lässt. Dieses gehört natürlich revidiert. Liebe bedeutet nicht, gutzuheißen, was jemand tut, sie bedeutet nicht, tatenlos zuzusehen, wie jemand anderen oder sich selbst schadet. Im Gegenteil. Wie jeder weiß, der Kinder erzieht oder selbst erzogen worden ist, bedeutet Liebe mitunter auch Strenge, Konsequenz, und sie ist auch nicht mit „angenehmen Gefühlen“ gleichzusetzen. Allerdings erwarte ich von gebildeten katholischen Christen, dass sie über diese Tatsache nicht einmal mehr nachdenken müssen. Dass Liebe mit dem weichgespülten, laschen, lauwarmen, egozentrischen und bequemlichen Liebesbegriff der Mehrheitsgesellschaft nichts zu tun hat, sollte doch völlig selbstverständlich sein für einen Menschen, der mindestens des Sonntags Zeuge des Kreuzesopfers ist und sieht, was Liebe tatsächlich bedeutet!

Nun wäre es also ein Leichtes gewesen, den Liebesbegriff zu berichtigen und dann aus vollem Herzen zu bekennen: Ja. Auch die Mörder, Vergewaltiger und Machetenmetzler müssen wir lieben. Ich habe kein Problem mit Zweifel daran, ob dies möglich ist – sehr wohl aber mit der Ansicht, es sei nicht nötig. Sicher sind wir schwach, sicher wissen wir oft gar nicht, wie sich diese Liebe äußern könnte oder sollte, oder wie wir sie überhaupt ins uns nähren können. Liebe ist auch nicht abstrakt, deshalb ist es auch irgendwo schwierig, von der Liebe zu jemandem zu sprechen, mit dem wir nichts zu tun haben. Allerdings gibt es eine Art von „Zweifel“, die gar nicht nach einer Antwort auf das Problem sucht, sondern sich intellektuell selbstgefällt darin, im Zweifel zu sein.

Sehen wir aber auf Christus, verstehen wir, dass Gott, der die Liebe ist, uns auch eine Antwort gibt: Indem wir als Christen Teil seines Leibes sind, haben wir Anteil an Christus, Anteil an Gott, Anteil an der Liebe schlechthin. Und damit ist es uns auch möglich, sogar durch ein sehr einfaches Mittel, mit unserer Liebe auch die zu erreichen, die weit weg von uns sind, die wir nicht kennen, die wir nicht mögen: Durch das Gebet. Papst Johannes Paul II. hat seinen Attentäter besucht, ihm vergeben: Er hat geliebt bis zur Vollendung. Wir können einen Zugschubser nicht besuchen, aber wir können für ihn beten: Dass er bereue, sich bekehre, sich bessere. Dass die Gottesmutter ihn zur Bekehrung führe. Dass der Heilige Geist ihn erleuchten möge, damit er seine Taten erkennt und sich Gottes Liebe anempfiehlt. Dieses Gebet ist Ausdruck unserer Liebe, vermehrt sie zugleich und beugt Hass vor. Dieses Gebet und diese Liebe bedeuten nicht im Geringsten, dass man die Tat kleinrede, sich nicht darüber empöre, nicht wütend, zornig, traurig, hilflos wäre, nicht versuchen sollte, solche Taten zu verhindern oder Täter zu bestrafen.

Wie gesagt: Eine skizzenhaft-nachsinnend aufgeworfene Frage ist für mich Anlass für klaren Widerspruch, aber ja doch legitim. Nicht legitim ist die Pervertierung des Evangeliums, derer sich manche Kommentatoren erdreisten. Da wird munter mit dem Begriff der Nächstenliebe hantiert und verdreht, der Nächste sei doch der, der mir nahe ist, sei nur der , der Hilfe braucht, etc. Da wird sogar behauptet, Gott selbst liebe gar nicht jeden. Es werden ohne Kontext Bibelstellen zitiert, in denen aufgerufen wird, besonders die Glaubensgenossen zu lieben – was ja keineswegs bedeutet, man solle die anderen nicht lieben. Meine Überzeugung, dass Bibellesen gefährlich ist, weil lesen und verstehen zweierlei Dinge sind, hat sich hier einmal wieder bestätigt (dazu nun auch endlich demnächst ein Artikel, diese Kommentare haben mich nun wirklich aufgestachelt, das einmal in Worte zu bringen).

Hier zeigt sich, was passiert, wenn Christentum missverstanden wird als Garant unserer bequemen Spießigkeit. Normalerweise krieg ich ja die Krise, wenn ich irgendwo das Wort „jesuanisch“ höre, aber hier wäre es wichtig, das einmal einzubringen: Christentum ist die Religion, die Jesus bekennt, den Mann, der großes Verständnis für unsere Lauheit hat, aber der sie uns trotzdem austreibt. Spätestens mit dem Blick auf seine Wunden kann niemand mehr davon ausgehen, es ginge um Sicherheit und Wohlstand. Christentum ist keine Komfortzone und ich kann es mir nicht zurechtschneiden auf meine Fähigkeiten, Bedürfnisse und Wünsche. „Bis hierhin und nicht weiter“ ist nichts, was ich Jesus zurufen kann, wenn er von mir bedingungslose Nachfolge erwartet.

Tatsächlich steht diese Verkürzung des Glaubens auch im Dienste einer Art Selbstrechtfertigung: Wenn ich es nicht schaffe, meinen Mörder-Nächsten zu lieben, dann kann es eben gar nicht notwendig sein, dies zu tun. Wenn ich an die Grenze des Glaubens komme, muss er eben dort aufhören. Grundlage solcher Gedankengänge ist also ein gewisser Unwille, die eigene Sündhaftigkeit und Schwäche einzugestehen. Es ist haargenau die Haltung des Pharisäers, der sich aufgrund seiner kleinen Selbstgerechtigkeit in der Gnade wähnt. Wir haben hier also nicht nur eine Verdunklung des Evangeliums, nicht nur eine Verbürgerlichung der Religion, die ihre Wirkmacht eingrenzt, wir finden hier eine Haltung vor, die auf geistlicher Ebene verhängnisvoll ist: Denn wir sehen doch an vielen Heiligen, zu welcher Größe die Gnade uns treibt, wenn wir nur erst zulassen, unsere eigene Niedrigkeit immer mehr einzusehen und anzunehmen.

Wenn wir fragen, „Will Gott, dass wir wirklich jeden lieben, egal, was der tut?“, dann antwortet Christus vom Kreuz aus: Ja. Liebe tut weh.