Was Inkulturation ist und was Europäer gern draus machen würden.

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Im Zuge der Amazonassynode geht es viel um „Inkulturation“. Mir scheint, dass im Dialog nicht völlig klar ist, was das bedeutet, und dass hier Klarheit geschaffen werden müsste.

Als ich noch evangelisch war, blickte man naserümpfend auf die Katholiken, deren Vertreter in Übersee seltsame Rituale aus vorkolonialer Zeit, wilde Mischungen aus Vodoo und Katholizismus praktizierten. Natürlich galt mir auch der Katholizismus selbst als durch heidnische Bräuche korrumpiertes Christentum. Man kann sagen, 500 Jahre reformatorische Fake News hatten bei mir ganze Arbeit geleistet.

Tatsächlich beruht das Christentum ganz wesentlich auf Inkulturation – das Eintreten der Selbstoffenbarung Gottes in die Lebenswelt jedes Einzelnen, jeder Gemeinschaft und jeder Gesellschaft. Das war von Anfang an so und war immer ein Prozess, der allerdings durchgehend von intellektuellem Diskurs, Streit und Beratung begleitet war. Schon in den Briefen des Neuen Testaments finden wir Erörterungen darüber, wie das Evangelium aufgenommen und angenommen werden soll, was unverhandelbarer Glaubenskern ist und was nicht. Traditionen, die übernommen werden können, dürfen nicht in ihrem Wesen dem Evangelium widersprechen, und sie müssen fest im Glauben an Christus verankerbar sein.

Und nun kommt ein komplexes Geflecht von Fake News zum Zuge: Es wird davon ausgegangen, dass Mission vergangener Zeiten grundsätzlich von einer europäischen Überlegenheit ausgegangen sei und anderen Völkern die europäische Art, das Christentum zu leben, übergestülpt habe. Dies soll legitimieren, dass Indigene ihr Christentum ganz anders leben dürfen sollen. Die Sache ist: Klar dürfen sie das, nur dürfen sie eben nicht (jedenfalls nicht als Christen) etwas anderes als das Christentum leben und dies „Christentum à la indigen“ nennen.

Nun ist eben schon die Annahme, dass der katholische Missionar sich als kulturell überlegen gesehen habe, falsch. Tatsächlich hat der europäische Missionar einen Schatz, der ihn anderen überlegen macht: Das Evangelium. Er hat die Wahrheit und das ewige Leben im Gepäck, und diese beiden Dinge haben die Missionierten noch nicht. Missverständnis Nr.1 ist nun, dass der Missionar sich und sein Volk nun für besser hielte, weil er diesen Schatz habe. Nun kann ich für die persönliche geistliche Reife eines jeden Missionars keinesfalls sprechen, aber historische Zeugnisse und auch das, was ich heute von Missionaren höre, legt nahe, dass das im Allgemeinen nicht der Fall war und nicht der Fall ist. Im Gegenteil, man liest mitunter davon, dass die Missionare den Glaubenseifer der Neubekehrten oder auch den „natürlichen“ Edelmut der Nichtchristen als vorbildhaft herausgestrichen haben, auch mit pädagogischer Absicht gegenüber den Europäern: „Schaut mal, diese Leute sind nicht einmal getauft, aber sie folgen dem Gesetz des Gewissens und bringen zum Teil bessere Früchte als ihr, obwohl ihr doch alle Gnadenmittel habt.“ (Ob das so war, kam natürlich auf die spezifische Kultur an, manchmal war man natürlich auch entsetzt über die Grausamkeit einer Kultur.). Ein katholischer Missionar ist eben nicht Gesandter eines Volkes oder einer Kultur, sondern Gesandter Christi.

Er kommt also nicht als Ursupator, sondern als Diener und – als Befreier. Und genau so wurden Missionare auch wahrgenommen, als sie unumwunden das Evangelium predigten. Der Missionar hat von der Pflicht befreit, Menschenopfer zu bringen, vom Brauch, Witwen zu verbrennen, davon, Frauen rituell zu prostituieren, fatalistisch an ein undurchsichtiges Schicksal zu glauben, oder als Mitglied einer niedrigen Kaste oder kastenlos weniger Würde zu haben als ein Tier (und natürlich haben Missionare auch versucht, die Völker, die ihnen anvertraut waren, vor der Willkür machtbesessener Europäer zu schützen, leider meist mit mäßigem bis nicht existentem Erfolg). Dennoch war Mission keine Einbahnstraße, auf der nur der eine diktiert, was der andere zu unterlassen habe: Missionare haben die Sprachen und Traditionen der Völker, zu denen sie gesandt wurden, aufgezeichnet und studiert. Sie haben sie auch von Anfang an übernommen, weil sie eben wussten, dass man, wenn man Menschen das Evangelium verkünden will, dies sowohl verbal als auch nonverbal in der „Sprache“ tun muss, die die Menschen verstehen. Und: Sehr viele Missionare sind getötet worden, weil ihre Botschaft nicht angenommen wurde.

Das Überlegenheitsdenken der Europäer gab es aber natürlich tatsächlich – bloß eben nicht in „wirklich“ katholischen Kreisen: Die Franzosen etwa legten großen zivilisatorischen Eifer an den Tag, waren aber ja auch schon insbesondere seit der französischen Revolution gewöhnt, die Welt mit ihren Irrtümern zu überziehen. Für das 19. Jahrhundert bedeutete das, dass man als Franzose im Ausland der große Katholik war, wenn man mit diesem Anspruch Macht gewinnen konnte, während man daheim Klöster auflöste und Geistliche schikanierte. Die zweite große Kolonialmacht des 19. Jahrhunderts, die Briten, waren die großen anglozentrischen Kulturbringer, was allerdings vor allem damit zusammenhängt, dass sie nicht katholisch waren: Es gehört zu einer Grundkrankheit des Protestantismus, sich als geistig überlegen zu empfinden und dies durch eine Reihe von Mythen zu stärken: Wer legte in Europa Wert auf Bildung? Natürlich erst die Reformation (woher kamen denn dann die großartigen Kulturleistungen aus Klöstern und Universitäten? Egal, der Mythos zählt). Wer war (und ist) modern, fortgeschritten, emanzipiert etc.? Nachdem Protestanten mit diesem Blödsinn zwei Jahrhunderte lang Europa verpestet hatten, inklusive zerstörerischer Kulturkämpfe und Bilderstürme, lässt sich ja nicht annehmen, dass sie diese arrogante Attitüde nun außerhalb Europas ablegen würden. Warum auch. Man bedenke z.B., dass das wichtigste Marienbildnis Englands, Our Lady of Walsingham, durch Protestanten zerstört wurde – wer mit der eigenen Kultur so umgeht, wird wohl kaum andere Kulturen höher achten, oder?

Überdies bedeutete protestantische Mission tendenziell politische Mission, weil ja der Herrscher eines Landes auch kirchliches Oberaupt war. Ich will damit nicht behaupten, katholische Herrscher hätten Mission nicht politisch ausgenutzt, und ebensowenig, es habe keine uneigennützige, auf die Seelenrettung fokussierte Mission unter Protestanten gegeben – ich weise nur auf den qualitativen Unterschied hin: Katholische Herrscher mussten Mission (unrechtmäßig) vereinnahmen, also zweckentfremden, evangelische Mission war, zumindest strukturell, bereits vereinnahmt (so sie nicht von kleinen, unabhängigen Gemeinschaften ausging). Über die preußische Haltung muss man nicht reden, „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“, sagt alles, und gemeint ist nicht das Deutschland der hl. Elisabeth oder des Thomas von Kempen, sondern das Deutschland Bismarcks. Zudem lehnt Protestantismus in seiner Buchstabengläubigkeit das Wesen der Inkulturation tendenziell ab (obwohl er sie selbst praktiziert, aber das kennen wir ja. Unlogisch by nature.). Die konsequenteren Protestanten lehnen ja bis heute selbst Weihnachten als heidnisches Fest ab, feiern dafür aber zum Teil sogar wieder jüdische Feste – ein herrliches Beispiel dafür, dass „biblisch“ und „dem Evangelium gemäß“ sich diametral widersprechen kann.

Die Idee, europäische Missionare seien unsensibel mit indigenen Kulturen umgegangen, beruht also auf falschen historischen Einordnungen, die religiöse und politische Motive nicht ausreichend trennen.

Ein besonders gelungenes Beispiel für echte Inkulturation ist die Jungfrau von Guadalupe. Bereits im 16. Jahrhundert, also keinesfalls als Frucht des Zweiten Vatikanums, hat hier die Jungfrau Maria das Antlitz einer Indigenen angenommen, um im Volk aufgenommen zu werden. Ihre Darstellung ist eine Verknüpfung von indigener mittelamerikanischer und biblischer Symbolsprache. Et voilà, fristet dieses Bild einer Marienerscheinung ein abgeschottetes Leben in einem für Indios reservierten Winkel der Kirche? Nein! Sie wird nicht nur ebenfalls in traditionellen anglo-amerikanischen Kreisen als Königin Amerikas verehrt, sie hat auch den Weg nach Europa zurück angetreten und das europäische Christentum um eine geschätzte Marienerscheinung bereichert. Abgesehen davon ist Guadalupe der meistbesuchte Marienwallfahrtsort der Welt – natürlich ist Mexico bevölkerungsreich, aber das werden wohl trotzdem nicht nur indigene Menschen sein, oder?

Nun sehen wir hier aber auch, wie Inkulturation wirklich funktioniert: Ausgehend von der Wahrheit Christi (bzw. Christus), entwickeln sich Wege, um diese Wahrheit einer Kultur gemäß auszudrücken. Es funktioniert nicht so, dass eine Kultur ihre Tradition dem Christentum beigesellt. Das gibt es zwar auch, heißt aber Synkretismus und ist eine gefährliche Aufweichung und Abweichung von der Glaubenswahrheit.

Womit wir zum dämonischen Twist kommen: Wenn wir von den nun im Tiber versenkten Frauenfiguren hören, niemand wisse, wen oder was sie darstellen, dann bedeutet das meiner Ansicht nach, dass man in der katholischen theologischen Welt zu faul ist, indigene Traditionen auf ihre Kompatibilität mit Christus zu überprüfen. Vielmehr nutzen gewisse Kreise die fehlende philosophische Tradition indigener Kulturen, um befreit vom bereits von Paulus inkulturierten intellektuellen Mief des antiken Griechenlands die Verbindlichkeit des Evangeliums zu verwässern. Ausgehend von der verfälschenden Konstruktion kultureller Sensibilität wird dies dann genutzt, um, auf europäische Verhältnisse projiziert, für europäische unchristliche kulturelle Erscheinungen Akzeptanz einzufordern. Konkret: Wenn etwa behauptet wird, indigene Menschen seien nicht dazu in der Lage, den Zölibat zu erfassen, dann müssen die Europäer an ihrem (mühsam) erlangten Verständnis dafür ja auch nicht festhalten, usw. Dass man dafür das Seelenheil indigener Menschen aufs Spiel setzt, und auch ihr irdisches Leben hoffnungstiftender und heilbringender Einsichten und Gnaden beraubt, das ist wahre postkoloniale eurozentrische Arroganz.