Lebendige Erinnerung, bloß wie?
Am 27. Januar wird der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee gedacht. Die Wochen davor stehen regelmäßig medial voll im Zeichen der Shoah: Zeitungen, Radio, das ZDF, das froh ist, alle Guido-Knopp-Dokus wieder raushauen zu können, alle gedenken, wollen nie vergessen und bekennen sich zu „nie wieder“. Das ist alles ehrenhaft, aber ich stelle mir schon seit geraumer Zeit die Frage, wie unser Holocaustgedenken lebendig und ehrlich bleiben kann. Das scheint dieses Jahr in den Medien eine öfter diskutierte Frage zu sein, weil mit den 75 Jahren Abstand ins Bewusstsein rückt, dass es bald keine Zeitzeugen mehr geben wird.
Für mich gab es ein einschneidendes Erlebnis, das mir zeigte, dass es ein böses Ende nehmen wird, wenn wir mit dem Gedenken so weitermachen wie bisher: Es war während eines Mozartrequiems, das zu einem Holocaustgedenken aufgeführt wurde. Allerdings wurde es nach dem Benedictus von einer zeitgenössischen Komposition eines Israelis unterbrochen, und zusätzlich traten Kinder des Jugendchores, der den Chorpart sang, einzeln auf die Bühne um die Namen von Deportierten aus der Stadt, sowie, falls bekannt, ihr Todesdatum und den Ort ihrer Ermordung zu nennen. Dabei fielen zwei Sachen auf: Die Kinder konnten damit so wenig anfangen, dass die meisten statt Auschwitz „Ausschwitz“ sagten. Ich weiß noch, dass, als dies mal einem Schüler in meiner Klasse passierte, der derart zusammengebügelt wurde, dass sich sicher niemand von uns jemals diesen Versprecher nochmals geleistet haben wird. Anders hier: Ein jüdischer Bürger der Stadt nach dem andern kam also in „Ausschwitz“ ums Leben. Die zweite Auffälligkeit: So richtig wohl fühlten sich bei der Aktion die grauhäuptigen Zuschauer. War es doch ihre Generation gewesen, die im Zuge der 68er ihren opportunistischen, unmoralischen, rückgratlosen, nazistischen Altvorderen die Leviten gelesen hatten. Hach, wie schön, sich in der eigenen Schuld zu suhlen! Als ich Zeuge dieser Instrumentalisierung der Jugend zur Darstellung der eigenen Rechtschaffenheit wurde, war ich noch ziemlich „links“, und sicher war dies ein kleiner Baustein, der mir die heuchlerische, bigotte, ätzende Selbstdarstellung dieser Kreise vor Augen geführt hat.
Damals dachte ich, dass es so nicht weitergehen könne. Es ist ja nicht nur so, dass ein Großteil der deutschstämmigen Kinder niemanden mehr kennenlernen wird, der diese Zeit erlebt hat, immer mehr Kinder haben gar keine deutschen Wurzeln mehr, wie soll man ihnen die Shoah vermitteln als etwas, das sie persönlich betrifft?
Ich selbst bin dabei ein Musterbeispiel gelungener antinazistischer Bildungspolitik. Seit der dritten Klasse (Als Hitler das rosa Kaninchen stahl) wurde mir eindrücklich die deutsche Schuld respektive Verantwortung vermittelt, und für mich ist Holocaustgedenken tatsächlich lebendig und ehrlich. Ich kann darüber nicht abstumpfen, ich will keinen Schlussstrich. Allerdings treffen auf mich auch drei Parameter zu, die nur die wenigsten Deutschen teilen: Erstens habe ich in der Schule zugehört. Zweitens bin ich durch meine halbmigrantische Herkunft besonders patriotisch. Und angesichts der großartigen Leistungen des deutschen Volkes ist es sozusagen Ehrensache, dieses entsetzliche Verbrechen ebenfalls besonders, ja, sogar mehr als vieles andere, in Erinnerung zu behalten. Wenn das deutsche Morden mit besonderer Gründlichkeit geschah, dann muss es auch die deutsche Reue sein. Ich bezweifle, dass ein derartig preußischer Ehrbegriff bei mehr als 5% der Bevölkerung verfängt. Drittens bin ich Christin, und so ist für mich das Morden an den Juden (und jegliches Morden) ein Verbrechen an Brüdern und Schwestern, weshalb Holocaustgedenken für mich auch nie abstrakt war.
Wenn Steinmeier in Jad Vashem eine Rede voller Platitüden hält, in der es heißt, Deutschland stünde hinter Israel, während deutsche Politik und Medien zum Gegenteil tendieren, dann scheint mir das eine heuchlerische Verknöcherung des Gedenkens zu sein. Wir sagen das, und haben damit unsere Schuldigkeit getan, egal, was wir dann konkret tun. Wie soll nun ein solches Verhalten seitens des Staatsoberhauptes (!), als Vorbild taugen?
Ich denke, es wäre an der Zeit für zwei Maßnahmen: Zum einen müsste man die Shoah bildungspolitisch aus der Glasglocke der Einzigartigkeit holen, so schmerzhaft das für viele Juden sein mag. Das ist keine Relativierung, sondern eine Aktualisierung: Armenier, Herero, Opfer der Roten Khmer, die von Japanern und Maos fanatisierten Massen gleichermaßen abgeschlachteten Chinesen, die Ukrainer und viele mehr – es muss klar werden, dass, trotz der „logistischen“ Besonderheit des deutschen Mordens, der Hass des Menschen überall zerstörerisch ist. Er geht türkischstämmige, arabischstämmige und deutschstämmige gleichermaßen an, genauso Amerikaner, Japaner usw. Wenn der Mord an Europas Juden so besonders ist, dass man nicht mehr „rankommt“, dann verfehlt das, bei allem Verständnis für die Furcht vor Relativierung, den Sinn der Herausstellung dieses Verbrechens.
Man muss auch, so schwer es fällt, eingestehen, dass Erinnerung zwangsläufig verblasst. Man kann sich gegen diese Einsicht stemmen, wird dann aber alles verlieren: Wer weiß denn noch, was die eigenen Vorfahren während des Dreißigjährigen Krieges trieben? Die Idee, das Gewesene sei so schrecklich gewesen, dass es für immer lebendig bliebe, scheitert ironischerweise gerade an der Ideologie derer, die sie vertreten: Die marxistisch geprägte Postmoderne kennt eben immer weniger eine Vergangenheit, die bindet und wirkmächtig ist. Für den Katholiken, noch mehr oftmals den Orthodoxen, ist der im zweiten Jahrhundert den Löwen vorgeworfene Mensch genauso unmittelbar nah wie der 1789 oder 1917 ermordete; weil wir eben keine Glasglocken errichtet haben, unter denen wir das Grauen betrachten, sondern weil wir uns selbst als Teil einer ewigen Gemeinschaft verstehen. Wie wäre dies einem Menschen zu vermitteln, der nicht an die Ewigkeit glaubt? Woher käme eine Notwendigkeit des lebendigen Erinnerns, wenn es keine Ewigkeit gibt? Mit dem Tod der Täter erlischt ja dann zwangsläufig die innere Notwendigkeit des Gedenkens und alles, was bleibt, ist ein Schauermärchen, das auch der Leugnung immer er zugänglicher wird.
Am Ende ist doch die Frage, warum wir erinnern. Geht es um die Opfer oder um die Täter? Geht es darum, dass wir uns rechtschaffen fühlen „dürfen“? Ich meine, dass diese versteckte und unbewusste Selbstbezogenheit der größte Hemmschuh dagegen ist, die Gedenkkultur neu auszurichten. „Wir“ wollen zumindest die schlimmsten Schurken bleiben dürfen. Damit werden wir aber die allermeisten Menschen nicht mehr erreichen können: Wir müssen den muslimischen Antisemitismus thematisieren, und neben der klassischen rechtsextremen Judenfeindlichkeit den von Verschwörungstheorien und antiisraelischer Agitation geprägten linken Antisemitismus. Und wir müssen eben deutlich machen, dass Antisemitismus eine besonders perfide, aber nur eben eine von vielen Formen tödlicher Menschenverachtung ist.
Danke für den Mut. Gerade wenn es darum geht, solche Gräuel in Zukunft zu verhindern, muß man sich Deinen Fragen stellen!
Danke!
Liebe Maryofmagdala, viele wahre Worte. Seit ich politisch und historisch denken kann, ist kaum kein Tag vergangen, an dem ich nicht über die Shoah nachgedacht habe, und je älter ich werde, desto schwerer wird die Last auf meinen Schultern, desto weniger abstrakt wird sie.
In letzter Zeit kann ich mich immer weniger des Gedankens erwehren, dass die Gedenkkultur, wie Sie sie m.M.n. ziemlich treffend beschreiben, im Grunde ein eleganter Weg ist, das Grauen und die Verantwortung aus dem Weg zu räumen.
Letzthin hieß es einmal wie so oft, wie es denn mit dem Gedenken weitergehen solle, wenn die letzten Überlebenden verstorben sind. Dann ist immer die Rede vom „Unvorstellbaren“. Ich habe das nie verstanden: was soll an all dem „unvorstellbar“ sein? Nein, das ist alles ziemlich konkret: der Mensch ist nicht von Natur aus gut, und wehe, wenn er unter bestimmten Umständen losgelassen. „Auschwitz“ ist als Floskel ziemlich praktisch, wenn man damit zudecken kann, in welchem Ausmaß Europa kulturell zerstört worden ist. Wer denkt denn noch nach über Städte wie Vilna, Pinsk, Tschenstochau, Lemberg, Czernowitz, Buczacz, Thessaloniki und viele andere nach? Wer kennt schon die Namen? Oder Leute wie Fritz Löhner-Beda, einem der Librettisten, der mit Franz Lehár gearbeitet hat?
Warum denkt niemand darüber nach, dass in der Folge der Nazizeit die frühe Bundesrepublik genau jene homogene Volksgemeinschaft geworden ist, die die Nazis angestrebt haben? All das enteignete Vermögen der Juden, das dann im Wirtschaftswunder fruchtbar gemacht worden ist? Heute profitieren wir noch als Gesellschaft von millionenfachen Mord und Raub. Aber nein, wir sind jetzt die Weltmeister im Gedenken.
Seit der Shoah sind zwei bis drei Generationen vergangen. Geschichtlich gesehen ist das nicht mehr als ein Augenzwinkern. Ehrlich gesagt glaube ich, dass wir noch gar nicht die geringste Ahnung haben, was im 2. WK zerstört worden ist.
Ja….viele wahre Worte, kann ich nur zurückgeben. Das „Unvorstellbare“ habe ich auch nicht verstanden. So viel „Unvorstellbares“ wurde und wird verbrochen…
Herzlichen Dank, ein kluger Beitrag zum Thema!
Jedweder Antisemitismus ist antichristlich, egal ob von Links, von Rechts, von Liberalen oder woher auch immer. Und es war (und ist) eben nicht erst die Mordbrennerei von Auschwitz, es beginnt schon viel früher, man kann gerne sagen: 1925 bis 1935, als Antisemitismus – für manche nobel „Antijudaismus“ – üblich wurde. Diese Haltung kommt viel feiner daher, und birgt doch den Schrecken aller Rasissmen und aller Menschenfeindlichkeit.
Ich habe ja meine persönliche Meinung zum „Historikerstreit“: Wenn der Holocaust einzigartig ist, dann ist die gesamte Moderne/Postmoderne davon eigentlich frei und alle atheistischen oder – wieder nobel – „humanistischen“, also antikrichlichen Behauptingen sind frei von diesem Makel.
Ich denke, der Holocaust ist insofern einzigartig als dass jeder Mord an jedem einzelnen Menschen einzigartig ist, und insofern, dass unter den gegebenen historischen Umständen eben nur der Holocaust Holocaust war – ebenso ist Holdomor Holdomor etc., jedes dieser Verbrechen einzigartig. Deshalb halte ich die Frage nach Einzigartigkeit, die eine Gewichtung als „schlimmstes Verbrechen“ beinhaltet, für nicht zielführend. Man behauptet das ja, weil man Relativierung fürchtet (verständlich), aber man relativiert eben dadurch die grausamen Tode vieler anderer…
Stichwort Einzigartigkeit: Hier spielt sicher der Anspruch von juedischer Seite eine Rolle, dass das Leiden des juedischen Volkes eine absolute Sonderrolle in der Geschichte einnimmt. Die Kirche bestaetigt das ja (immerhin hat es einen Grund, dass juedische Geschichte tausende Seiten heiliger Schrift benoetigt); beim saekularen Deutschen hingegen fuehrt es zu vielen Missverstaendnissen.
Ja, danke für den Hinweis!
Eine „lebendige“ Erinnerung an Auschwitz, so wie sie in unserem Land seid zwei Generationen betrieben wird, führt zwangsläufig zu einer Banalisierung der Verbrechen, die in der Gegenwart geschehen. Wenn der Bundespräsident seine Rede in der Gedenkstätte Yad Vashem mit dem Zitat „Gepriesen sei der Herr unser Gott, dass wir heute hier sein können“ beginnt, kann man die verlogene Instrumentalisierung der Religion quasi mit den Händen greifen. Sein Satz: „Unser Erinnern hat uns gegen das Böse immun gemacht.“ ist an Selbstüberschätzung und Hochmut kaum zu toppen. Wenn jemand sagt er sei ohne Sünder ist er ein Lügner und Gott ist jedenfalls nicht mit ihm, egal wie oft er die Psalmen zitiert.
Im Gegensatz zu Sokleidas, drückt mich die Last der Shoah nicht. Da gibt es aktuellere Verbrechen, die mich manche Nacht schlaflos verbringen lassen und die ich noch nicht einmal selbst verantworten muss.
Meine Frau arbeitet seid dreißig Jahren in einer Werkstätte für Behinderte und dort wundert man sich, dass sogut wie keine Kinder mehr mit dem Down-Syndrom eine Förderung erhalten können, weil es sie schlichtweg nicht mehr gibt. Sie werden nicht mehr geboren, weil sie vor der Geburt selektiert werden. Von den gesunden Kindern die das Licht dieser Welt nicht mehr erblicken mal ganz zu schweigen.
Ich werde es nicht den zukünftigen Generationen überlassen, sich an diesen Verbrechen zu erinnern.Das ist Heuchelei auf Staatsniveau und Augenwischerei um vom eigenen Elend abzulenken. Nicht mehr und nicht weniger.
Falscher Gebrauch hebt den Rechten aber nicht auf.
Ich selbst gehöre zur Generation der Kanzlerin und des amtierenden Bundespräsidenten und begrüße ausdrücklich die derzeitige deutsche Erinnerungskultur hinsichtlich Nazizeit und Holocaust-Verbrechen.
Das war nicht immer so in Deutschland: Ich erinnere mich noch an Zeiten, wo von vielen „ein Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen“ gefordert wurde.
Sicherlich ist auch derzeit nicht alles optimal und darf auch kritisch hinterfragt werden, aber Deutschland steht hier in großer Verantwortung, diese geradezu monströsen in seinem Namen begangenen Verbrechen zu benennen und die allgemeine Erinnerung daran in der breiten Bevölkerung wach zu halten.
Es gibt da auch viele noch weiter zu erschließende „Baustellen“, z.B. auch die Schikanieren oder offene Verfolgung von überzeugten Christen im sog. Dritten Reich – ohne auch andererseits Versagen Einzelner unter den Tisch zu kehren.
Persönliche Abneigung gegen best. Politiker wie den Bundespräsidenten Steinmeier sollten meiner Meinung nach nicht dazu führen, seine vielleicht von manchem als etwas zu pathetisch empfundenen Worte bei der Gedenkveranstaltung mit Israelis so zu diskreditieren, wie es hier vereinzelt geschehen ist.
Ich halte Herrn Steinmeier für einen guten und fähigen Bundespräsidenten, der sich ehrlich bemüht, für möglichst ALLE Deutschen zu sprechen und dessen persönliche Intervention nach den gescheiterten Jamaika-Koalitionsverhandlungen bei den Parteivorsitzenden von Union und SPD uns in den vergangenen Jahren nochmals eine stabile Regierung beschert hat. Das ist ein echtes Verdienst dieses beim Großteil der Bevölkerung sehr geachteten Politikers.
Sicherlich besteht auch Anlass gerade für Christen zu höchster Wachsamkeit gerade gegenüber aktuellen Verbrechen und himmelschreienden Missständen, wie es z.B. die massenhafte Abtreibung in unserem Land darstellt.
Aber wir sollten nicht den Fehler begehen, Verbrechen aktueller Art gegen die Benennung solcher aus der Vergangenheit auszuspielen – das wirkt schnell ablenkend und damit relativierend.
Ich halte Herrn Steinmeier für einen der schlechtesten Bundespräsidenten der Geschichte. Das heißt aber nicht, dass ich seine Rede als Ganzes schlecht fand. Überhaupt nicht. Das Problem ist bloß: Ich kann nicht in Jad Vashem Hebräisch sprechen und anlässlich des Revolutionsjubiläums den Mullahs gratulieren. Das ist nicht ehrlich. Oder wenn ehrlich, dann dumm.
Ich denke auch, dass Deutschland in der Aufarbeitung vieles sehr gut gemacht hat. Nur darf das eben nicht statisch werden: Mein Punkt ist ja lediglich, dass es offenbar nicht (mehr) nachhaltig ist, weil sie von falschen Voraussetzungen ausgeht (nämlich die von Steinmeier angesprochene „Immunisierung gegen das Böse“, die es nun einmal kollektiv nicht geben kann. Die Forderung nach einem Schlussstrich wird definitiv immer weiter zunehmen, und man wird ihr immer weniger entgegenzusetzen haben, wenn wir so weitermachen.
Zum letzten Absatz: Absolut d’accord!
Meinerseits Zustimmung, dass wir uns nicht gegen das Böse einfach durch erinnern immunisieren können – das ist in der Tat naiv.
„Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.“
(Fritz Bauer, ehem. hess. Generalstaatsanwalt, erfolgreicher Nazijäger und engagierter Streiter für die Demokratie in Deutschland)
Allenfalls über den Mittelteil seiner Aussage könnte man heute, 75 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs und der Naziherrschaft geteilter Ansicht sein, da doch die weitaus meisten damaligen Zeitgenossen inzwischen verstorben sind.
Stete Wachsamkeit und Zurückweisung relativistischer und geschichtsverfälschender kruder Thesen sind meiner Meinung nach jedoch allemal vonnöten und angebracht.
„Aber wir sollten nicht den Fehler begehen, Verbrechen aktueller Art gegen die Benennung solcher aus der Vergangenheit auszuspielen – das wirkt schnell ablenkend und damit relativierend.“
Dann mal einige Fragen in die Runde: Ist Abtreibung ein Verbrechen? Wenn ja, findet nicht im großen Umfang dann eine Relaitivierung dieses Verbrechens in der Gegenwart statt?
Klar wird das relativiert.
Solange ein Verbrechen in der Gegenwart relativiert wird, ist es sinnlos sich an Verbrechen der Vergangenheit zu erinnern. Oder sehe nur ich das so?
Warum das denn? 1. haben Opfer aller Zeiten das „Recht“, dass man sich ihrer erinnert. 2. Erinnerung und Gedenken ist ein ganz entscheidendes Merkmal menschlicher Kultur. Wir leben aus dem Rückblick auf unsere Vorfahren. 3. Haben alle Verbrechen irgendwas, dessen es sich zu erinnern lohnt, um daraus zum lernen (nicht mit Schmalspuranalogien natürlich)
Ich sehe in dieser Verknüpfung absolut gar keinen Sinn, wirklich, tut mir leid.
@gerd: Nein, da bin ich nicht Ihrer Meinung. Sinnlos ist es nicht, sich an vergangene Verbrechen zu erinnern und sie als das was sie sind zu benennen und sie zu verurteilen. Wenn man allerdings gleichzeitig Verbrechen der Gegenwart nicht als solche erkennt oder sie gar leugnet, so hat man diesbezüglich ein gewaltiges Defizit und einen blinden Fleck. Das geht leider vielen Linken so mit der gegenwärtig erlaubten Abtreibung. Sozialisten haben dafür fast 100 Jahre gekämpft und gearbeitet und wollen nicht einsehen, dass ihre „Errungenschaft“ ein himmelschreienden Unrecht an den umgebracht ungeborenen Kindern darstellt. Das wird verdrängt und ausgeblendet inkl. erdrückende wissenschaftlicher Erkenntnisse bzgl. Beginn des Menschseins auch im Embryonalzustand.
Als Christ habe ich mein Leben lang mit dem eigenen Balken im Auge zu kämpfen. Da hilft es nicht an die Größe des Balkens meines Nachbarn zu denken geschweige denn daran zu erinnern. Wenn Erinnerung, dann nur um zu erkennen, dass man heute keinen Deut besser ist, als die Zeitgenossen im dritten Reich. DAS ist ein Vergleich, wenn auch ein schmerzhafter.
Nein. Denn Verbrechen sind immer Verbrechen an Menschen. Es geht bei Erinnerung an Opfer nicht primär um einen Nutzen. Das ist nur ein Nebenaspekt. Und natürlich soll man laut Jesus eben DOCH auch auf die Balken oder Splitter anderer eingehen. Bloß soll man darüber nicht die eigenen vergessen. DAS kritisiert er. Alles andere würde ja jede Nächstenliebe in Form von Zurechtweisung unmöglich machen: „Solange ich nicht perfekt bin, kann ich anderen nichts raten“. Genau das ist nicht gemeint. Gemeint ist: man soll nicht eigene Perfektion annehmen, indem man anderen rät ob ihrer Imperfektion.
Erinnerung sollte durchaus auch auf die persönliche Situation in der Gegenwart hin reflektieren – da stimme ich Ihnen zu, gerd.
Immerhin hat uns die lebendige Erinnerung an die Nazizeit mit ihren Gräueln bislang in Deutschland einigermaßen vor neuem Rassismus bewahrt.
Das ist auch schon etwas, wenngleich die Zeitgenossen auf manch anderen Gebieten leider blind sind.
Aber Sie wollten ja an der Beseitigung der eigenen Balken im eigenen Auge arbeiten und weniger an den Splittern der Nachbarn, nicht wahr?
Offiziell gemeldet verlieren allein in Deutschland jährlich rd. 100000 Ungeborene durch Abtreibung ihr Leben – die wahren Zahlen sind ungleich höher.
Unter überzeugten Christen ist es unstrittig, dass dies zum Himmel schreiendes Unrecht ist.
Und es ist ebenfalls völlig richtig, möglichst darüber aufzuklären, was eine Abtreibung ist: wissentliche Tötung auf grausame Art und Weise von völlig wehrlosen ungeborenen Menschen.
Um darüber aufzuklären und dagegen legal vorzugehen, braucht es aber keinen Vergleich mit dem Holocaust.
Da handelt man sich leicht den Vorwurf ein, letzteren relativieren zu wollen, da leider manche immer noch Ungeborenen das volle Menschsein absprechen, was den Opfern desolat wenigstens heutzutage von weitaus den allermeisten Zeitgenossen denn doch zugestanden wird.
Über die Gräuel von Abtreibung aktuell aufzuklären, gibt es aber genug aktuelles Material und Fakten – auch ganz ohne Vergleiche mit der Nazizeit.
Aktuelles Material und Fakten sind für diejenigen die den Vorwurf der Relativierung ins Feld führen verlorene Liebesmüh. Das ging den Zeitgenossen im sog. dritten Reich nicht anders als heute. Was mich umtreibt ist die Tatsache, dass wir als Gesellschaft die Verbrechen der Nazi-Zeit immer wieder als solche bezeichnen, über die Verbrechen unserer Generation den Mantel des Schweigens werfen oder mit einer banalen Relativierungsmasche glattbügeln. Der Vorwurf von Relativierung einzelner Verbrechen läuft somit ins Leere und sollte von einem überzeugten Christen ausgehalten werden.
Es hat Jahre bis Jahrzehnte und unzählig viele Anstrengungen gekostet, bis die Verbrechen der Nazis im allgemeinen Bewusstsein der Bevölkerung angekommen sind.
Hängt z.T. auch damit zusammen, dass alte Schuldbekenntnis Massen allmählich alt und still wurden und starben und neue Generationen kamen, die nach der Wahrheit suchten.
Der Holocaust speziell kam erst durch die 4 gleichnamigen Fernsehflme zur besten Sendezeit ins Bewusstsein der Bevölkerung bei uns.
Da gibt’s noch jede Menge zu tun bzgl. Aufklärung über Abtreibung!
Etwas ermutigendes ist mir immerhin in den letzten Jahren dabei aufgefallen:
Ich kenne immer wieder Fernsehfilme, wo es auch um Schwangerschaftskonflikte geht – aber da geht’s immer gut aus – ohne Abtreibung. Immerhin – ein Silberschmiede am Horizont..?
Nein, es gibt nämlich keinen Grund, den Holocaust als Vergleich heranzuziehen. Abtreibung ist Unrecht „aus eigenem Recht“ und kann ohne Skandalisierung des Nächsten genannt werden.
„Silberstreif“ nicht „Silberschmiede“
„Hach, wie schön, sich in der eigenen Schuld zu suhlen!“
Vor Menschen, die so etwas sagen (auch wenn oder weil es ironisch / sarkastisch / zynisch gemeint ist), habe ich Angst. Ehrlich.
Kontext, werter Herr. Kontext. Ich mache doch wohl hoffentlich deutlich, dass ich selbst ein Mensch bin, der sich der deutschen Schuld nicht nur bewusst ist, sondern dem sie ganz persönlich, ganz konkret sehr viel bedeutet. Sonst würde ich mich mit dem Thema ja gar nicht auseinandersetzen.
Meine Kritik (ja, sarkastisch) bezieht sich NICHT darauf, dass Menschen diese Erinnerung lebendig halten wollen, sondern dass sie dies in einer heuchlerischen Art und Weise tun. Man kann mir in dieser Analyse sehr gern widersprechen und sagen „Nein, das ist doch grundehrlich“. Bitte. Aber mit so pseudo-emotionaler moralischer Verurteilung („Macht mir Angst“) kommen, ist nicht besonders integer und nicht besonders stark. Wenn Sie sich nicht mit dem Inhalt dessen, was ich schreibe, auseinandersetzen wollen, dann lassen Sie es doch einfach. Ansonsten kann ich sehr gut verstehen, dass Leute zu diesem Thema eine andere Haltung einnehmen als ich. Aber ich möchte mir nur ungern unterstellen lassen, mir wäre die Erinnerung an den Holocaust nicht wichtig. Das berührt mich nämlich sehr persönlich. Ich bin erst vor ein paar Tagen heulend durch eine Holocaustausstellung gelaufen und konnte nicht verstehen, wie andere ohne Tränen dadurch schlendern konnten. Darum finde ich das unangemessen von Ihnen.