Lebendige Erinnerung, bloß wie?

Am 27. Januar wird der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee gedacht. Die Wochen davor stehen regelmäßig medial voll im Zeichen der Shoah: Zeitungen, Radio, das ZDF, das froh ist, alle Guido-Knopp-Dokus wieder raushauen zu können, alle gedenken, wollen nie vergessen und bekennen sich zu „nie wieder“. Das ist alles ehrenhaft, aber ich stelle mir schon seit geraumer Zeit die Frage, wie unser Holocaustgedenken lebendig und ehrlich bleiben kann. Das scheint dieses Jahr in den Medien eine öfter diskutierte Frage zu sein, weil mit den 75 Jahren Abstand ins Bewusstsein rückt, dass es bald keine Zeitzeugen mehr geben wird.

Für mich gab es ein einschneidendes Erlebnis, das mir zeigte, dass es ein böses Ende nehmen wird, wenn wir mit dem Gedenken so weitermachen wie bisher: Es war während eines Mozartrequiems, das zu einem Holocaustgedenken aufgeführt wurde. Allerdings wurde es nach dem Benedictus von einer zeitgenössischen Komposition eines Israelis unterbrochen, und zusätzlich traten Kinder des Jugendchores, der den Chorpart sang, einzeln auf die Bühne um die Namen von Deportierten aus der Stadt, sowie, falls bekannt, ihr Todesdatum und den Ort ihrer Ermordung zu nennen. Dabei fielen zwei Sachen auf: Die Kinder konnten damit so wenig anfangen, dass die meisten statt Auschwitz „Ausschwitz“ sagten. Ich weiß noch, dass, als dies mal einem Schüler in meiner Klasse passierte, der derart zusammengebügelt wurde, dass sich sicher niemand von uns jemals diesen Versprecher nochmals geleistet haben wird. Anders hier: Ein jüdischer Bürger der Stadt nach dem andern kam also in „Ausschwitz“ ums Leben. Die zweite Auffälligkeit: So richtig wohl fühlten sich bei der Aktion die grauhäuptigen Zuschauer. War es doch ihre Generation gewesen, die im Zuge der 68er ihren opportunistischen, unmoralischen, rückgratlosen, nazistischen Altvorderen die Leviten gelesen hatten. Hach, wie schön, sich in der eigenen Schuld zu suhlen! Als ich Zeuge dieser Instrumentalisierung der Jugend zur Darstellung der eigenen Rechtschaffenheit wurde, war ich noch ziemlich „links“, und sicher war dies ein kleiner Baustein, der mir die heuchlerische, bigotte, ätzende Selbstdarstellung dieser Kreise vor Augen geführt hat.

Damals dachte ich, dass es so nicht weitergehen könne. Es ist ja nicht nur so, dass ein Großteil der deutschstämmigen Kinder niemanden mehr kennenlernen wird, der diese Zeit erlebt hat, immer mehr Kinder haben gar keine deutschen Wurzeln mehr, wie soll man ihnen die Shoah vermitteln als etwas, das sie persönlich betrifft?

Ich selbst bin dabei ein Musterbeispiel gelungener antinazistischer Bildungspolitik. Seit der dritten Klasse (Als Hitler das rosa Kaninchen stahl) wurde mir eindrücklich die deutsche Schuld respektive Verantwortung vermittelt, und für mich ist Holocaustgedenken tatsächlich lebendig und ehrlich. Ich kann darüber nicht abstumpfen, ich will keinen Schlussstrich. Allerdings treffen auf mich auch drei Parameter zu, die nur die wenigsten Deutschen teilen: Erstens habe ich in der Schule zugehört. Zweitens bin ich durch meine halbmigrantische Herkunft besonders patriotisch. Und angesichts der großartigen Leistungen des deutschen Volkes ist es sozusagen Ehrensache, dieses entsetzliche Verbrechen ebenfalls besonders, ja, sogar mehr als vieles andere, in Erinnerung zu behalten. Wenn das deutsche Morden mit besonderer Gründlichkeit geschah, dann muss es auch die deutsche Reue sein. Ich bezweifle, dass ein derartig preußischer Ehrbegriff bei mehr als 5% der Bevölkerung verfängt. Drittens bin ich Christin, und so ist für mich das Morden an den Juden (und jegliches Morden) ein Verbrechen an Brüdern und Schwestern, weshalb Holocaustgedenken für mich auch nie abstrakt war.

Wenn Steinmeier in Jad Vashem eine Rede voller Platitüden hält, in der es heißt, Deutschland stünde hinter Israel, während deutsche Politik und Medien zum Gegenteil tendieren, dann scheint mir das eine heuchlerische Verknöcherung des Gedenkens zu sein. Wir sagen das, und haben damit unsere Schuldigkeit getan, egal, was wir dann konkret tun. Wie soll nun ein solches Verhalten seitens des Staatsoberhauptes (!), als Vorbild taugen?

Ich denke, es wäre an der Zeit für zwei Maßnahmen: Zum einen müsste man die Shoah bildungspolitisch aus der Glasglocke der Einzigartigkeit holen, so schmerzhaft das für viele Juden sein mag. Das ist keine Relativierung, sondern eine Aktualisierung: Armenier, Herero, Opfer der Roten Khmer, die von Japanern und Maos fanatisierten Massen gleichermaßen abgeschlachteten Chinesen, die Ukrainer und viele mehr – es muss klar werden, dass, trotz der „logistischen“ Besonderheit des deutschen Mordens, der Hass des Menschen überall zerstörerisch ist. Er geht türkischstämmige, arabischstämmige und deutschstämmige gleichermaßen an, genauso Amerikaner, Japaner usw. Wenn der Mord an Europas Juden so besonders ist, dass man nicht mehr „rankommt“, dann verfehlt das, bei allem Verständnis für die Furcht vor Relativierung, den Sinn der Herausstellung dieses Verbrechens.

Man muss auch, so schwer es fällt, eingestehen, dass Erinnerung zwangsläufig verblasst. Man kann sich gegen diese Einsicht stemmen, wird dann aber alles verlieren: Wer weiß denn noch, was die eigenen Vorfahren während des Dreißigjährigen Krieges trieben? Die Idee, das Gewesene sei so schrecklich gewesen, dass es für immer lebendig bliebe, scheitert ironischerweise gerade an der Ideologie derer, die sie vertreten: Die marxistisch geprägte Postmoderne kennt eben immer weniger eine Vergangenheit, die bindet und wirkmächtig ist. Für den Katholiken, noch mehr oftmals den Orthodoxen, ist der im zweiten Jahrhundert den Löwen vorgeworfene Mensch genauso unmittelbar nah wie der 1789 oder 1917 ermordete; weil wir eben keine Glasglocken errichtet haben, unter denen wir das Grauen betrachten, sondern weil wir uns selbst als Teil einer ewigen Gemeinschaft verstehen. Wie wäre dies einem Menschen zu vermitteln, der nicht an die Ewigkeit glaubt? Woher käme eine Notwendigkeit des lebendigen Erinnerns, wenn es keine Ewigkeit gibt? Mit dem Tod der Täter erlischt ja dann zwangsläufig die innere Notwendigkeit des Gedenkens und alles, was bleibt, ist ein Schauermärchen, das auch der Leugnung immer er zugänglicher wird.

Am Ende ist doch die Frage, warum wir erinnern. Geht es um die Opfer oder um die Täter? Geht es darum, dass wir uns rechtschaffen fühlen „dürfen“? Ich meine, dass diese versteckte und unbewusste Selbstbezogenheit der größte Hemmschuh dagegen ist, die Gedenkkultur neu auszurichten. „Wir“ wollen zumindest die schlimmsten Schurken bleiben dürfen. Damit werden wir aber die allermeisten Menschen nicht mehr erreichen können: Wir müssen den muslimischen Antisemitismus thematisieren, und neben der klassischen rechtsextremen Judenfeindlichkeit den von Verschwörungstheorien und antiisraelischer Agitation geprägten linken Antisemitismus. Und wir müssen eben deutlich machen, dass Antisemitismus eine besonders perfide, aber nur eben eine von vielen Formen tödlicher Menschenverachtung ist.