Fasten #1 – Fasten als Gewissensschule

Zum Beginn der Fastenzeit werde ich zum Dauergast auf orthodoxen Internetseiten und Blogs. Hier findet man nämlich noch Rezepte, die tatsächlich etwas mit Fasten zu tun haben, nicht mit „minimaler Konsumreduktion, die unseren Willen bereits völlig überfordert“. Auf einem Blog stieß ich auf eine Aussage, die mich an ein Thema erinnerte, über das ich immer wieder mal bloggen wollte. Es ist eine etwas heikle, letztlich „intime“ Sache, deshalb bitte ich von vornherein darum, meine Aussagen nicht zu verabsolutieren. Mir geht es hier auch um den psychisch halbwegs gesunden Katholiken (wer schafft heute schon vollauf gesund), nicht um skrupulöse Menschen oder solche, die anderweitig in Gefahr geraten, eine Seite des Glaubens überzubewerten. Außerdem zur Sicherheit der Unvollständigkeitsdisclaimer: Mir geht es hier um einen spezifischen Aspekt des leiblichen Fastens. Mir ist bewusst, dass ich viele wichtige Aspekte hier außen vor lasse…

Der Blogeintrag, den ich las, erläuterte serbische Fastenregeln und -speisen und gab vor allem Tipps zu veganen Ersatzprodukten für Käse und andere fasteninkompatible Speisen; im Zuge dessen wies er darauf hin, dass besserwisserisches Gemeckere über die Fastenpraxis anderer (boshafte Leser könnten mich dessen bezichtigen) sich nicht gehöre, und man sich nicht einreden lassen solle, man könne nur so oder so fasten. Ob die angebotenen Ersatzprodukte „cheaten“ seien oder nicht, müsse jeder für sich entscheiden.

Darin steckt nun erst einmal viel (sehr viel) Wahres. Trotz aller „allgemeinen“ Regeln: Das christliche Fasten ist kein gesetzliches. Das zeigen schon die zahlreichen Ausnahmen: Schwerstarbeiter, Kranke, Alte, Kinder, Reisende, Gäste an fremdem Tisch usw. – auch hier ordnet der Glaube alles auf Gott hin, aber stets vernunftgemäß. Kein Armer, der zufällig in der Fastenzeit einen Braten gespendet bekam, sollte darauf verzichten müssen, keine Schwangere ihr Wohl und das des Kindes gefährden müssen um „fromm“ zu sein. „Vernünftiger“ Gottesdienst, auch das Fasten.

Die allgemeine Flexibilität setzt sich im Einzelfall fort: Man kann und darf individuell bestimmen (angeraten wird dabei geistliche Begleitung), mit welchem Vorsatz man das Fasten gottgemäß erfüllen kann. Dies speist sich aus der Überzeugung, dass das äußerliche Fasten den inneren Vorgang der Läuterung unterstützt und spiegelt und kein Selbstzweck ist. Noch deutlicher betont wird dieser Ansatz in der katholischen Kirche dadurch, dass die offiziellen Fasten- und / oder Abstinenztage mittlerweile auf ein kaum noch auszumachendes Minimum beschränkt worden sind.

Damit kommen wir aber nun auch zum Biber im Pfeffer: Die Idee war natürlich nicht, dass man die Verpflichtung abschaffe um damit anzudeuten, die Regeln seien unmodern und heute nicht mehr sinnvoll. Man wollte, dass das, was sonst durch kirchliches Gesetz notfalls erzwungen wurde, durch (idealerweise noch größeren) Liebeseifer freiwillig erbracht würde – vom mündigen Christen. Vergleichen wir den Christen mit einem Französischschüler, so ging die Kirche (sancta simplicitas!) davon aus, der Schüler würde freiwillig Vokabeln lernen, da er intrinsisch genug Motivation besäße, um einzusehen, dass, um endlich Les Misérables selbstständig lesen zu können, diese Vokabeln eben nötig seien. Weit gefehlt. Durch das entstandene Vakuum beschäftigen sich viele mit dem Thema nur noch oberflächlich, und denen, die wirklich fasten wollen, wird es erschwert, da ihnen nun Skrupel auflauern, ob das, was sie machen, „reicht“.

Kommen wir kurz zurück zum Blogartikel: Ob die angebotenen Ersatzprodukte „cheaten“ bedeuten oder nicht, muss jeder für sich selbst entscheiden. Das Wort, das aus einer richtigen Idee eine falsche Aussage macht, ist „entscheiden“. Wir entscheiden nicht, ob etwas gut oder weniger gut ist. Wir erkennen es (oder eben nicht). Das klingt recht erbsenzählerisch, ist aber von großer Bedeutung. Es zeigt, dass der Relativismus uns so selbstverständlich umgibt, dass er auch in religiösen Kreisen gar nicht mehr hinterfragt wird.

Tatsächlich kann das rechte Fasten für jeden Menschen unterschiedlich aussehen. Je nachdem, wie tief wir im Innern nachforschen, wird sich auch herausstellen, dass das wirklich so ist, weil wir alle unterschiedlich sind und jeder dem Herrn auf seine Weise dient. Ebenso tatsächlich muss aber jeder sein Gewissen ehrlich befragen, wie das Fasten beschaffen sein sollte. Keineswegs entscheide ich, ob das, was ich mache, angemessen ist. Ich kann nur erkennen, was angemessen ist und dann entscheiden, ob ich der Erkenntnis folge oder nicht.

Die Wahrscheinlichkeit, dass der Konsum (teurer) veganer Ersatzprodukte dem Sinn des Fastens entspricht, ist gering. Was nicht bedeutet, dass er nicht tatsächlich für manche Menschen angemessen wäre, in gewissem Rahmen angemessen wäre etc. Bloß ist es eben deutlich wahrscheinlicher, dass man sich damit selbst betrügt.

Nun kann ich für mich wirklich ganz und gar nicht behaupten, mich nicht selbst zu betrügen. Oft ist unser Selbstbetrug ja auch noch so fein und geschickt, dass wir ihn wirklich nicht bemerken. Es ist eine schmerzhafte Lebensaufgabe, sich dem immer wieder zu stellen, und ich persönlich empfinde gerade die Fastenzeit als eine besonders dankbare Zeit, um sich darin zu üben. Es ist schon ein wahnsinnig großer Schritt in Richtung Wahrhaftigkeit, wenn wir es schaffen, zu sagen „Hey, mein Gewissen sagt mir, dass ich auf Sojaschnitzel verzichten sollte – aber ich will nicht, deshalb esse ich es trotzdem“, anstatt sich auf das Gesetz zurückzuziehen und zu sagen „Die Kirche verbietet es nicht, also esse ich es“ oder „Die Kirche stellt es in mein Ermessen (pun – äh – not intended), deshalb kann ich entscheiden, und es ist egal, was ich entscheide.“. Wenn man diesen Schritt geht, bekennt man sich nämlich zur eigenen Schwäche und hält die Tür geöffnet, den eigenen Willen von Gott stärken und dem seinen angleichen zu lassen – vielleicht nicht heute, vielleicht nicht in diesen 40 Tagen, aber vielleicht nächstes Jahr; oder morgen schon in einem ganz anderen Lebensbereich, in dem mich die „gescheiterte“ Übung im Fasten zum Wachsen motiviert. Dazu nochmal genauer in Teil 2…

Ziehe ich mich trotz größerer Befähigung auf das Gesetz zurück, schlage ich die Tür zu und verschenke die geistlichen Schätze, die mir das Fasten geben möchte. Das bedeutet nicht, dass man solche Schätze nicht an anderer Stelle wahrnähme. Allerdings meine ich, dass die Kirche sicher nicht zufällig das Fasten als grundlegende Einrichtung des geistlichen Lebens betrachtet hat. Ich empfinde diese Schule der Aufrichtigkeit dementsprechend gerade beim Fasten als relativ niedrigschwellig, weil die Sache sehr konkret ist (ich muss nicht aufwendig abstrakte Seelenzustände analysieren) und weil sie sich weit weg von schwerer Sünde bewegt. Ich kann mich hier meiner Schwäche stellen, ohne danach heulend im Beichtstuhl sitzen zu müssen. Auch kann ich mich hier üben, ohne anderen zu schaden – im sozialen Bereich führt das Versagen des Christen ja schnell zu Übeln aller Art, vor allem verliert der Glaube an Überzeugungskraft. Durch mein Versagen im Fasten stirbt aber nur die eine oder andere Tafel Schokolade o.ä. Auch bleibt mir öffentliche Demütigung erspart, da ich ja nur selbst weiß, was mein Gewissen von mir verlangt hätte, ich kann also unbeobachtet Fehler machen, mich überfordern, unterfordern, verrennen und lernen. Zugleich bietet aber (theoretisch) der kollektive Charakter der großen Fastenzeiten einen motivierenden und stützenden gemeinschaftlichen Rahmen, so dass man zwar individuell aber nicht als Einzelkämpfer agiert.

Leider scheint aber gerade diese „Niedrigschwelligkeit“ mit dazu geführt zu haben, dass ein großer Teil der Katholiken das leibliche Fasten nicht wirklich ernst nimmt – so etwas Nebensächliches, selbst die Kirche hat es nahezu abgeschafft.

Ich habe auch das Gefühl, dass viele die großartige Gelegenheit, die sich hier bietet, nicht wirklich erfassen und gar keine Lust haben, traditionelle Ansätze des Fastens auszuprobieren und zu erfahren. In Gesprächen dazu erlebe ich häufig, dass diese Haltung mit Angst zu tun hat – mit der Angst vorm Scheitern…