Mobilmachung in der Krise – Corona #1

Je nachdem, wie lange die akute Corona-Krise noch dauert, möchte ich meinen Blog natürlich auch dazu nutzen, geistige und geistliche Nahrung zur Bewältigung anzubieten. Allerdings habe ich mir in den letzten Tagen so oft die Augen reiben müssen über das, was in meiner katholischen Bubble passiert, dass ich auch noch allgemein ein paar Meinungseinträge schreiben muss – auch um mich abzureagieren und nicht zuletzt um meine eigene Haltung zu überprüfen. Dabei fällt es mir zugegeben etwas schwer, die Vielzahl der Eindrücke zu ordnen.

Viele meiner Bekannten erscheinen mir in der letzten Zeit wie eingesperrte Fluchttiere in Panik. Das äußert sich vor allem darin, dass jeder Versuch der Differenzierung als Relativierung angegriffen wird: Wagt es jemand, eine konkrete Maßnahme für sinnlos zu halten, wagt es gar jemand, die Pandemie nicht für so dramatisch zu halten, wie sie von der Mehrzahl der Politiker und Wissenschaftler dargestellt wird, werden ihm lediglich statistische Hochrechnungen von Todesfällen entgegengehalten und er wird als offensichtlich asozial (unsolidarisch), egoistisch und gemeingefährlich abgestempelt.

Natürlich, da kann es gar keine Diskussion geben, sind die Zustände etwa in Italien und Iran alarmierend. Und natürlich kann jemand, der die Gefährlichkeit des Virus rundheraus leugnet, eine Gefahr darstellen, indem er keine Sicherheitsvorkehrungen ergreift und sich und andere gefährdet. Dennoch: Keine Krise verpflichtet zu vollumfänglicher Gleichschaltung des eigenen Denkens mit dem anderer oder mit einer öffentlich vertretenen Linie. Keine (Holla die Waldfee, bin ich wirklich so freiheitlich, wie ich scheine? Meine sozialdemokratische Familie wird mich enterben).

Als ich kürzlich in London war, durfte ich eine unfassbar eindrückliche Ausstellung über den Ersten Weltkrieg besuchen. Zweifellos eine ungeheure Krise ungeheuren Ausmaßes. Ausgestellt wurden u.a. auch Briefe und Fotos von Kriegsdienstverweigerern, die in Großbritannien zum Teil heftigen Strafen, auch Zwangsarbeit, unterworfen wurden – abgesehen von der allgemeinen sozialen Ächtung, unter der sie natürlich auch zu leiden hatten. Ist ein solcher Mann nicht mitverantwortlich dafür, dass der Krieg länger gedauert hat? Dass ein Kind in einem Luftangriff gestorben ist, der vielleicht sonst nicht stattgefunden hätte, weil genau dieser Mann als Soldat das Luftschiff hätte abschießen können? Vielleicht. Ist seine Weigerung, zu helfen, verantwortlich für Millionen von Toten, die die „Gesamtsituation“ zurückließ? Das würde wohl kaum jemand behaupten! Es ist keine Frage, dass der Dienst am eigenen Volk hier eine Verpflichtung war, die die Allgemeinheit zu Recht eingefordert hat. Dennoch können wir im Nachhinein den Hass, der diese Menschen traf, nicht nachvollziehen. Wir sehen, dass der Mensch in vielfältigen, komplexen Situationen steht, die er nicht oder nur zum Teil überblicken kann, und dass wir die Folgen unseres Handelns nicht mit letzter Sicherheit abschätzen können.

Mit dem bequemen Abstand von 100 Jahren kann man das auch ganz entspannt zugestehen. Nur was, wenn die Krise uns selbst trifft, wenn plötzlich wir vor den Entscheidungen anderer stehen? Dann hängen postwendend „Uncle Sam braucht dich!“- Poster überall im Netz, bloß, dass die Heimatfront eine Heimfront ist und eindringlich bittet: Bleibt daheim!

Die Bitte ist einsichtig. Es ist auch einsichtig, dass sie durchgesetzt werden muss, und unsere Regierenden haben verschiedene Möglichkeiten, sobald sie es für notwendig erachten, entsprechende Regelungen zu verhängen.

Nicht in Ordnung ist allerdings, wenn ein kollektiver Druck ausgeübt wird, der jegliche, auch nur im Detail abweichende Meinung geißelt.

Meiner Ansicht nach rührt diese vermehrt auftretende Intoleranz aus zwei Punkten: Führerlosigkeit und Panik aufgrund von Kontrollverlust.

Zum ersten Punkt: Unsere Politiker haben uns vor allem zu Beginn der Krise schmählich im Stich gelassen. Zu Anfang gab es noch mehr oder minder gleichberechtigt (jedenfalls war das meine mediale Wahrnehmung) grob und salopp gesagt zwei Ansichten, die von Virologen bzw. Ärzten über die Medien verbreitet wurden: „Alles nicht so wild!“ und „Alles ganz ganz schlimm!“. Sachlichkeit und Transparenz fehlten allerdings weithin. Mit der Zeit und relativ schnell verschob sich die öffentliche Meinung dramatisch in Richtung „alles ganz ganz schlimm“, und damit hörte dann jeder Versuch der Einordnung auf, bzw., wer noch einordnet, ist ganz schnell „AfD-nah“ (irgendwie absurd), „ideologisch“, und natürlich waren ihm Millionen prognostizierter Todesfälle einfach egal. Hier hätte es schlicht und einfach der Führerschaft bedurft: Wenige Politiker hätten genügt, die die Verantwortung übernehmen: Für die Einschätzung der Situation, für die falsche Einschätzung der Situation und für die Kurskorrektur. Statt dessen fühlt sich nun jeweils der Einzelne zur Führerschaft ermächtigt, garniert sein Profilbild mit dem „Bleibt daheim“-Sprüchl, alle fordern Solidarität von allen, und wer die korrekte Haltung hat, maßregelt pauschal alles und jeden, bei dem er einen Mangel an Treue, Haltung und Einsatz zu erkennen glaubt. Gehorsam ist nur als Kadavergehorsam akzeptabel, alles darunter ist gefährliche Sabotage der gemeinschaftlichen Anstrengung. Das sollte nicht weiter verwundern, allerdings entsetzt mich, dass Katholiken dagegen so wenig Resilienz zeigen. Ich hätte gedacht, dass wir uns in diesen Dingen gelassene Gleichmut erlauben können – oder diese zumindest anstreben.

Schließlich wird hier von beinahe allen alles munter durcheinandergeworfen: Absolute Todesfälle, Exponentialfunktionen, nicht verifizierbare Datengrundlagen, hohe Dunkelziffer, niedrige Dunkelziffer, hohe Ansteckungsrate, milde Verläufe. Das Wirrwarr an Begriffen und Herangehensweisen begünstigt, dass gar nichts mehr sachlich auseinandergesetzt wird. Ganz schnell werden Beobachtung, Einordnung und Schlussfolgerung gleichgesetzt. Wer z.B. sagt, dass, wenn die Dunkelziffer aufgrund der milden Verläufe hoch ist, die hoch angesetzte Todesrate nicht stimmen kann, bekommt schnell zu hören, er sei Zyniker, weil er offensichtlich nichts unternehmen wolle. Dabei kann jemand durchaus diese Feststellung machen, und genauso für scharfe Eindämmungsmaßnahmen plädieren, um Menschenleben zu schützen, da ja auch eine niedrige Todesrate viele Tode bedeutet, die man nach Möglichkeit verhindern will. Wenn junge Leute sich zu Coronapartys draußen treffen, dann muss man sagen, dass man hier Zeuge des finalen Niedergangs des Humboldtschen Bildungsideals wird: Erkenntnis, ganzheitliche Einordnung und Ordnung einer Erkenntnis auf das Gute und Angemessene hin findet nicht statt, nicht aus Bosheit, sondern weil nie jemand vermittelt hat, wie das geht.

Das Versäumnis, Menschen ein solides, tragfähiges Fundament zu geben, wird nun evident, es lässt sich aber nicht dadurch lösen, dass man mangelndem Einordnungsvermögen noch mehr mangelndes Einordnungsvermögen entgegensetzt.

Und dies führt zum zweiten Punkt: Würden wir sachlich alles zusammentragen, was wir an Fakten haben und verschiedene Deutungsansätze dieser Fakten nebeneinanderstellen, würden wir feststellen, dass wir sehr wenig wissen. Fast alles, was wir nun tun oder unterlassen, baut auf Informationen, die wir nicht final verifizieren können. Wir müssen uns damit arrangieren, dass wir erst nach der Krise wissen werden, was genau geschehen ist – wenn wir Glück haben und diese nicht sofort nach Abflauen der ganz akuten Situation politisch und ideologisch gekapert werden wird (was ich vermute). Wir müssen also damit leben, dass wir keine Kontrolle haben. Das Ausharren im Ungewissen scheint aber für viele Menschen eine nicht zu bewältigende Aufgabe zu sein. Deshalb sucht man sich Scheinsicherheiten, die einen versichern, auf der „richtigen“ Seite zu stehen und das Richtige zu tun. Entsprechend intolerant geht man mit Andersdenkenden um und konstruiert einfach, es gäbe nur zwei Haltungen, schwarz und weiß. Ironischerweise merken viele anscheinend nicht, dass sie damit die nun beschworene „Solidarität“ konterkarieren. Darum mag ich auch diesen Begriff übrigens gar nicht: Solidarität ist eine Gießkanne undefinierten Aktionismus für irgendwen, anders als Nächstenliebe. Nächstenliebe muss ganz konkret bei dem anfangen, der eine andere Meinung hat und sich von da aus auf den Rest der Welt beziehen. Ist viel anstrengender, man kommt sehr schnell an seine Grenzen und man fühlt sich nicht heldenhaft.

Ich lade also dazu ein, die Motivation der Handlung unter die Lupe zu nehmen – ganz gleich, für welche Eindämmungsmaßnahmen man sich dann starkmacht.