24/7 Heiligkeit: Liebe statt Selbstoptimierung

Am ersten Oktober ist der Gedenktag der heiligen Thérèse von Lisieux. Sie ist eine Heilige, die mir Schwierigkeiten bereitet. Heilige der frühen Kirche sind so herrlich einfach: Man starb irgendeinen Märtyrertod oder brachte sich in Ausnahmefällen durch Askese in seiner Wüsteneinsiedelei in den Ruf der Heiligkeit. Beide Formen der Hingabe sind derart außergewöhnlich, dass man sie aus sicherer Entfernung bewundern darf. Ihre Verehrung bereitet mir ungetrübte Freude, weil ich erstens nicht davon ausgehe, jemals in eine Lage zu geraten, in der ich sie nachahmen muss, und zweitens, weil diese Hingabe derart extrem ist, dass man nicht im Mindesten auf die Idee kommen könnte, dass die Nachahmung ohne Gottes Gnade gelingen könnte. Bei den Heiligen, die nicht Märtyrer wurden, spielt außerdem bis in die Neuzeit häufig eine grundlegende Bekehrung eine große Rolle, z.B. beim Heiligen Augustinus, der von Häresie bis wilder Ehe so ziemlich alles durchgemacht hat, was ein weltliches Leben so hergibt. Diese Heiligen sind uns besonders nah dadurch, dass nie der Eindruck entsteht, sie hätten „die Heiligkeit mit dem Löffel gefressen“, und ihre Erlangung der Heiligkeit trotz ihrer Sündhaftigkeit motiviert und macht hoffnungsfroh.

Heilige wie Padre Pio oder die heilige Thérèse dagegen nenne ich „Vollzeitheilige“. Sie sind natürlich genau die Heiligen, die ihre Zeit (und unsere Zeit, jedenfalls in der westlichen Hemisphäre) gebraucht hat. Martyrium im klassischen Sinne kommt durchaus noch vor, so ist es nicht, aber in einer Welt, in der der Zerfall allgegenwärtig ist, muss es auch das Heilige sein. Wo der Zerfall jede Pore der Gesellschaft durchdringt, muss auch die Heiligkeit bis in die kleinsten Strukturen vordringen. Dementsprechend ist der „kleine Weg“ der heiligen Thérèse in bestem Sinne „modern“, als angemessene und passende Antwort auf die moderne und postmoderne Welt, in der nur das Glaubenszeugnis im Alltag zeigt, dass das Christentum mehr ist als frommer Wunsch, fantasievoller Mythos oder soziale Struktur.

Solche Heilige stellen eine zweifache Herausforderung dar. Zum einen kann es überfordern, ihren Anspruch auf sich zu übertragen: 24/7- Heiligkeit: Geht’s noch? Zum anderen kann es zu einer Art selbstgerechtem Übereifer führen, wenn man den Anspruch anzuwenden versucht.

Wenn ich obskure Andachtsheftchen lese, in denen tausendundeine fromme Kindheitsanekdote der hl. Thérèse oder eines anderen Heiligen beschrieben werden, stellt sich bei mir gern Verdruss ein. Heroischer Opfermut bei Kindern ist noch viel „grausamer“ als bei Erwachsenen, weil sie so gar keine Ausrede zulassen. Allerdings kann man zuerst einmal zwischen den Heiligen und ihrer Rezeption unterscheiden – im Normalfall hilft es bereits, den O-Ton der Heiligen wahrzunehmen und die obskuren Andachtsheftchen links liegen zu lassen. Die heilige Thérèse wollte keinen Guinness-Weltrekord der frommen Alltagshandlungen aufstellen, sie hat einfach nur das getan, wonach ihre Seele verlangte: Sie hat Gott geliebt, von ganzem Herzen, aus ganzer Seele und mit aller ihrer Kraft.

Mehr wird auch von uns nicht verlangt (man könnte auch lesen: „So viel wird von uns verlangt???“). Es geht nicht darum, dass wir dieselben Akte der Hingabe vollbringen, sondern, dass wir mit den uns eigenen Kräften die uns möglichen Akte der Hingabe vollziehen. Ob das „absolut“ gesehen mehr oder weniger ist, als die hl. Thérèse getan hat, ist nicht von Bedeutung.

Diese Einsicht baut den „Heiligungsdruck“, der durch Vollzeitheilige aufgebaut wird, zwar nicht ab, lenkt ihn aber schon einmal in eine vielversprechende Richtung: Anstatt auf konkrete Handlungen dieser Heiligen zu schauen und sie für sich für unmöglich zu erklären, schaut man auf die dahinter liegende Dimension (z.B. hat es mich schockiert, als ich einmal belehrt wurde, der heilige Padre Pio habe sich die Hände gewaschen, bevor er den Rosenkranz von einer Hand in die andere nahm. „Schön für ihn“ und „Was soll ich damit anfangen“, sind die nettesten Gedanken dazu. Sehe ich aber von der konkreten Handlung ab und betrachte einfach nur, dass da jemand den Wunsch hatte, in einer kleinen Handlung so viel Andacht, Ehrfurcht und Liebe wie möglich zu leben, kann mich das ohne Leistungsdruck anspornen.).

Dann können wir uns auch einen Perspektivwechsel zumuten: Normalerweise trauen wir uns nämlich nicht, uns in unserer ganzen Niedrigkeit und Schwäche anzuschauen. Weil es natürlich extrem unangenehm ist. Wir sind es gewöhnt, unsere Schwächen als nicht so schlimm oder auch als „irgendwo berechtigt“ darzustellen (ich erinnere mich an ein Bewerbungstraining in der 11. Klasse, indem wir lernen sollten, Schwächen so zu verpacken, dass es aufrichtig wirkt, sie aber trotzdem als versteckte Stärken rüberkommen, die bloß richtig angewendet werden müssten… ich werde dieses Training nie vergessen, weil der Leiter sagte, wir müssten „authentisch erscheinen“, was in mir spontane Empörung auslöste.).

Es ist sehr schwierig, sich ehrlich vor den Spiegel zu stellen und zu sagen: „Auweia, ich bin wirklich schwach!“. Ich erlebe häufig (bei mir und bei anderen), dass man vor diesem Schritt zurückschreckt, weil man die eigene Niedrigkeit nicht erkennen will. Es ist leichter, sich z.B. damit herauszureden, dass wir ja nicht mehr vollbringen müssen. Hier kann der oben angesprochene Perspektivwechsel ansetzen: Bewegen wir uns als Christen eigentlich in der Logik der Leistung oder in der Logik der Liebe?

Ein Ehemann muss seiner Frau keine Blumen schenken um zu beweisen, dass er sie liebt, aber er tut es ohne Notwendigkeit (hoffe ich doch). Mehr noch: Ein Kind, das seiner Mutter ein unglaublich defizitäres, hässliches aber selbstgemaltes Bild schenkt, hat keine Zweifel daran, dass die Mutter sich über dieses Geschenk unbändig freuen wird – jedenfalls, wenn die Mutter keine Tyrannin ist. Gott ist keine Tiger-Mom: Der Wechsel von der knechtischen zur kindlichen Perspektive ist grundlegend für das Christentum an sich, wird aber meiner Erfahrung nach gern mal im persönlichen geistlichen Leben unterschätzt oder nicht genügend bewusst gemacht. Erst das kindliche Vertrauen macht es uns möglich, uns ganz schutzlos Gottes Blick auszuliefern – weil wir wissen, dass es ein liebender Blick ist. Es ist ein großer Schritt, so konkret zu glauben, dass Gott uns liebt, dass wir uns nicht mehr selbst verdammen müssen, sondern unserer Schwächen Gott übergeben – woraus uns die Möglichkeiten erwachsen, daran zu arbeiten. Sonst würden wir vor Panik, Gewissensnot und Größe der Aufgabe verzweifeln oder geraten in Gefahr, skrupulösen Übereifer an den Tag zu legen.

Dieser Schritt ist nicht ganz einfach, aber wenn man diesen „Paradigmenwechsel“ im Glauben einmal vollzieht, wird man mit einer ganz tiefen Seelenruhe beschenkt, ohne dass diese einen Gegensatz zu ernsthaftem und eifrigem Bemühen um persönliche Heiligung bilden würde. Man ist nicht trotz der Defizite, die man aufweist, ruhig, indem man sich nicht ehrlich anschaut, sondern man lernt, mit seinen Defiziten, Unvollkommenheiten und Sünden gelassen umzugehen (und zwar mit den echten, nicht mit denen, mit denen man sich gern darstellt), weil man sich in Gottes Liebe befreit und berufen weiß. So zeigt sich, dass der etwas umständliche Ordensname Theresens, „Thérèse vom Kinde Jesu und vom heiligen Antlitz“ einen Kern des Christenlebens genau trifft: Vor dem Antlitz Gottes stehen können, ohne Schein, ohne Feigenblatt, weil die Liebe des menschgewordenen Gottes es erlaubt, auch sich selbst gegenüber eine liebevolle Haltung einzunehmen – weil Liebe und Wahrheit zusammengehören! Manchmal ist es übrigens sogar schwer, die eigene Unnachgiebigkeit nicht Gott anzulasten. Heutzutage wird dieser Komplex häufig wiedergegeben mit dem Bild vom „auf dem Weg Sein“. Ich finde es im Grunde sehr hilfreich, sich als Lernender zu begreifen, als jemand, der sich in das Reich Gottes einübt. Diese Sprachbilder dürfen nur nicht in Richtung „Der Weg ist das Ziel“ umkippen. Wenn ich an die heilige Thérèse denke, muss ich mich jedes Mal erst überwinden, mich wirklich anzuvertrauen, und nicht in eine Form von Heiligkeitsneid zu verfallen. Es ist nicht leicht, aber lohnend, einen solchen Glaubensakt zu vollziehen, und sich manchmal gerade den Heiligen anzuempfehlen, denen man aus irgendeinem Grund distanziert gegenübersteht. Jedenfalls bin ich davon überzeugt, dass der Eindruck, den die oberflächliche Rezeption der hl. Thérèse vom Kinde Jesu bei mir macht, ihrem ureigenen Anliegen gerade nicht entspricht. Deshalb hoffe ich, dass sie mich zu einer immer tieferen Annahme meiner eigenen „Kleinheit“ führt – auch, wenn es Überwindung kostet.

Die Heiligkeit der Thérèse vom Kinde Jesu gewinnt dadurch ihre eigentliche Dimension, dass sie die Liebe Gottes als konkrete und bestimmende Größe sieht. Von diesem Punkt aus werden echte Liebestaten möglich. Sie erlaubt uns nicht, daraus „Leistungen“ zu machen, indem wir die Liebe diffus, die Aufgaben aber konkret denken. Erst eine weltliche, unspirituelle Sichtweise kehrt diese Logik der Liebe um.

Heilige Thérèse vom Kinde Jesu, bitte für uns!