Was ist eigentlich liberal-katholisch?

Es gibt immer wieder, nicht nur von säkularer Seite, den Versuch, katholische Positionen in politischen Begriffen zu beschreiben. Das ist allein deshalb schwierig, weil diese Begriffe schon im politischen Bereich nicht eindeutig sind: Manche, wie etwa „liberal“, haben eine lange, bewegte Geschichte hinter sich, und können auf verschiedenste Inhalte angewendet werden. Manche, wie „konservativ“ sind dadurch, dass sie immer einen inhaltlichen Bezugspunkt brauchen, von dem aus man sie bestimmt, sehr beweglich, manche sind gesellschaftlich extrem aufgeladen („rechts“). In der allgemeinen Wahrnehmung gibt es auch völlig unangemessene Verkürzungen. Z.B. würden viele Menschen sagen, „liberal“ sei eine positive Beschreibung, obwohl ein Teil der liberalen Standpunkte, z.B. in Wirtschaftsfragen, von denselben Menschen als negativ betrachtet wird. Begriff und Inhalt kann man also nicht klar zuordnen.

Für die Kirche ist es zuerst einmal absurd, in solchen Begriffen zu denken, weil für viele politische Fragen vom Glauben ausgehend unterschiedliche Standpunkte eingenommen werden können. Man kann z.B., um bei Wirtschaft zu bleiben, mit Hinweis auf Freiheit und Verantwortung eher einer wirtschaftsliberaleren, oder mit Hinweis auf die Nächstenliebe eher einen sozialen Kurs befürworten. Mit dem Tod des politischen Katholizismus gibt es jedenfalls in der politischen Landschaft keine Partei mehr, in der katholische Positionen konsequent und durchgehend vertreten würden – Nebenbemerkung: Unter Umständen ist das gar nicht so negativ zu beurteilen. Politik kann schnell korrumpieren, und sie ist sehr komplex. Welchen Schaden würde es zusätzlich zu den Missständen innerhalb der Kirche für den Glauben bedeuten, wenn Politiker einer ausgesprochen katholischen Partei nicht vorbildhaft handeln, oder wenn sie sich realpolitisch für etwas entscheiden müssen, was die christliche Haltung nicht oder nicht vollständig abbildet? Man könnte also auch sagen: Wer in der Politik nicht mitmischen muss (kann), hat Zeit für das Evangelium.

Wie sieht es aber in der Kirche selbst aus mit solchen Verortungen? Sie werden hier völlig falsch angewendet. Ich will zwei Beispiele nennen: Eine konservative Haltung zum Zölibat wäre: „Der Zölibat ist alt und bewährt, hat geistliche, geschichtliche und praktische Aspekte, die alle ihre Berechtigung und Gültigkeit haben. Es gibt keinen Grund, ihn zu überdenken.“ Eine liberale Haltung zum Zölibat wäre: „Wir sehen in den katholischen Kirchen, die nicht dem römischen Ritus angehören, dass dort verheiratete Männer Priester werden können. Wir können also darüber diskutieren, ob die geistlichen, geschichtlichen und praktischen Aspekte heute so schwer wiegen, dass der priesterliche Zölibat bestehen bleiben muss, und ob man diese nicht auch unter der Zulassung verheirateter Männer ausreichend berücksichtigen kann.“ D.h., man ist in „liberaler“ Weise der Auffassung, dass sich eine konkrete Ausgestaltung des Glaubenslebens durchaus ändern könnte, und dass man in dieser und in jener Weise der katholischen Lehre gemäß leben könnte.

„Der Zölibat begünstigt Missbrauch, ist Ausdruck einer veralteten, vom Menschen abgewandten Sexualmoral und drückt Leibfeindlichkeit aus.“, ist dagegen keine liberale katholische Position, es ist keine katholische.

Nehmen wir die Eucharistie: Eine konservative (vielleicht sogar reaktionäre) katholische Haltung wäre: „Der Mahlcharakter der Eucharistie ist von geringer Bedeutung.“ Eine liberale Haltung wäre: „Der Mahlcharakter der Eucharistie darf gegenüber dem Opfercharakter nicht marginalisiert werden.“ (oder auch, wenn man liberal etwa anders definiert; „Es ist nicht so wichtig, eine genaue Verhältnisbestimmung vorzunehmen, Hauptsache, wir nehmen Opfercharakter und Mahlcharakter irgendwie wahr.“)

„Der Opfercharakter ist nicht mehr vertretbar (weil unbiblisch, antijudaistisch, unmodern oder was auch immer).“, ist nicht liberal, sondern nicht katholisch.

Dies kann man auch liturgisch festmachen: Die heilige Messe hat, egal ob von der Gemeinschaft Emmanuel (progressiv), vom Opus Dei (Mitte) oder von der Petrusbruderschaft (konservativ) gefeiert, denselben Inhalt. Dennoch wäre es durchaus möglich, dass Mitglieder dieser drei Gruppen miteinander fruchtbar aber auch streitbar darüber diskutieren, welche ausgestaltenden Formen wie und warum angemessen sind. In keiner dieser Messen würde jedoch vom Messbuch abgewichen, Laienpredigt, am liebsten von Frauen, gefördert, der Opfergedanke unterdrückt, die tätige Teilnahme missverstanden als Tummelplatz für Gemeindegruppen, die ihren Teil der Messe „gestalten“ usw. All diese Dinge gehören nicht zum liberalen oder progressiven Ton, sie sind unkatholisch. Und die einzige liberale Haltung hier wäre, allen drei Messen dieselbe Hochachtung zuteil werden zu lassen.

Dies könnte man nun mit jedem umstrittenen Thema so fortführen. Die meisten Ansichten, die dem „liberalen“ oder „progressiven“ Lager zugeordnet werden, sind schlicht und einfach nicht gedeckt von der katholischen Glaubenslehre. Das hat zur Folge, dass wirklich und im eigentlichen Sinne liberale katholische Haltungen heute so marginalisiert sind wie vielleicht noch nie. Sie werden nicht diskutiert, u.a. deshalb, weil ihre Anhänger durch die Fehlzuschreibung des Begriffs „liberal“ für unkatholische Positionen ärgerlicherweise dem konservativen bzw. „erzkonservativen“ Lager zugerechnet werden. Nun unterscheidet sich die Frömmigkeit eines Neokatechumenalen signifikant von der eines Altritualisten. Im Grunde wäre dieses „In einen Topf werfen“ also gar nicht schlimm: Es betont einfach nur die katholische Weite, die Vielfalt, die durch echte Einheit im Glauben ermöglicht wird. Es wird aber zum Problem, wenn im Zuge der positiven Einstellung zum Begriff „liberal“ legitime katholische Positionen ständig einem gar nicht der Kirche zugehörigen Druck ausgesetzt sind, sich gegenüber säkularem oder protestantischem Gedankengut rechtfertigen müssen. Abgesehen davon können dadurch wirklich lohnende Fragen nicht diskutiert werden, weil ständig nicht katholische und unkatholische Positionen an uns herangetragen werden.

Ist das nicht unfair gegenüber den Anfragen, die viele postmoderne Menschen an die Kirche haben? Kann man so einfach sagen, was katholisch ist und was nicht? Nun – sicher, die unübersichtliche Fülle an lehramtlichen Aussagen überfordert. Aber das, was geglaubt werden muss, ist durchaus relativ klar definiert. Keine der nicht katholischen Forderungen, die gemeinhin erhoben werden (Frauenpriestertum, Abschaffung des Zölibats, Änderung der Sexualmoral etc.) lassen sich vereinbaren (entweder sind sie in sich unvereinbar oder in Motivation und Argumenten) mit den grundlegenden Einsichten, dass Gott der eine Schöpfer und Herr ist, dass er der Dreifaltige ist, dass Gott die Kirche gestiftet hat und dass der heilige Geist sie führt, kurz, sie lassen sich mit den Aussagen des Credo nicht vereinbaren, womit man auch ohne ausuferndes Studium von Enzykliken nur zu dem Ergebnis kommen kann, dass sie nicht innerhalb der katholischen Weite stehen – anders als so viele spannende Aspekte, die, wie gesagt, gar nicht breit diskutiert werden. Das soll nicht heißen, dass man diese Anfragen nicht trotzdem haben dürfe (vor allem als Nichtkatholik). Schmerzhaft ist nur, dass es vorrangig Katholiken sind, die mit ihrem eigenen Glaubensgut so gut wie gar nicht vertraut sind, und deren Unwissen oder auch nicht selten Denkfaulheit von der Außenwelt als „liberal“ geadelt werden. Ich überlege jedenfalls, ob ich nicht in Zukunft in aller Ernsthaftigkeit meine religiösen Positionen als liberale Haltung verteidigen sollte.