Von verschenkten Chancen: Corona und Gesang

Ich habe schon länger keinen echten Rant mehr abgesetzt und irgendwie tut es mir in dieser Sache so weh, enttäuscht zu sein, dass ich versuchen werde, bei aller Deutlichkeit liebevoll zu bleiben. Am 6. Januar, dem Fest der Epiphanie und der heiligen Drei Könige, deren Gebeine im Dom ruhen (ja, die sind echt, und wenn sie nicht echt sind, sind sie trotzdem echt, capisci?!), war ich in Köln, in der Stadt, die schon vor Christi Geburt katholisch war, und ich war in der Abendmesse im Dom. Coronabedingt in jeder Bank ein Hausstand, also, von Überfüllung konnte keine Rede sein. Die Predigt gut, die Messfeier andächtig, warum also bin ich unzufrieden? Ich bin unzufrieden, weil hier evident wurde, wie Chancen, die uns Corona bietet, nicht genutzt werden. Mein Unmut entzündete sich an der musikalischen Gestaltung.

Nur drei Menschen sollten singen. Deshalb stellte man zum Kantor zwei Mädchen aus der Mädchenkantorei des Domes. Sie sangen u.a. zwei Stücke, die man als „Literatur“ bezeichnen kann, also keine Gemeindelieder, sondern künstlerische Kompositionen, mit denen sie ziemlich und auch ziemlich hörbar überfordert waren. Das liegt nicht daran, dass sie keine guten kleinen Sängerinnen wären, sondern daran, dass sie eben jung und unerfahren sind. Während ein Profichor so gut ist wie sein „schwächstes“ Mitglied, ist ein Laienchor immer um ein Vielfaches besser als die Fähigkeiten des Einzelsängers vermuten lassen, weil die Sänger sich gegenseitig ergänzen können. Hätten die beiden im Pulk von fünf oder mehr Mädchen gestanden, wären die Aussetzer, die Konzentrationsdefizit oder Aufregung oder was auch immer hervorriefen, unauffällig, da andere sie auffangen würden. So aber mussten sich die beiden verzweifelt durchkämpfen. Wieso eine Orgel die Kinderstimmen übertönen muss, so dass man zeitweise nur den Hauch von Stimme erahnt, erschließt sich mir nicht. Solo-Orgelspiel an einem Hochfest ist doch feierlich und angemessen und transportiert die Würde des Festtages außerordentlich gut! Und das Erzbistum Köln findet keinen Sänger, der den Kirchenraum mit seiner Stimme füllen könnte? Es tut mir wirklich leid, dass diese beiden als Kanonenfutter benutzt worden sind, mit dem Effekt, dass die Dommusik klang wie eine Werktagsmesse in Hintertupfede in der nordostniedersächsischen Diaspora.

Nun ist das in erster Linie ein ästhetischer Fauxpas, der mich nicht ärgert, weil er aufgetreten ist, sondern, weil er ohne Not aufgetreten ist an einem Ort und in einem Kontext, in dem man mit wenig Mühe etwas deutlich angemesseneres hätte aufbieten können.

Was mich aber zusätzlich wurmt, ist, dass die Sängerinnen auch Gemeindelieder singen mussten – bei denen man sie wirklich kaum hörte, weil die Orgel so spielte, als würde sie einen ganzen Kinderchor oder zumindest eine kleine Gemeinde begleiten.

Seit Corona erlebe ich sehr häufig, dass in Messen Gemeindelieder von einer kleinen Schola oder von einem einzelnen Sänger gesungen werden. Grundsätzlich habe ich dagegen nichts einzuwenden: Die Menschen können sich innerlich mit den bekannten (! dafür müssen es dann aber eben bekannte Lieder sein) verbinden. Allerdings hat das Ganze mehrere Haken. Um wirken zu können, müssen Gemeindelieder, die von wenigen gesungen werden, ein anderes Begleitarrangement haben als ein normaler Choralsatz, weil weniger Stimmen weniger massiv sind. Zweitens kommt hier die ganze Absurdität der Liturgiereform ans Licht: Am Altar wird Liturgie gefeiert, und die Gläubigen sollen diese aktiv mitvollziehen. Das bedeutet in erster Linie, dass sie mitbeten sollen, mitopfern sollen. Nun gibt es in Deutschland eine tief verwurzelte Liebe zum paraphrasierenden Kirchenlied, d.h. dazu, liturgische Vorgänge nicht eins zu eins, sondern in meist emotional gefärbten Umschreibungen singend zu erfahren (man höre sich z.B. „die“ Schubertmesse an – musikalisch schön, liturgisch betrachtet grauenvoll). Ich persönlich halte diese Art, die Liturgie zu umschreiben, für unvereinbar mit den Anliegen des Zweiten Vatikanums, aber das ist nur meine bescheidene Meinung. Ich meine das, weil die Tiefe der echten liturgischen Texte übersäuselt, übermalt und häufig eklatant unterschritten wird von jeweils zeit- und stilbedingten Ideen, Einfällen und Emotionen. Ich bin davon überzeugt, dass Lieder eine tiefe emotionale Reaktion und Verbindung ermöglichen, aber die Leute sollen ja von Jesus und von der Liturgie erfüllt sein, nicht von einem x-beliebigen Lied. Wegen dieser typisch deutschen Verformung des Mitvollzugs motzen auch landauf landab ordentliche wie außerordentliche Gläubige so intensiv über das Singverbot. Für die Feierlichkeit der Messe ist völlig unerheblich, ob die Gemeinde singt. Nicht ganz selten senkt das sängerische Niveau sogar die objektive Feierlichkeit. Wenn die eigene Inbrunst so untrennbar ans Singen unliturgischer Texte gebunden ist, dass ich ohne sie meine, die Messe sei nicht wirklich vollständig, dann ist man von mündigem Mitvollzug weiter entfernt als damals, als man noch unschuldig Rosenkranz während der Messe hat beten können.

Von dieser meiner grundsätzlichen Ablehnung abgesehen ist es nun doppelt problematisch, wenn die Gläubigen nicht einmal mehr selbst singen, sondern jetzt auch noch ihre Konzentration auf die ihnen coronabedingt nur indirekt zugängliche Musik richten müssen. Anstatt sich also Paraphrasen singend an die Liturgie anzuschließen, müssen sie sich nun Paraphrasen anschließen, die sich dann an die Liturgie anschließen sollen, wie soll das gehen? Und wenn, s.o., dies dann auch noch so leise und so schlecht verständlich geschieht, wie an Epiphanie im Dom, funktioniert es überhaupt nicht.

Und nun zur gigantischen Chance, die man sich mit dieser wirklich unkreativen Herangehensweise verschenkt: Man könnte Corona nutzen, um die Gläubigen wieder an das Gebet, und zwar an das liturgische Gebet, zu gewöhnen. Ich bin kein ausgesprochener Freund deutscher Gregorianik, und zwar vor allem aus linguistischen Gründen. Latein und Deutsch sind sehr unterschiedlich in Struktur, Rhythmisierung und Melodie und bei der Übertragung geht vieles verloren. Dennoch ist deutsche Gregorianik besser als keine Gregorianik, und z.B. Münsterschwarzach hat viel Herzblut und Arbeit darauf verwendet, deutsche Übertragungen zu schaffen. Wenn man nun also sagt, man wolle die Leute nicht mit Latein überfahren – gut. Dann nehmt die deutschen Fassungen (oder eine gesunde Mischung: Melismatische Teile auf Latein, syllabische auf Deutsch z.B.): Gregorianik ist lediglich in Musik gegossener Gebets- und Bibeltext. Sie ist die am wenigsten individuelle, die am wenigsten subjektive Form geistlicher Musik. Ihr fehlt nichts, wenn sie nur von einem einzelnen Sänger gesungen wird. Ihr fehlt nichts, wenn sie nicht begleitet wird. Sie ist immer groß, immer erhaben, immer in die Ewigkeit aufsteigend. Sie sammelt und erhebt immer. Der Hörer wird in das gesungene Gebet hineingenommen, unmittelbar, ohne die Zwischenstufen von Stilistik, Harmonie oder Wortschwulst. Jetzt wäre die Zeit, um die Menschen wieder ein Gloria hören zu lassen. Einen Introitus, ein Graduale, die nicht irgendwelche geistlichen Gedanken sind, die zu jeder Zeit das persönliche Gebet bereichern können, sondern die genau die biblischen Worte wiedergeben, die zu genau jener heiligen Messe gehören, die gerade gefeiert wird.

Anstatt in einer ausgedünnten Variante in jedem Gemeindelied ausgerechnet den Mangel hervortreten zu lassen, das nämlich keiner mitsingen darf, könnte man den Reichtum des Gebetsschatzes hervorholen, in den man nicht mit der Stimme einstimmen muss, und durch den man nicht von der Liturgie abgelenkt, sondern direkt in sie hineingenommen wird. Mit Gregorianik – oder wenigstens anderweitig (u.U. a-cappella-fähiger) direkter Adaption der Messtexte – wäre selbst die Werktagsmesse in Hintertupfede in der nordostniedersächischen Diaspora in Sachen Gebetsatmosphäre nicht zu unterscheiden von einem Pontifikalamt in einer Kathedrale. Das ist ja nun auch so, dass beides nicht zu unterscheiden ist, nur wählt man statt maximaler musikalischer und textlicher Ausleuchtung der Liturgie maximale Verschleierung. Und das in einer Situation, in der die Gläubigen die erhebende Kraft des biblischen Gebets dringendst brauchen. Schade.