Los von Rom #1 – Kirche und Demokratie

Ich hatte einen sehr (*sehr*) polemischen Blogartikel über Norbert Lammerts Einlassungen schreiben wollen. Er hat gefordert, die deutschen Katholiken müssten sich von der „wohlwollenden Bevormundung“ durch Rom „befreien“. Ich habe mich dagegen entschieden, und versuche es konstruktiv mit mehreren kleinen Beiträgen. Der erste soll sich mit der falschen Einordnung von Kirche befassen, der zweite mit unserer Abhängigkeit von Rom. Abschließend soll es um ein besonderes Problem des Synodalen Wegs gehen.

Mir fällt auf, dass sein Hauptargument ein politisches ist. Lammert behauptet, bei Entscheidungsfindung würden weniger Fehler begangen, wenn der Entscheidungsprozess demokratisch verliefe: „Überall da, wo es um einen Interessensausgleich geht, sind demokratische Entscheidungsprozesse allen anderen überlegen.“ 

Hier sind wir bereits am Kern der Misere: Die Kirche wird begriffen als Gemeinwesen, in dem verschiedene Gruppen – wie Parteien oder Interessenverbände – ihre Interessen vertreten wissen wollen. Dementsprechend sind Entscheidungsprozesse vor allem Kompromissfindungsprozesse. Für politische Themen ist das einsichtig. Wenn es darum geht, den Wolf in der Nordheide anzusiedeln, dann gibt es die Heidschnucken, die berechtigte Interessen haben, deren Vertretung sie ihren Besitzern überlassen, die Eltern von Kindern, den Naturschutzbund und eine Gruppe älterer Damen, die Wölfe romantisch finden. Da alle mehr oder minder gleich wertvolle und legitime Interessen haben, ist es sinnvoll, von vornherein einen Kompromiss anzustreben: Die älteren Damen könnten etwa einen Fonds zur Unterstützung der Landwirte bei Verlust von Tieren einrichten und der NABU einen Wolfkompetenzkurs für Anwohner anbieten, die Landwirte zäunen dafür die Heidschnucken ein und die Eltern stimmen zu, dass der Bewegungsradius der Kinder eingeschränkt wird, und man einigt sich darauf, diesen Kompromiss zwei Jahre lang zu testen. Jeder verzichtet auf etwas, das ihm wichtig ist, jeder bekommt etwas, das ihm wichtig ist. Vielleicht sind aber auch einige Damen gar nicht so sehr für den Wolf, weil sie auch nicht mehr so schnell laufen können, und einigen Mitgliedern des NABU ist die Bewegungsfreiheit der Heidschnucken wichtiger als der Wolf in der Nordheide. Deshalb ist hier ein demokratischer Prozess sinnvoll, damit nicht plötzlich Außenseiterinteressen unverhältnismäßig vertreten sind.

Anders sieht es in der Kirche aus: Die Ebene, auf der es gleichrangige Interessen gibt, ist z.B. die, ob im Gottesdienst mehr E-Gitarre oder mehr Orgel zu hören sein soll. Auf dieser Ebene gibt es bereits viele Möglichkeiten der Gemeindeglieder, Einfluss zu nehmen. Entweder durch Strukturen wie den Pfarrgemeinderat oder einfach durch gelungene Kommunikation untereinander (und das ist meiner Erfahrung nach eines der größten Probleme. Rücksichtnahme und Freundlichkeit im kleinen Rahmen sind ein großer Stolperstein für lebendiges Christsein.).

Dann gibt es Zwischenebenen, die teils kirchlich und teils weltlich sind, die meistens mit Geld zu tun haben und ein slippery slope sind. Meiner Ansicht nach sind hier Verbesserungsmöglichkeiten am größten und realistischsten. Sie scheitern nur daran (meine bescheidene Meinung) , dass sie häufig nicht als teils kirchlich und teils weltlich behandelt werden – was für den Entscheidungsprozess bedeuten würde, dass man erst betet, dann scharf nachdenkt und dann wieder betet, um zu einer Entscheidung zu kommen – sondern dass eine der beiden Dimensionen (meistens die geistliche) komplett ignoriert wird.

Auf den höheren Ebenen gibt es dann keine gleichrangigen Interessen mehr, sondern es gibt die Wahrheit™, aka Gottes Wille und Menschenwillen. Da Gott uns in seiner Menschwerdung bereits maximal entgegengekommen ist, liegt der Ball jetzt bei uns, und unsere Aufgabe ist ganz klar, unseren Willen an den Gottes anzupassen. Leider ist die Kirche so verweltlicht und säkularisiert, dass das oft nicht gesehen wird. Man denkt z.B.: Es gibt in der Kirche die Gruppe derer, die für Frauenordination sind und jene, die dagegen sind. Das ist ein großer und folgenschwerer Irrtum! Es gibt in der Kirche die Gruppe derer, die Entscheidungen des Lehramtes nicht anerkennen wollen und jene, die es tun. Und diejenigen, die es nicht anerkennen, müssten erklären können, wie sie z.B. an den vier Evangelien festhalten können als lehramtlicher Entscheidung, oder an der Taufe, nicht aber am Weihepriestertum. Entweder das Lehramt hat Autorität oder es hat keine. Auf diese Ebene will sich aber niemand begeben, warum, erfahrt ihr in Teil III (Hinweis in eigener Sache: Man findet jetzt auf der Startseite auf Anhieb den „Abonnieren“-Button, falls man keinen Artikel mehr verpassen will…). Statt dessen wird also so getan, als gäbe es „linke“ und „rechte“ Kreise in der Kirche, die unterschiedliche Interessen vertreten, die zu einem Ausgleich kommen müssten – was einfach nicht stimmt. In der Kirche geht es nicht darum, dass sich alle möglichst gut fühlen, sondern darum, dass alle gerettet werden.

Sagen wir etwa, eine Gruppe möchte Kommunionempfang für Wiederverheiratete. Hier geht es einerseits um eine soziale und emotionale Funktion: Niemand soll sich ausgeschlossen fühlen. Erstes Problem: Während es schwachsinnig wäre, zu behaupten, die Kommunion habe keine soziale Dimension, so ist diese jedoch eindeutig untergeordnet. Was man schon ganz banal daran sieht, dass Christus es nicht für nötig hielt, alle seine Jünger bei der Einsetzung dabei zu haben, dass keine Frauen anwesend waren, dafür aber Judas. Soziale Logik? Nope. Die Stärkung ausgerechnet des unwichtigeren Aspekts würde außerdem konkret sozialen Druck aufbauen, zur Kommunion zu gehen, und damit genau zu einer Situation führen, die dieselben Menschen häufig kritisieren, nämlich, dass in der Kirche Konformitätsdruck geherrscht habe und immer noch herrsche. Das Ernstnehmen aller kirchenrechtlichen Bestimmungen würde dagegen dazu führen, dass insgesamt mehr Gründe landläufig bekannt sind, deretwegen nicht kommuniziert wird. Womit sozialer Druck leichter entschärft werden kann: Man wäre als Nichtkommunikant dann auch nicht mehr allein. Zweites Problem: Die Ganzheitlichkeit der Liebe Gottes gerät aus dem Blick. Was ist mit dem verlassenen Partner? Ist Gott nur mit denen, die einen anderen Partner gefunden haben, mit denen, die das Eheversprechen brechen? Wer dies fordert, sagt damit also: „Gott ist nicht treu, und die Einsamen sind ihm wurscht.“ Es kann kein gleichrangiges Interesse sein, wenn einer sagt, Gott sei treu und einer, Gott sei nicht treu. Man kann hier also keinen mehrheitsgestützten Interessenausgleich finden, man kann nur finden, was wahr ist, und sich dann daran halten, egal, ob es wehtut oder nicht.

Die Einordnung der Kirche als Zusammenkunft von Interessenverbänden, bei denen Dialog das Ziel habe, alle möglichst gleich glücklich zu machen, ist schlicht grundfalsch.

Übrigens sei der Vollständigkeit halber erwähnt, dass dieser Demokratieoptimismus äußerst fragwürdig ist. Demokratie ist keine Religion und keine göttliche Offenbarung, sie ist Menschenwerk, und nur so gut wie die Menschen, die sie formen. Die Idee, nur, weil mehrere Leute entscheiden, sei die Entscheidung automatisch besser, hält der Realität überhaupt nicht stand! Ich erinnere mich mit Schaudern an das allereinzige Mal, an dem ich Gruppendruck nachgegeben und mich zum Gruppenschulschwänzen habe überreden lassen. Ich dachte, ich hätte meine Selbstachtung auf ewig verloren und es gehört bis heute zu den dunkelsten Kapiteln meiner Existenz. Ich war die Stimme der Vernunft, aber ich war allein, und die Mehrheit hat entschieden. Wo waren Sie, Herr Lammert, als die Vernunft sich zu MacDonalds zerren ließ, um die Englischlehrerin zu ärgern? Und um noch ein ernsthaftes Beispiel zu bringen: Der arabische Frühling hat gezeigt, dass Mehrheitsentscheidung nicht per se zu liberaler, pluralistischer Gesellschaftsordnung führt, weil die Mehrheit eben schlicht nicht per se liberal und pluralistisch ist. Es ist mir wirklich ein Rätsel, wie man gleichzeitig die Demokratie vergötzen und Populismus für eine große Gefahr halten kann. Entweder, Demokratie funktioniert per se, dann ist Populismus egal, oder Populismus ist gefährlich, dann ist aber die Mehrheit nicht automatisch die Stimme der Vernunft Und hiermit kommen wir zum zweiten Teil von „Los von Rom“: Der unvermeidliche Blick in die Geschichte.