Warum Westgoten Sombreros tragen dürfen ossia: Elitäre Ignoranz

Manchmal frage ich mich, ob der größte Unterschied zwischen Mittelalter und Neuzeit sein könnte, dass im Mittelalter die Massen die dummen Ideen hatten, in der Neuzeit dagegen die Eliten. Falls sich unter meinen Lesern jemand findet, der schon immer mal eine Studie sponsern wollte: Hier wäre ein passendes Thema.

Wie dem auch sei, unter den dümmsten Ideen der Postmoderne ragt die hervor, dass die Übernahme von Techniken und Gebräuchen sträfliches Verhalten darstelle, und (unrechtmäßige) Aneignung, „cultural appropriation“ sei. Die Idee der „kulturellen Aneignung“ ist unfreiwillig identitär: Fast kein kultureller Ausdruck ist völlig autark. Die Benin-Bronzen würde es nicht geben ohne deutsche Metallgießerei. Die indianische Stickerei konnte sich durch den Kontakt mit Europäern, die den amerikanischen Ureinwohnern Perlen verkauften, auf zuvor nicht machbare Art und Weise entfalten. Bei vielen Kulturtechniken lässt sich gar nicht sagen, wer sie als erstes entwickelte.

Und doch: Es gibt Menschen, die Hellhäutige dafür rügen, sich Zöpfe in einer Art und Weise zu flechten, die als „afrikanisch“ empfunden wird. Und wenn es doch ein Wikinger-Mädchen war, das zuerst auf diese bahnbrechende Idee kam? Müssen sich Afrikas Coiffeure dann umorientieren? Wer hat zuerst zwei Schritte so aneinander gefügt und auf Musik abgestimmt, dass sie einen Tanz ergeben? Darf kein anderer tanzen? Vielleicht waren es tatsächlich die Ägypter, die nun eine Seniorentanzgruppe in Mannheim in arge Bedrängnis gebracht haben: Sie sollten eine Tanzaufführung nicht durchführen, weil sie sich eines fürchterlichen Verbrechens schuldig gemacht hatten: Sie hatten auf einer musikalischen Weltreise in Freude an kultureller Vielfalt Tänze aus aller Welt in entsprechenden Kostümen aufführen wollen. Wie kann man nur! Wie kann man nur weltoffen sein. Gern Musik aus aller Welt hören. Sich mit den Rhythmen, der musikalischen Sprache anderer Kulturen beschäftigen? Meh. Eine BuGa-Sprecherin sah das ganz anders:

„Wir haben einige Kostüme der Gruppe abgelehnt, bei denen der Eindruck entstehen könnte, es würden kulturelle und religiöse Stereotype zur Unterhaltung ausgeschlachtet werden. Mexikaner als Menschen mit Sombrerohut oder klischeebesetzte asiatische Kostümierung – das sind Bilder, die wir nicht auf der Mannheimer Buga sehen.“

Berliner Morgenpost

Man sollte die Dame vielleicht darüber aufklären, dass Mexikaner ihre Kultur selbst „zur Unterhaltung ausschlachten.“ Warum auch nicht? Die Sache war letztlich zu einem Kompromiss gekommen: Keine Sombreros, keine Zierborten an den ägyptischen Kostümen. Und das, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass irgendein mumifizierter Altägypter aus seiner Pyramide kommt, um sich für die Aneignung seine Kultur zu rächen, gleich null geht. Aber hier geht es ja auch ums Prinzip.

Was zur Frage führt: Wann wird die Darbietung altdeutscher Tänze und Lieder Pflicht auf öffentlichen Veranstaltungen? Ich wäre sogar dafür, weil es mich nämlich hochgradig nervt, wenn Gospelchöre zwischen Weser und Donau das Klatschen auf zwei und vier als rhythmische Großtat begreifen – da wäre mir durchaus lieber, man würde wieder deutsches Volksliedgut trällern. Dass diese ganze Sache hochgradig lächerlich ist, scheint aber irgendwelche Schlaumeier in Mannheim nicht zu tangieren. Das ungebildete Volk soll gefälligst aufhören, die Kunst anderer Kulturen so zu schätzen und zu bewundern, dass man sie ausüben will.

Als Nebenbemerkung sei eingefügt, dass sich die meisten Angehörigen anderer Kulturen freuen, wenn sie merken, dass jemand ihre Kulturtechniken erlernen will. Ich habe als Jugendliche lange Zeit russische Lieder mit einem Folkloreorchester gesungen (ja, ich habe den roten Sarafan noch im Schrank hängen!) und habe nie etwas anderes als Freude darüber erlebt. Immerhin fast zehn Jahre habe ich in einem Metier gearbeitet, das ohne die Pionierleistung italienischer Künstler nicht existieren würde, und das seit dem 17. Jahrhundert maßgeblich auf internationale und interkulturelle Vernetzung angewiesen ist. Natürlich ist dabei Respekt Voraussetzung: Wer sich eine Buddhastatue in den Garten stellt, kann schon einen Gedanken daran verschwenden, ob er wirklich das, was einer anderen Kultur heilig ist, als Schmuck verwenden will. Doch will er letztlich auch damit mindestens seine Bewunderung ausdrücken, denn wer nutzt schon als Schmuck etwas, das ihm missfällt? Der Coup der Wokeria ist, die Übernahme eines kulturellen Ausdrucks bereits als Respektlosigkeit in sich zu betrachten, so als bestünde kein Unterschied zwischen dem Zerstören eines Kunstschatzes und seinem Kopieren.

Just während man nun also das unschuldige Vergnügen einiger Seniorinnen zum kulturellen Verbrechen „hochsterilisiert“ (Labbadia), fiel mir auf, dass die wahren Ignoranten ganz woanders sitzen. Ich stieß auf einen Podcast vom SWR, der dem Leben eines mutmaßlichen Mitglieds der ‚Ndrangheta auf den Grund geht. Super spannend, dachte ich, also begann ich mit der ersten Folge, um schon nach wenigen Minuten zu stutzen. Zum einen war da die typisch bildungsbürgerliche deutsche Ignoranz: Man spricht den Namen eines Ortes falsch aus, wird korrigiert, und macht sich dann erst einmal lustig [3:23]. Fährt hin, und bestaunt erst mal das ordentliche Erscheinungsbild: „Fast schon ein bisschen deutsch“ [4:18] – das höchste Lob, das ein Angehöriger der deutschen Elite zu vergeben hat. Man beschließt, in eine kalabrische Bar zu gehen, und erstmal zu fragen „Spricht hier jemand Deutsch?“ [5:14]. Und schließlich beschreibt man die Italiener so, wie man sie haben will: „Tyyypisch italienisch: Laute Stimme, große Gesten, totaaal impulsiv.“ [6:40] Was mir hier vor allem fehlt, ist eine gewisse Form von Demut – in diesem konkreten Zusammenhang ein etwas zu „großes“ Wort, aber vielleicht kann man verstehen, was ich meine: Diese Damen wirken wie Ethnologen des 19. Jahrhunderts, die sich selbst als Krone der Menschheit verstehen und die seltsamen Pygmäen, Kannibalen, und was sonst noch alles südlich der Alpen kreucht und fleucht, mit dem Blick des objektiven Analysten betrachten (Und selbige Küstenbewohner haben jenen kurios anmutenden Brauch, ihren Orten Namen zu geben, die Buchstaben enthalten, die sie nicht aussprechen – eine Eigenheit des Welschen, die bei gründlicher Unterweisung durch teutsche Schlichtheit alsbald überwunden zu sein nicht unwahrscheinlich deucht.).

Ich finde Stereotypisierungen etc. überhaupt nicht schlimm, wenn ich den Eindruck habe, dass der, der sie anwendet, nicht davor zurückschrecken würde, sich selbst in gleicher Weise zu betrachten. Und wenn das, was man erlebt, nun einmal Stereotypen entspricht, und man deshalb nicht anders kann, als etwas stereotyp zu beschreiben: Warum nicht? Ich verstehe auch, dass ein Podcast mit Sprache „malen“ muss, und plastisch wirken soll. Allerdings ist es halt nun einmal einfach witzig (einzig verbliebener Parameter der Postmoderne), dass Leute aus dem Milieu, das die eigene Achtsamkeit und Unvoreingenommenheit vor sich herträgt wie ein goldenes Kalb, kein Problem damit haben, sich aufzuführen wie Westgoten in Rom.