Vertrauen und Vertuschen

Ich empfinde die Debatte in der Kirche um Missbrauch als extrem destruktiv. Das mag ein Twitter-Phänomen sein, aber ich befürchte, dass Twitter nur destilliert darbietet, was sich auch offline abspielt. Vor allem denke ich, dass es an der Zeit wäre, Wut und Hilflosigkeit nicht an anderen auszulassen. Alle normalen Menschen sind angesichts von Kindesmissbrauch entsetzt und überfordert. Das ist normal. Weil Menschen zum Guten berufen sind, und das Böse uns lähmt und schreckt. Das abgrundtief Böse ist für uns in höchstem Maße irritierend, abstoßend und unerklärlich. Ja. Aber wir werden es niemals ganz austilgen können, solange die Erde sich dreht.

Ich muss eine zweite Vorbemerkung einschalten: Das, was ich beschreiben will, kann ich ohne die Benennung von kirchlichen Milieus nicht erklären. Allerdings wäre es einen eigenen Artikel wert, dezidiert zu beschreiben, warum die Kategorisierung kirchlicher Milieus mit politischen Begriffen in vielerlei Hinsicht daneben, kontraproduktiv und gefährlich ist. Da es hier nur unter großem Tipp-Aufwand anders ginge, verwende ich den Begriff „lehramtstreu“ in Anführungszeichen für lehramtstreue Kreise mit eher traditioneller Frömmigkeit, wie sie die Volkskirche der letzten Jahrzehnte auszeichnete – ohne deshalb Lehramtstreue auf diese Kreise beschränken zu wollen, nota bene; sowie „säkular-progressiv“. Beide Begriffe benutze ich ausdrücklich behelfsweise. Aber ich hoffe, dass der geneigte Leser sich mit ein wenig Anstrengung vorstellen kann, was für Milieus ich so zu umschreiben suche. Vorbemerkung Ende.

Also: Kürzlich machte der verstorbene Priester Edmund Dillinger Schlagzeilen, nachdem sein Neffe Material, das ihn als Missbrauchstäter ausweist, im Nachlass gefunden hat. Den Schock mag ich mir gar nicht ausmalen. Da nun Edmund Dillinger zu den „Lehramtstreuen“ gehörte, hat sich ein bekannter Katholik aus dem rheinisch-katholischen KAS-Milieu etwas hysterisch zu Wort gemeldet, um das Forum Deutscher Katholiken in Mithaftung zu nehmen. Als ich darauf hinwies, dass das kein faires Verhalten sei, wurde es ein wenig peinlich. Ich will das jetzt nicht kleingeistig auseinandernehmen, was da alles an Anschuldigungen und Vorverurteilungen kam. Eine bestimmte Sorte Mann gezielt in ihrer Eitelkeit zu treffen, ist einfach meine Superpower (und ich habe den leisen Verdacht, dass es durchaus auch eine beichtwürdige Superpower sein könnte, denn ich könnte es ja auch einfach mal lassen). Wie dem auch sei. Ich kann total verstehen, dass es beim Thema Missbrauch schwierig ist, rational und fair zu bleiben, aber man sollte es doch zumindest versuchen: Ich bin davon überzeugt, dass es Menschen gibt, die „bewusst“ wegschauen. In diesem Fall aber hat das wohl auch mindestens die Bundesrepublik Deutschland getan, die Dillinger immerhin das Bundesverdienstkreuz verliehen hat. Menschen haben „pädophil“ nun einmal tatsächlich nicht auf der Stirn stehen, auch wenn dies uns das Leben erleichtern würde.

Kennen Sie einen Missbrauchstäter? Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie einen kennen? Schauen Sie sich auch immer brav um? Halten Sie jeden Priester, Lehrer, Instrumentallehrer, Übungsleiter, Familienvater, Stiefvater und Onkel potenziell erst mal für einen Missbrauchstäter? Ich hoffe nicht! Denn Gemeinschaft, und damit auch Familie, Kirche und Gesellschaft als gemeinschaftliche Räume, funktionieren auf Vertrauensbasis. Wir können einander nicht ständig misstrauen. Das würde uns krank machen. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand, auch wenn er weniger blauäugig und naiv ist als ich, nicht erkennt, wenn jemand ein Doppelleben führt, ist einigermaßen hoch, insbesondere in Zeiten, in denen viele von uns standardisiert ohnehin bereits mindestens ein Zweitleben im Internet führen, in dem wir uns relativ problemlos völlig anders inszenieren können, als wir sind.

Daher finde ich den Vorwurf „Du hättest etwas merken müssen“, ziemlich schwierig. Er kann zutreffend sein. Aber er kann halt auch unzutreffend sein. Und das ist das Problem: Wenn er unzutreffend ist, macht man ein (indirektes) Opfer zum Täter. Ab wann ist Vertrauen sträflich? Eine monströse Frage, die uns Schmerzen bereitet. Niemand von uns weiß, wann sie drohend an uns selbst gerichtet werden wird. Niemand ist davor sicher, andere oder sich selbst betrogen zu haben. Allerdings: Mir hat mal ein forensischer Psychiater – an der Schwelle zum Bruch des Arztgeheimnisses – im Falle eines krankhaft bösen Menschen gestanden, dass er selbst nicht wusste, was er glauben solle, obgleich er alle Akten vorliegen hatte. Böse Menschen können extrem findig sein. Ich werde mir daher nicht anmaßen, das beurteilen zu können, und ich stehe einfach nur verwundert vor den Horden von Menschen, die meinen, sie könnten es. Vielleicht bin ich in der Hinsicht einfach nur besonders unfähig. Oder vielleicht bin ich angesichts meiner persönlichen Erfahrungen mit mehr Demut gesegnet als andere. Die Wut, mit der Menschen hier um sich schlagen, scheint mir anzudeuten, dass an dieser Stelle Menschen unter ihrer Unfähigkeit und Machtlosigkeit leiden, und statt die Hilflosigkeit zuzugeben, wird eben blind gewütet und mit zweierlei Maß gemessen.

Für vollends daneben halte ich die Unterstellung „Weil er zu deinem Milieu gehört, findest du seine Taten weniger schlimm.“ Das ist erstens verletzend und bösartig, zweitens unlogisch, weil es normalerweise ja genau andersherum ist. Man findet das Böse „schlimmer“, das ein Mensch tut, der einem nahesteht: „Von DIR hätte ich das nie erwartet, wie konntest DU so etwas tun.“ Mal ganz persönlich: Ich kann mir bei keinem Priester, den ich kenne, weder bei denen, die ich mag, noch bei denen, die ich nicht mag, vorstellen, dass sie zu so etwas in der Lage wären. Nun kann man mir sagen: Du bist ja auch naiv. Dem würde ich nicht widersprechen. Als mir ein Musikerkollege, es muss 2014 oder 2015 gewesen sein, erzählte, dass es eine APP gäbe, mit der man durch Wischen mögliche Sexualpartner finden kann, an dem Ort, an dem man gerade ist, habe ich ihn auf der Straße stehend lauthals ausgelacht, weil ich dachte, dass das echt ein origineller Witz sei. Insofern: Ja. Ich denke generell besser von Menschen, als sie es womöglich verdienen. Wenn sich aber herausstellen sollte, dass der Priester, den ich am liebsten mag und am besten kenne, ein Kind missbraucht hätte, würde ich das emotional als am allerschlimmsten empfinden, weil es alles verletzt, was ich von diesem Menschen gedacht habe. Und ich halte daran fest, dass bei den meisten Menschen die Enttäuschung und der Schock über Verbrechen unter jenen, die sie lieben, achten und/oder ehren, tiefer trifft und intensiver ist, als wenn es durch Menschen geschieht, denen sie sowieso nie getraut haben. Der Mechanismus, dass man Menschen, denen man vertraut, Übles weniger zutraut, ist ebenso allgemein menschlich und keinem Milieu zuzuordnen.

Diese an sich logische Annahme scheint nur dann nicht zu gelten, wenn man das Milieu, in dem etwas geschieht, einfach mit dem Täter zusammen vor den moralischen Kadi ziehen kann. Ich verstehe überhaupt nicht, wie man einander willentlich derartig verletzen kann. Ist es nicht schlimm genug, dass es Kindesmissbrauch gibt, und dass es ihn in der Kirche gibt? Muss ich zusätzlich dazu auch noch meinen Mitchristen grundsätzlich das allerschlimmste unterstellen? Und bevor jetzt Schlaumeier behaupten, die „lehramtstreue“ Behauptung, die sexuelle Revolution habe mit ihrer Aufweichung moralischer Maßstäbe Missbrauch begünstigt, sei doch dasselbe, wie Konservativen Missbrauchstoleranz zu unterstellen: Nein. Das ist eine völlig andere Ebene. Denn diese Annahme bezieht sich nicht auf die grundsätzliche Integrität Säkular-Progressiver bezüglich ihrer ehrlichen Ablehnung von Kindesmissbrauch. Niemand sagt: Weil ihr für die sexuelle Revolution seid, habt ihr in Wirklichkeit gar nicht so sehr etwas gegen Kindesmissbrauch in den eigenen Reihen. Sondern: Ihr ordnet dieses Phänomen falsch ein. Ein völlig anderer Vorwurf, den man natürlich legitim in jegliche Richtung formulieren kann – und dann eben untersuchen, ob er stichhaltig ist.

Tatsache ist ganz einfach, dass ein Täter wissen muss, in welchem Milieu er welche Register ziehen muss, um Menschen in Vertrauen zu wiegen. Unter „Lehramtstreuen“ wird dem vertraut, der am überzeugendsten die Lehre vertritt und immer so schön Benedikt XVI zitiert. Unter „Säkular-Progressiven“ wird dem vertraut, der am leutseligsten wirkt und die Jungs immer so schön auf der Gitarre begleitet.: Ganz anders als diese düsteren Gestalten in schwarz, ganz anders – oder? Die jüngst ausgehobenen Großvertuscher Lehmann, Bode und Zollitsch erhärten jedenfalls den Verdacht, dass „Konservatismus“ oder Lehramtstreue nicht die Voraussetzung für Korpsgeist und eine Haltung sind, die die Kirche als Institution für „schützenswerter“ hält als die Opfer. Alle drei galten als „liberal“, keiner von ihnen war beliebt unter „Lehramtstreuen“. Ganz offensichtlich ist eine solche Haltung unabhängig von den klassischen „Milieus“. Das sollte jeden, egal, welchen Kreisen er sich innerhalb der Kirche zuordnet, beunruhigt und kritisch aufhorchen lassen. Denn der nächste Supergau wäre ja wohl, wenn sich eine Gruppe mit ihrer Agenda durchsetzte, man das Missbrauchsproblem als erfolgreich eingedämmt betrachtet, weil „die bösen Konservativen“ oder „die bösen Liberalen“ ja schließlich nichts mehr zu sagen haben, und man dann in 30, 40, 50 Jahren von der nächsten Welle widerlicher Enthüllungen überrollt wird, weil sich am verrotteten Mindset rein gar nichts geändert hat.

Ich finde es unwürdig, den Opfern gegenüber respektlos, und einer Kirche, die Missbrauch verfolgt und Täter in den eigenen Reihen effektiv ausfindig macht, nicht dienlich, selbst das monströse Verbrechen des Kindesmissbrauchs für eigene Agenden zu benutzen. Wenn beim Thema Missbrauch nicht alle Milieus der Kirche #TeamAntimissbrauch sind, und Lager und Meinungen in die zweite und dritte Reihe verweisen, sehe ich ziemlich schwarz für konsequente Aufklärung und Prävention. Man kann nur hoffen, dass diejenigen, die konkret an Prävention arbeiten, und nicht bloß auf Twitter ihren Moralinpegel pflegen, an der Sache orientiert arbeiten und sich einen Scheißdreck um kirchenpolitische Debatten kümmern. Sonst gute Nacht.