Echtes Heldentum – Das Opfer der Familie Ulma

„Karl Lwanga und Gefährten“, „Paul Miki und Gefährten“, „Andreas Kim Tae-Gon und Gefährten“: In der katholischen Kirche gibt es recht viele Heiligenfeste bzw. Gedenktage, an denen wir Gruppen von Menschen gedenken, die gemeinsam oder aus demselben Anlass, meist eine Verfolgungssituation, für ihren Glauben an Christus gestorben sind.

Am Sonntag, 10. September 2023 aber gab es eine Premiere für die katholische Kirche: Erstmals wurde eine gesamte Familie seliggesprochen, und mit ihr auch ein noch ungeborenes Kind: Die Familie Ulma. Das sind Józef und Wiktoria, seine hochschwangere Frau, das Kind in ihrem Leib, sowie die Kinder Stanisława, Barbara, Wladysław, Franciszek, Maria, und Antoni.

Sie wurden am Vorabend des Fests der Verkündigung des Herrn 1944 in Markowa, Polen, ermordet, weil sie auf ihrem Hof Juden versteckt hatten, und denunziert worden waren. Zuvor wurden die Juden erschossen. Über dieses kaltblütige, monströse Verbrechen und diesen Märtyrertod kann man natürlich in vielerlei Hinsicht schreiben.

Als ich einige Artikel über die Familie las, kam mir aber ein Aspekt in den Sinn, der einen aktuellen Bezug aufweist, und über den sicher eher weniger nachgedacht wird. Ich möchte betonen, dass dies nur ein Aspekt von vielen ist.

Wäre es eine deutsche Familie gewesen, könnte man vermuten, dass den Eltern vielleicht nicht klar war, in welche Gefahr sie ihre Kinder bringen, indem sie Juden verstecken. Deutsche konnten, vor allem in den ersten Jahren der Judenverfolgung vor dem Krieg und vielleicht noch in den ersten Kriegsjahren, davon ausgehen, dass ihre Kinder bei Denunziation natürlich in Mitleidenschaft gezogen würden, schließlich würden sie unter Umständen einen oder beide Elternteile verlieren, in Kinderheime kommen, unter Sippenhaft und besonders grausamer Behandlung leiden müssen – aber sie wären mit ziemlicher Sicherheit nicht einfach getötet worden.

Die Polen jedoch galten den Deutschen ebenfalls als Untermenschen, und konnten nicht mit halbwegs menschenwürdiger Behandlung rechnen. Selbst wenn die Ulmas gedacht hätten, dass man das Leben ihrer Kinder aufgrund ihres Alters schonen würde, sie hätten zumindest davon ausgehen müssen, dass diese als hilflose Waisen – das Jüngste gerade 18 Monate alt – womöglich verhungern oder in den Kriegswirren zu Schaden kommen würden. Außerdem hatten sie die Grausamkeit der Nazis bereits mitansehen müssen, als jüdische Mitbürger vor ihren Augen massakriert wurden. Ihnen muss also klar gewesen sein, dass sie das Leben ihrer sechs kleinen Kinder in höchste Gefahr bringen, indem sie Juden verstecken. Sie haben es dennoch getan.

Warum betone ich das so? Weil es wahrhaft und wirklich heroisch ist. Ich beschäftige mich im Augenblick ein wenig mit der AfD bzw. mit ihrem rechten Rand, und mit dem, was Menschen wie Maximilian Krah und Björn Höcke als Christentum verstehen. Immer wieder scheint darin auf, dass sie das Christentum (obwohl beide sehr unterschiedlich über den Glauben denken, Krah sieht sich ja als gläubiger Christ und Katholik, für Höcke ist Religion nur ein Mittel zum Zweck) als eine Art Kitt betrachten, der eine Volksgemeinschaft zusammenhält. Der Glaube gehört für sie sozusagen zum evolutiven Repertoire der Menschheit: Er hält Sippen, Sippenverbände, und damit dann letztlich Völker, zusammen, er stiftet Einheit und Identität. Im Dresdner Gespräch, einem Podcast von Krah, unterhalten sich die beiden kurz über das Christentum, und an einer Stelle meint Höcke zudem, man müsse das Christentum mit dem „Heldenmut“ des Heidentums vereinen. Dieser Aspekt spielt meiner Ansicht nach auch unter sehr konservativen Katholiken keine wirkliche Rolle: Das Bewusstsein dafür, dass Heidentum nicht heldisch ist, ist einigermaßen stabil verankert, zumal wir wirklich genug echte (christliche) Helden haben, die allesamt durch Heiden ermordet wurden. Ein Katholik kann das Märchen vom heldischen Heidentum also schwerlich glauben.

Der erste Aspekt aber strahlt durchaus auch für katholische Christen eine gewisse Attraktivität aus. Das liegt einerseits daran, dass wir die Gemeinschaft der Kirche als Gemeinschaft von Menschen aus allen Völkern betrachten, ohne dass wir die spezifische Zugehörigkeit zu einem Volk deshalb als problematisch sehen: Wir wollen die Unterschiedlichkeit der Sitten, Bräuche und Kulturen nicht auflösen. Deshalb ist Patriotismus, bei sehr katholisch geprägten Völkern auch eine dezidiert katholische nationale Identität, grundsätzlich unter Katholiken verbreitet. Zum andern schätzen wir Familienzusammenhalt und sind der Auffassung, dass Familie Keimzelle von Gesellschaft, Volk und Staat ist. Das kann leicht mit der rechtsnationalen Lesart verwechselt oder gleichgesetzt werden, schließlich würden Rechtsnationale diesen Satz erst einmal auch unterschreiben (Linke wollen auch gern, dass man diese Auffassung gleichsetzt, um Christentum als „rechts“ framen zu können).

Die Familie Ulma nun macht aber deutlich, wo der Unterschied liegt: „Evolutiv“ betrachtet wäre es das „Natürliche“ gewesen, das Wohl und Überleben der eigenen Familie, in rechter Diktion der eigenen Sippe/des eigenen Blutes und was auch immer, an erste Stelle zu setzen. Und genau hier hört die Parallelführung von rechtem und christlichem Gedankengut auf und entwickelt sich rasant in einander entgegengesetzte Positionen auseinander: Rechtsnationales Denken kann über die Natur und den natürlichen Trieb, das Eigene zu schützen, nicht hinausdenken, und sieht Religion nur als stabilisierenden Überbau dieses Triebes. Auch Heldenmut definiert sich für dieses Denken daraus, dass ein natürlicher Trieb ausgelebt wird, nur eben in ganz besonders starker Ausprägung, deshalb „heldisch“.

Für Christen sind Familie und Überleben dagegen nicht Selbstzweck oder höchstes Gut. Beides ist in den Dienst zu stellen. Ja, die Familie dient als Familie Gott und dem Nächsten gemäß dem Doppelgebot der Liebe. Sie ist nicht Familie für sich oder für das eigene Volk, sondern für Gott und den Nächsten. Deshalb opfert sich diese Familie, deshalb geben die Eltern selbst das Wohl ihrer Kinder auf, um dem Nächsten zu helfen, der noch krasser verfolgt wird. Und genau das ist aus christlicher Sicht „heldisch“; bzw. heroisch: Das Übersteigen der Natur und ihrer – völlig berechtigten – Triebe. Es ist nicht falsch, die eigene Familie zu schützen. Aber es ist auch nicht die absolut betrachtet höchste Pflicht: Durch den Glauben an Christus können die Eltern Józef und Wiktoria über ihre Angst um das Wohlergehen ihrer eigenen Kinder hinaus sich selbst und ihre Familie Christus hinschenken. Und sie schenken sich nicht etwa Freunden und Verwandten, sondern Fremden. Selbst ohne antijudaistische oder antisemitische Ansichten hätten sie sich fragen können, was sie denn bitte mit Juden zu schaffen hätten. Der Krieg und die Besatzung waren doch hart genug für sie als katholische Polen. Warum jemandem helfen, mit dem einen keine Blutsbande, keine Verwandtschaft, kein gemeinsamer Glaube verbindet?

Die Ulmas haben ihre Zugehörigkeit zu Christus, der alle Menschen liebt und für sie gestorben ist, für sein Volk und für die Heidenvölker, über die Zugehörigkeit zueinander gestellt. Und sie haben diese Zugehörigkeit zu Christus auch über die Fremdheit zwischen ihnen und ihren jüdischen Mitmenschen gestellt. Sie haben sich nicht von der Natur leiten lassen, die die eigene Familie an erste Stelle gesetzt hätte, sondern vom übernatürlichen Glauben, von der übernatürlichen Gnade. Was diese Familie getan hat, ist echter Heldenmut. Und das ist der Punkt, an dem jeder, der Christentum vereinnahmen will, sei es, um nostalgisches Volkstum mit etwas religiösem Bombast zu schmücken, oder sei es, um den eigenen Egoismus als religiöse Pflicht dazustellen, mit den Zähnen knirschen muss.

Selige Familie Ulma, bittet für uns! Heiliger Maximilian Maria Kolbe, bitte für uns! Alle Märtyrer Gottes, bittet für uns!