Religiös nicht ansprechbar? Oder: The Tower of Limburg

„Persönlich trägt mich seit langer Zeit eine Überzeugung, die sich aus vielen Erfahrungen speist: Die Wirklichkeit begegnet uns freundlich. Unser Gott ist doch ein Gott der Geschichte. Wir glauben daran, dass er sich in Raum und Zeit unserer Welt gezeigt hat, als Jesus Mensch wurde. Das ist die Wirklichkeit des Glaubens.“. Diese wunderschönen Worte stammen von Bischof Georg Bätzing. Ebenfalls von ihm stammt die Behauptung, getätigt gleichfalls in seiner Predigt zum Jahresschluss, dass ein Großteil der Menschen in Deutschland „religiös kaum noch ansprechbar“ sei. Diesen Schluss zieht er aus der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (November 2023), die ergeben hatte, dass nur noch 48% der deutschen Bevölkerung zu einer der beiden großen Konfessionen gehöre (d.h. EKD und Römisch-Katholischer Kirche), nur vier Prozent spürten eine enge Bindung an die Kirche. Daraus wiederum ergibt sich für ihn, dass sich die Kirche verändern müsse, weil die Menschen dies erwarten würden: Soziales Engagement etc., sowie, laut Studie, „ein positiver Umgang mit Homosexualität, mehr echte Mitbestimmung von Laien, die freie Wahl von Ehe oder Ehelosigkeit für die Priester und eine stärkere ökumenische Zusammenarbeit.“

Einerseits zeigt sich hier ein geradezu rührend altmodisches Verständnis von Religiosität: Bischof Georg Bätzing führt sie mindestens parallel – wenn er sie nicht gar gleichsetzt – mit Kirchlichkeit. Kirchlichkeit, nicht Religiosität, ist das, was niemanden mehr anspricht. Und das ist ein wichtiger Unterschied. Aus diesem Unterschied ergibt sich, warum die Lösungsansätze des Bischofs nicht funktionieren können, sondern das Gegenteil dessen bewirken, was er erreichen möchte.

Religiosität boomt nämlich in Deutschland. Da sind einmal esoterische und pseudoreligiöse Phänomene: Traumfänger, Engelrufen, Tarot, Ausräuchern mit Salbei, frei schwebende „Spiritualität“. Synkretistische Tendenzen: Buddhastatuen, ein weit verbreiteter Glaube an Wiedergeburt oder Karma. Und schließlich ersatzreligiöse Tendenzen: Es ist ganz erstaunlich, wie „dogmatisch“ in unserer an sich relativistischen Gesellschaft bestimmte Haltungen als moralisch einzig vertretbar und unumstößlich wahr erachtet werden – so wahr, dass jeder, der eine andere Meinung vertritt, dafür geächtet, verspottet und gehasst wird. Während der Pandemie etwa haben sich zwei „Religionen“ herausgebildet; die Angst vorm Klimawandel hat fanatische Züge entwickelt – die Jünger dieser Pseudoreligion haben das Gefühl, dazu berechtigt zu sein, Gesetze zu brechen, Kulturgut zu zerstören; manche opfern die Zukunft in der eigenen Nachkommenschaft zum Wohl des Planeten, viele sind davon überzeugt, für die Erlösung der Welt auf Genüsse und Annehmlichkeiten verzichten zu müssen: Während Christen den Gedanken der Sühne aufgeben, blüht er in der Klimareligion auf.

Wenn, wie Fulton Sheen es in „Der Kommunismus und das Gewissen der westlichen Welt“ definiert*, Religion als Glaube an ein Absolutes verstanden wird, dann erleben wir gerade ein hochgradig religiöses Zeitalter – wie dieser große Bischof richtig und prophetisch vorhergesehen hat. Die Menschen suchen die Wahrheit, und sie sind verwirrt und verunsichert: Sowohl von diesem Streben selbst, das sie kognitiv ja immer noch weit von sich weisen, als auch von der Fragmentierung durch den Relativismus, der ihnen erschwert, in der Vielzahl der Stimmen tragfähige Wahrheit auszumachen.

Die Straßen sind also voller Religiosität. Nur die Kirchen sind leer. Und nun erweist sich die ganze Tragik des bischöflichen Missverständnisses: Bätzing schließt irrtümlich aus der Engführung von Kirche und Religion, dass die Leute Religion nicht mehr wollen – also geben wir ihnen mehr Nichtreligion: Das, was Religion ausmacht, bietet die Kirche unter Bischöfen wie Bätzing so gut wie nicht mehr an! Sie verneint, eine universale Wahrheit zu lehren. Sie trottet dem Zeitgeist hinterher wie Tranquila Trampeltreu**; sie denkt, auf den Schwingen des Zeitgeistes daherzukommen, während sie immer konsequent hundert Jahre später als alle anderen dran ist.

Jeder kann hier alles glauben: Vaterunser als Mutterunser? Kein Problem! Ist Jesus der Sohn Gottes? Das glaubt nur noch ein Bruchteil der Christen. Ist er real präsent in der Eucharistie? Das glauben noch weniger. Ist die Kirche von ihm eingesetzt? Spinnt ihr? Das sind nur menschengemachte patriarchale Machtstrukturen! Und ja: Ein Bischof kann auch „persönlich“ an einen Gott glauben, der Herr der Geschichte ist. Aber dies als Wahrheit verkünden, die für alle gilt? Die Konsequenzen ziehen, die dies auch für Ekklesiologie bedeutet, für Anthropologie, für all die „heißen Eisen“ zu denen die meisten Menschen zwar eine Meinung haben, aber keine Kenntnis darüber?

Warum aber sollten Menschen ihr Leben nach einer Kirche ausrichten, die nicht einmal behauptet, das universale Grundsakrament zu sein? Und wenn auch die religiösen Antennen vieler Menschen vor allem Rauschen wahrnehmen; sie erhaschen noch genug Signal, um zu verstehen, dass das, was man ihnen da anbietet, mit Transzendenz nichts zu tun hat. Niemand verheißt ihnen hier, die innerweltlichen Zwänge zu überwinden, sich „rückzubinden“ (re-ligio) an die Transzendenz. Sie sollen sich damit zufrieden geben, dass die säkularen Bande menschengemacht sind. Das ist das einzige Angebot, das man ihnen macht: Du kannst dir selbstbestimmt andere Bande kreieren. Erlösung aus der Knechtschaft aber suchst du vergeblich.

Dass die Menschen intuitiv davon Abstand nehmen, ist nicht nur verständlich, es ist richtig so. Intuitiv verstehen sie, dass eine Kirche, die nicht für eine universale und absolute Wahrheit einsteht, die ihre eigenen Prinzipien verrät und lächerlich macht, und die sich in würdelosem Gerangel nach Macht, Einfluss und Geld selbst zerfleischt, kein glaubwürdiges religiöses Angebot ist.

Keinesfalls möchte ich einem frömmlerischen Romantisieren das Wort reden: Natürlich braucht es Reform: Bessere Glaubensbildung, bessere Kommunikation, ehrlicheren Umgang untereinander. Aber das alles muss aus der Transzendenz als Quelle fließen, nicht aus sozialem Verantwortungsgefühl. Denn sonst ist es – per definitionem – eben nicht religiös im eigentlichen Sinne. Und dann muss man sich auch nicht wundern, dass sich Menschen dafür nicht gewinnen lassen.

Und so schraubt der Bischof von Limburg Stein um Stein den Elfenbeinturm höher, dessen Bauherr und Gefangener er ist. Vergeblich hämmert er an die Irmenen Türen, die ihn von der Welt trennen.

Ich wünsche dem Bischof von Limburg, dass er in diesem Jahr den Mut finden möge, von der Wirklichkeit Gottes nicht nur „persönlich“ überzeugt zu sein, sondern diese sakramentale Wirklichkeit auch in der Kirche zu fördern. Ich wünsche ihm den Mut, die Kirche Kirche sein zu lassen: Das Grundsakrament, in dem die Menschen die Erfüllung ihrer religiösen Sehnsucht finden.

Heiliger Thomas Becket, bitte für uns! Stärke unsere Hirten in ihrem Zeugnis.

* Bitte im Kalender eintragen: Dass ich sogar eine Quellenangabe machen kann, weil ich mich daran erinnere, wo ich etwas gelesen habe – kommt nicht oft vor.

** Ich entschuldige mich hiermit in aller Form bei Tranquila Trampeltreu. Eines meiner Lieblingskinderbücher. Eine Schildkröte, die unbeirrt viel zu langsam durch die Welt stapft, und genau deshalb am Ende doch irgendwie richtig ankommt – oder fast. Ich bin mir heute nicht mehr sicher, ob ich hinter der Botschaft des Buches stehe, Michael Ende ist nicht immer ganz koscher, aber ich hab’s geliebt als Kind.