Glaube ohne Lehre?

„Wie bringt man eigentlich den biblischen Glauben, der ja irgendwo bestechend schlicht ist, mit dem komplizierten „Glaubensbohei“ der Kirchen zusammen?“ – Andreas

Im „Aftermath“ eines meiner Artikel schrieb einer meiner Leser einen sehr lesenswerten Kommentar, mit sehr vielen interessanten und wichtigen Gedanken. Darunter befand sich das oben genannte Zitat.

Viele Menschen, die dem Gedanken der Transzendenz positiv gegenüberstehen, lehnen die Verkündigung der „Amtskirche“ ab: Da haben wir den „schlichten“ biblischen Glauben einerseits und das komplizierte „Bohei“ der Kirche andererseits. Oft mit dem impliziten Vorwurf, dieses Bohei diene unlauteren Zwecken, etwa Machterhalt oder -ausbau, Gängelung und Kontrolle, Kriegen oder was auch immer und verdunkle ebenfalls lediglich den reinen, guten Glauben.

Der Irrtum zeigt sich auf verschiedenen Ebenen:

Keine Kirche – keine Bibel!

Erstmal das Allround-Totschlagargument: Ohne Kirche gäbe es gar keine Bibel. Die Kanonbildung geschah ja nicht im luftleeren Raum, sondern bereits durch die Kirche. Ohne die Kirche wüsste ich gar nicht, auf welche Schriften ich mich beziehen kann, wenn ich über die biblische Lehre sprechen will. Wenn ich der Kirche die Deutungshoheit abspreche über das, was ich nur durch sie weiß, woher weiß ich dann, dass das, was ich nur durch sie weiß, stimmt, obwohl ich eigentlich gar nicht glaube, dass das Wort der Kirche verlässlich ist? Zugegeben, diesen Denkschlenker auszuführen, ist gar nicht so leicht, aber das liegt daran, dass die Synapsen bereits so verkalkt sind, dass man sich gar nicht mehr daran stört, dass man so unlogisch denkt.

Woher weiß ich, was die Bibel lehrt?

Die Bibel sagt sehr viele verschiedene Dinge. Da jeder Mensch nur verstehen kann, was er versteht, und zwar gemäß seines Bildungsstands, seiner Intelligenz, seiner Lebenswelt etc., gibt es keinen absoluten „biblischen“ Glauben ohne Lehramt: Es kann nur jeweils ein Mensch etwas  lesen und etwas darunter verstehen. Damit gibt es so viele „biblische“ Glauben wie Menschen. Im protestantischen Bereich sehen wir denn auch entsprechend viele Denominationen, denn dort kann im Grunde jeder auf der Grundlage einer biblischen Doktrin, die ihm besonders wichtig vorkommt, eine eigene Konfession begründen. Der biblische Glaube ohne Lehramt ist also nur insofern schlicht, als dass er eben nur so weit gehen kann, wie der Erkenntnishorizont des Individuums. Damit aber bleibt er eindimensional – er spielt sich nur subjektiv im Individuum ab; oder zweidimensional – er hat Auswirkung auf meine Beziehung zum Gegenüber. Er wird aber nicht dreidimensional in die Dimension der Transzendenz hinein, er tritt nicht mit etwas außerhalb des Menschen liegenden in Kontakt und widerspricht sich damit selbst.

Was macht jetzt die Kirche? Nichts anderes als die Aussagen des Evangeliums zu erklären und gemäß der Wahrheit in ein Lehrgebäude zu fügen. So erst klären sich die vielen Aussagen der Bibel zur schlichten Lehre „Du sollst Gott lieben aus ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinen Nächsten wie dich selbst.“ und zur Erkenntnis, dass wir durch eigene Schuld verdammt waren und durch Gnade gerettet werden. Denn nur dadurch, dass die Kirche in ihrer Lehre komplex auseinandernimmt, was wie zu deuten ist, kann man überhaupt sicher sein, dass das die Essenz des biblischen Glaubens ist.

Es gab und gibt Gruppen, die felsenfest auf dem Fundament der Bibel allen möglichen Unsinn behaupten, bishin zu der Annahme, es gäbe keine körperlichen Krankheiten; oder man sehe sich die Lehren der Zeugen Jehovas an und so weiter. Keineswegs erschließen sich dem Individuum aus der Bibel zwangsläufig Glaubenswahrheiten. Das komplexe „Bohei“ führt also erst zur „bestechenden Schlichtheit“ des „biblischen“ Glaubens.

Die Kirche lädt zum schlichten Glauben ein

Natürlich kann ich ohne das Wissen um theologische Fragen diesem Glauben anhängen. Aber sollte ich einmal etwa hasserfüllt sein, woher weiß ich dann noch, dass Gott aber das Gute und die Liebe ist? Ist er nicht vielleicht auch Zorn, wenn ich doch in Christus bin und jetzt sauer? Jetzt brauche ich die Kirche, die seit zweitausend Jahren das Wissen hütet, dass Gott gut und die Liebe ist, ganz egal, wie ich mich gerade fühle. Und um dieses Wissen der Kirche abzusichern, haben sich Theologen eben alle möglichen komplizierten Fragen gestellt.

Biblischer Glaube und Kirchlicher Glaube sind also gar keine Gegensätze. Dies einzusehen, setzt natürlich Glauben voraus. Lustigerweise Glauben an Jesu Verheißung an die Kirche, dass sie durch den Geist geleitete werde. Übrigens findet die Kirche schlichten Glauben gut – das sehen wir daran, dass viele Heilige keine Theologen, sondern Kinder, ungebildete Frauen und Männer etc. waren. Aber hier gilt kein „entweder-oder“: Der eine findet zum schlichten Glauben durch Wissen, der andere durch den Rosenkranz, ein dritter muss nur das nächtliche Firmament betrachten.

Den Glauben leben – aber wie?

Die zweite Aufgabe, die die Kirche wahrnimmt, ist dann, den „schlichten“ Glauben für die Anwendung in der leider sehr komplexen Welt fit zu machen.

Wenn ich etwa an einem Bettler vorbeigehe, würde ich erst einmal sagen, es sei Nächstenliebe, ihm einen Euro zu geben. Wenn er aber Alkoholiker ist, und genau dieser Euro gefehlt hat für die nächste Flasche Wodka, dann ist es keine Nächstenliebe, ihm den Euro zu geben, auch, wenn diese mein Motiv ist. Ich kann also, wenn ich einen Bettler sehe, erst einmal schauen, ob ich Anzeichen von Alkoholismus an ihm erkennen kann. Dann könnte ich ihn fragen, was er mit dem Geld vorhat. Oder ihn gleich fragen, ob er etwas Bestimmtes braucht und mit ihm das kaufen, was er braucht. Aus meiner schlichten Aufgabe, Nächstenliebe zu üben, ist durch die Komplexität der gefallenen Welt eine ganz schön schwierige Aufgabe geworden!

Die Kirche hilft durch ihre komplexen Gedanken, besser einordnen zu können, wie wir der Welt, in der wir leben, nach Gottes Willen begegnen. Dies wird in allen „heißen Eisen“ sichtbar. Denn meistens entzündet sich Kritik an der kirchlichen Haltung daran, dass man einen Aspekt übersieht, den die Kirche beachtet.

Die Stolpersteine, die vielen Menschen diese Einsicht verwehren, beruhen vor allem auf Irrtümern bezüglich der Historizität der Kirche und auf persönlicher Unkenntnis. Mein neuer Lieblingsatheist etwa sagte, als ich ihn fragte, ob er den Katechismus mal in der Hand gehabt hätte, nein, aber er habe die Bibel gelesen. Die Aussagen der Kirche werden also gar nicht gekannt. Deshalb wird einfach nicht gewusst, dass eine Aussage der Kirche stets von Bibelversen flankiert ist, denn natürlich nutzt die Kirche als vornehmste Quelle die Schrift. Anderslautende Behauptungen sind einfach Unsinn, leider aber weit verbreitete Fakenews der reformatorischen Propaganda. Auch die Idee, die Kirche sei früher sozusagen ein basisdemokratischer Haufen sozialer Revoluzzer gewesen, bis irgendein Fiesling die Dogmen erfunden habe, macht es schwer, das Lehramt zu akzeptieren. Auch hier kennen die Leute einfach die historischen Fakten nicht – und sie lesen auch offenbar nicht die Bibel, denn schon die Briefe des Neuen Testaments zeigen ja deutlichst, dass proto-flowerpowereske Ansätze heftigen Widerspruch durch die Apostel erfuhren.

Durchdringung macht Spaß

Und zuletzt noch ein Aspekt, der mir persönlich wichtig ist: Der Mensch ist als Abbild Gottes geschaffen. Gott ist allwissend. Der Mensch ist vernunftbegabt. Dies zusammengenommen birgt für den Menschen die Aufgabe, in seiner Gottesebenbildlichkeit nach Wissen zu streben und die Ordnung der Welt zu durchdringen. Das Lehrgebäude der Kirche erklärt nicht nur den Glauben, sichert ihn gegen Irrtum ab und macht ihn anwendbar, es erschließt auch die gesamte Schöpfung in ihrer Ordnung, unser Leben, unser Sein. Das ist WUN-DER-SCHÖN und ich werde todtraurig, wenn Menschen sich weigern, das uralte, verwinkelte Lehrgebäude zu betreten und zu ergründen.