Katholizismus und Politik – Gefährliche Liebschaft

Zu dem Thema ist schon viel geschrieben worden. Ich will hier einmal meine persönlichen Gedanken dazu äußern, die bitte nicht als vollständiges, fertig gedachtes Konzept missverstanden werden wollen.

Gerade in letzter Zeit verfolge ich ein wenig den Kampf des Freundes und Mitbloggers Tobias, der sich sehr für Rod Drehers Benedict Option stark macht. Ich habe das Buch (noch) nicht gelesen (ich gehe besser in Deckung, bevor Tobias mir damit eins überbrät…). Das liegt daran, dass ich grundsätzlich gegenwärtige religiös-gesellschaftliche Schriften in Buchlänge nicht mag. Zweitens werde ich immer phlegmatisch, wenn um irgendetwas ein Hype entsteht. Ich fühle mich dann erstmal nicht zuständig. Schließlich erscheinen mir die Inhalte, die sich mir durch Diskussionen und Besprechungen indirekt erschließen, weder kontrovers noch neu. Christentum als kreative Minderheit, im eigenen, persönlichen Leben die Basis schaffen um aus dieser Position heraus durch lebendiges Wirken innerhalb und außerhalb der Kirche missionarisch tätig zu werden, sich als Subkultur dem Mainstream entziehen – where’s the problem? Dafür brauche ich keinen eingängigen Namen, da reicht mir „Catholic Obligation“ statt „Benedict Option“. Diese Einschätzung scheinen aber viele Menschen nicht zu teilen; die Benedict Option wird gern als Feindbild konstruiert: Es wird behauptet, sie werbe für selbstgenügsames, abgekapseltes, apolitisches Christentum. So gab es in der Tagespost eine Absage an die BenOp durch das Ehepaar Kugler, politisch und gesellschaftspolitisch sehr engagierte österreichische Katholiken, die offensichtlich die BenOp als Angriff auf ihr Selbstverständnis empfinden. (Für die Chronologie: Leider mittlerweile im Archiv hinter der Bezahlschranke aber lesenswert: hier die Replik von Tobias Klein und die – wie ich meine recht unangemessene und den Titel betreffend geradezu freche – Erwiderung der Kuglers.) Da ich das Buch nicht gelesen habe, fühle ich mich nicht im Stande, aktiv in diese Debatte einzugreifen, aber meiner Einschätzung nach wirft dies eher ein Licht auf Kuglers denn auf die BenOp. In ihrer Darstellung des „Feindes“ verzerren sie nämlich erkennbar und ziemlich platt das, was Dreher eigentlich aussagt, um so erst das zu konstruieren, was sie dann ablehnen. Wer so tickt, hat offensichtlich etwas als persönliche Verletzung empfunden, und sollte sich selbst gegenüber ehrlich herausfinden wollen, ob man nicht vielleicht wichtige Anstöße Drehers ablehnt, weil man sich, ahnend, dass sie stichhaltig sind, von ihnen entfernt hat.

Langer Rede kurzer Sinn, dies ist die grobe Vorgeschichte dieses Artikels. Anlass ist ein TAZ-Artikel über einen Familienkongress in Verona, der desinformativ Pech und Schwefel ausschüttet über das, was sich in Europa als neue „konservative“ gesellschaftliche Protestfront aufbaut.

Der Artikel benennt als Merkmale dieser Bewegung Gegnerschaft gegen Abtreibung, gegen LGBT-etc.-Rechte, man ist „ultrakonservativ“ und im Schulterschluss mit Rechtspopulisten. Natürlich ist der Artikel von vornherein nicht an Sachlichkeit interessiert. So werden Abtreibungsgegner als „Anti-Choice-Aktivisten“ bezeichnet, was ja schon eine geradezu orwellsche Verzerrung der Tatsachen ist. Es geht um Ideologie und Kulturkampf. Zwar geißelt man seitens der TAZ die kämpferische Rhetorik der Vertreter dieser Bewegung, verfolgt man aber auch nur am Rande linke Diktion, muss man angesichts dessen Schmunzeln, schließlich klingt das, was selbsternannte Feministinnen oder Antikapitalisten sagen, mindestens genauso kriegslüstern und noch deutlich aggressiver.

Nun hat für mich dieser Artikel, obwohl in weiten Teilen unzutreffend, diffamierend und ideologisiert, dennoch eine gewisse Stichhaltigkeit, und zwar gerade weil ich zu denen gehöre, die man als Sympathisant, wenn nicht gar Teil „ultrakonservativer“ Strömungen ansehen könnte.

Ich halte es nämlich für ein Problem, wenn sich Christen derart gesellschaftlich oder politisch einsetzen, dass ihr Engagement verwechselt werden kann mit Zielen von Leuten, denen Christentum maximal ein Feigenblatt ist. In Deutschland ist das noch relativ schwach ausgeprägt, weil wir ein stark offiziöses, kirchensteuergelähmtes Amtschristentum haben, das die öffentliche Aktivität der Kirche und ihrer Mitglieder maßgeblich prägt. Kräfte wie die Identitäre Bewegung kommen hier nur langsam und zum Glück unzureichend voran. In Frankreich dagegen sieht es anders aus, hier befinden sich Rechtspopulismus (ich meine den echten) und „bekennender“ Katholizismus in großer Nähe zueinander – da hilft es wenig, darauf hinzuweisen, dass der Gallikanismus eine alte französische Krankheit ist, die die Kirche schon lange vor der Familie Le Pen bekämpft hat! Da ich über Facebook mit einer Handvoll von Sympathisanten solcher Kräfte verbunden bin, bekomme ich auch immer wieder mal Postings und Kommentare aus dieser „Ecke“ über meine Timeline gespült und ich bin immer wieder erstaunt, was da als christliches Abendland beschworen und aufgefasst wird.

Ich will ein Beispiel bemühen, damit es nicht abstrakt bleibt: Christlicher Lebensschutz bemüht sich um den Schutz und die Würde jedes einzelnen Menschen von der Empfängnis bis zum Tod. In der rechtspopulistisch abgetakelten Version kommt in Karikaturen, Aphorismen oder sonstigen Elaboraten zum Ausdruck, das Leben europäischer Kinder sei zu schützen, denn durch Abtreibung stürben ja vorrangig diese, was einer Agenda diene, die einen Bevölkerungsaustausch anstrebe. Dies verliert natürlich (abgesehen vom NWO-Freimaurer-Verschwörungstheorie-Touch) erstens völlig internationale und historische Zusammenhänge aus dem Blick, schließlich ist die Abtreibungslobby nicht nur in ihrer Entstehung eugenisch und rassistisch, sondern auch heute noch stark gegen Menschen in Entwicklungsländern (und in den USA gegen die afro-amerikanische Minderheit) gerichtet. Zweitens ist es schlicht und einfach rassistisch. Ein Christ liebt Europa um seiner kulturellen Eigenheiten willen, aber er ist nicht an Nationalismen gekettet. Ob die Kinder einer Schulklasse weiß oder schwarz sind, ist ihm völlig gleichgültig, ganz egal, ob diese Klasse in Nairobi oder Nürnberg lernt, wie man Christus liebt und ihm dient. Damit seien Probleme, die verfehlte und überforderte Migrations(nicht)Politik bringt, nicht geleugnet! Bloß: Wenn sie sich ins Thema „Lebensschutz“ verirren, sind sie entlarvt als tatsächlich rassistisch, nicht sachlich motiviert – dann geht es eben gar nicht um Lebensschutz, auch, wenn es oberflächlich so aussehen mag.

Die Versuchung, die sich dem Katholiken hier darbietet, ist Macht. Über 1000 Jahre lang (ich vereinfache) waren wir es gewöhnt, dass katholischer Glaube und Macht miteinander verbunden waren, mal mehr oder weniger innig, immer mehr oder weniger konfliktreich, in einem komplexen Verhältnis, das schon. Aber dass die prägende Kraft Europas auch in politischem Sinne das katholische Christentum war, das lässt sich nicht leugnen. Natürlich gab es nie eine derartige Machtfülle, wie es antikatholische Mythen behaupten. Trotzdem ist es demütigend und ermüdend, seit der Reformation sukzessive die Abnahme der Prägekraft des Glaubens zu durchleiden. Und da winkt nun die Versuchung, sich auf halbseidene Kompromisse mit Kräften einzulassen, die nicht koscher sind. Sie bieten kämpferische, oft jugendliche, frische Rhetorik, sie bedienen in ihrer „Ikonographie“ gerne unser Verlangen nach Ruhm und Ehre und danach, einer großen Sache zu dienen.

Es ist eine Anfechtung, in der Hitze des tobenden Gefechts um die gesellschaftliche Ordnung Europas nicht in bourgeoise, spießige, puritanische und sonstige Reflexe zu verfallen und die Ordnung Gottes mit der Ordnung der 70er Jahre des 19. oder der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts zu verwechseln. Immer, wenn Christen versucht haben, Gottes Reich auf Erden politisch-gesellschaftlich zu etablieren, kamen entweder diabolische Karikaturen dabei heraus – man denke nur an Jan van Leidens münstersches Jerusalem – oder die christliche Botschaft wurde korrumpiert und dadurch in ihrer Legitimation und Wirksamkeit nachhaltig geschwächt, man denke an die Conquista, die Ausweisung der Juden aus verschiedenen Ländern Europas etc. Ein mit Blinklichtern und Sirenen eindringlich warnendes Beispiel sollte die Orthodoxie sein, die nicht nur mit kleinlichen Nationalismen zu kämpfen hat, sondern die in der Vereinnahmung durch Politik sogar nicht verhandelbares Glaubensgut aufgegeben hat!

Wenn wir diffamiert zu werden als „Anti-LGBTetc.“, ist wichtiger, zu fragen: Sind wir „Anti-LGBTetc.“? Suchen wir den Dialog mit Menschen, die meinen, benachteiligt zu sein, hören wir ihre Argumente an und argumentieren wir fair, ruhig, ohne Schaum vor dem Mund und ohne Verschwörungstheorien im Kopf dagegen? Das wunderbare am katholischen Bekenntnis ist ja, dass es gerade nicht sich als homosexuell identifizierende Menschen verurteilt. Dieses Bekenntnis zum Menschen kommt in der gesellschaftspolitischen Debatte meistens zu kurz, und wer, wenn nicht wir, ist dazu berufen, es in die Debatte hineinzuzwingen, koste es, was es wolle?

Es ist extrem anstrengend, in einem immer weniger an Sachlichkeit und Redlichkeit orientierten Umfeld an diesen Werten festzuhalten, der Komplexität von Themen immer gerecht zu werden und niemals das Prinzip über die Person zu stellen. Aber was ist unser christlicher Glaube wert, wenn er nicht genau da, wo es anficht, schwierig und unangenehm ist, zur Leitschnur unseres Handelns wird?

Wann immer wir also abseits der persönlichen Ebene etwas erstreben, müssen wir extrem vorsichtig sein, dabei nicht am Ende Christus, die Liebe, zu verraten. Kritiker meiner Darlegung werden sagen, dass die Feinde des Lebens, der Freiheit und der Menschenwürde uns auch dann diffamieren werden, wenn wir uns nicht korrumpieren lassen. Das mag stimmen. Aber im Hinblick auf das, was zählt, ist es gleichgültig, ob wir verurteilt werden, wenn wir uns in der Liebe nichts vorzuwerfen haben. Die Agenda eines Christen ist keine Weltordnung, sondern das Seelenheil des Einzelnen. Natürlich stehen diese beiden Dinge miteinander in Verbindung, aber der Christ muss sich an die individuelle Seele halten (und an die eigene natürlich), wenn er nachhaltig etwas erreichen will. Darum werde ich misstrauisch, wenn konservative Gruppen oder Bewegungen, die sich in weiterem Sinne als katholisch verstehen, kämpferisch-revolutionäre Rhetorik nutzen. Wir können keine Revolution in unserem Sinne anstreben, weil Christentum in sich antirevolutionär sein muss. Es geht uns nicht darum, dass „die Richtigen“ unter der Guillotine landen, sondern dass keiner darunter endet. Wir suchen nicht Krieg, sondern echten, umfassenden Frieden. Die Herausforderung ist, dem wirklich grundlegend „Anderen“ des Christentums zu vertrauen, und nicht doch insgeheim auf die Wege der Welt.

Übrigens sehe ich durchaus den Schmerz, den diese Einsicht birgt: Es ist schmerzhaft, zu sehen, wie Menschen einander und sich selbst tiefe Verletzungen zufügen, weil in der Gesellschaft kein Konsens mehr besteht, der die Hürde zu solchem Verhalten höher ansetzen würde. Natürlich würden weniger Kinder sterben, wenn Abtreibung verboten wäre und natürlich wird durch Homoehe die Leihmutterschaft befördert, die Kind und Mutter der Würde beraubt. Und ja, der Relativismus beschert uns eine Gesellschaft, die gegen Polygamie und andere kulturelle Unarten, die durch das Christentum in Europa ausgerottet worden sind, keine rechte Handhabe mehr hat. All das tut weh. Aber es gehört eben auch zum Christsein, dieses Leid mitzutragen. Wenn unser öffentliches Wirken mit Hinweis auf dieses Leid anderes Leid und andere Ungerechtigkeiten billigt, ist es in Wirklichkeit ein heuchlerisches Ablegen des Kreuzes.