Liebe vs Kirchenrecht: Muss ich mich an kirchliche Gebote immer halten? Teil 2
Im ersten Teil ging es darum, wie der Jesus bzw. der heilige Geist instrumentalisiert werden sollen, um die Nichteinhaltung von Geboten zu rechtfertigen. Ein weiterer, gern verwendeter Schachzug ist die Behauptung, die Liebe erfordere mitunter ein Ignorieren von Geboten. Das ist falsch.
Oder besser: Das ist halbwahr (und damit schlimmer als falsch). Mit dem Christentum wurde uns die Offenbarung geschenkt, dass Gott, also der Urgrund des Seins, tatsächlich die Liebe ist. Unserem Glauben zufolge, dem gemäß Christus Gott und Stifter der Kirche ist, und dem zufolge diese Kirche selbst Leib dieses Christus ist, kann logischerweise ein von Gott gegebenes Gebot nicht anders sein als selbst eine Manifestation dieser Liebe, und das gilt, ebenfalls logischerweise, mittelbar auch für die Kirche, die ja Christi Leib ist. Das klingt hochgradig menschenfeindlich, wenn man einen Begriff von Gesetz hat, wie ihn die Menschheit vor Christus hatte (oder wie es, by the way, Muslime bis heute haben). Wenn das Gesetz nämlich die einzige (oder wenigstens hauptsächliche) Form der Gottesbegegnung ist, wenn seine Nichteinhaltung verdammt, seine Einhaltung gerecht macht, wenn es aus starren, in sich absoluten Parametern besteht, dann ist das keine nette Angelegenheit, das Gesetz. Deshalb warnt die heilige Schrift auch eindringlich vor Gesetzlichkeit. Durch Christus wissen wir nämlich, dass nicht das Gesetz uns erlöst, sondern er selbst. Zugleich wird durch ihn deutlich, dass der eigentliche Sinn und die eigentliche Grundlegung des Gesetzes in der Liebe bestehen, also wiederum in ihm, Christus, Gott, selbst. Wir lernen also, dass die Beschaffenheit des Gesetzes eine andere ist als „wir“ (die Menschheit) dachten, und dass seine Aufgabe und Position im Heilsplan ebenfalls anders sind, als es uns erschien, weshalb es aber dennoch nun nicht plötzlich unsinnig oder falsch wäre, sondern anders als gedacht und erlebt. (Werbe-Disclaimer: Mehr Gedanken zum Thema Gesetz lieben mache ich mir hier und hier.)
Aus dieser alten Sichtweise kommt es aber, wenn wir denken, aus Liebe gegen kirchliche Gebote handeln zu müssen. Damit sagen wir ja aus, die Kirche hätte etwas erlassen, das nicht der Liebe entspricht. Kann das sein? Nein. Was aber sein kann: Wir können ein Gebot falsch verstehen, und – ganz wichtig im Hinblick auf (geistlichen) Missbrauch – man kann auch etwas, das nicht im Sinne der Kirche ist, bewusst oder unbewusst als Willen der Kirche darstellen.
Zuerst einmal sollten wir uns bewusst sein, dass kirchliche Regeln nie rituelle Automatismen sind. Ausnahmen, Notfall etc. werden immer eingerechnet. Ein Grundsatz ist z.B., das man nicht unter Sünde zu etwas verpflichtet werden kann, was man nicht erbringen kann. D.h., obwohl z.B. die Sonntagspflicht besteht, begeht ein Mensch, der sonntags am Amazonas ist, keine schwere Sünde, obwohl er die Sonntagspflicht nicht erfüllt. Obacht: Häufig wird fälschlich behauptet, wenn man einer Pflicht nicht nachkommen könne, hätte man sie erfüllt. Dem ist nicht so. Man hat sie bloß nicht erfüllen müssen. Man hört z.B. immer wieder, wenn jemand sich eine Messe im Fernsehen anschaue, weil er nicht rauskönne, habe er „die Sonntagspflicht erfüllt.“ Das stimmt nicht. Er hat sie nicht erfüllt, musste es aber auch gar nicht. Der Unterschied wirkt marginal, ist aber eben der, ob ich eine Regel als absolut und sozusagen „autonom rettend“ begreife oder nicht. Bei ersterer, vorchristlicher Sichtweise muss ich die Regel irgendwie so definieren, dass ich sie auch im Notfall erfüllt hätte. Als Christ bin ich aber von der Gesetzlichkeit befreit, ich muss nichts erfüllen, um dadurch gerettet zu sein.
Nun aber zum eigentlichen Punkt (ja, ich weiß, ich brauche immer etwas länger um dahinzukommen…): Was ist Liebe? Wenn jemand sagt, er erfülle eine Regel der Kirche aus Liebe nicht, dann sollten alle Alarmglocken schrillen. Zum einen ist da wie oben beschrieben die Unmöglichkeit, dass, wenn die Kirche aus der Liebe Christi heraus agiert, ihre Gebote dieser nicht entsprächen. Der „Fehler“ muss dann also bei meinem Verständnis von Liebe liegen. Liebe bedeutet Hingabe, und wir sehen sie erfüllt in Christus und seinem Opfertod für uns. Paulus sagt in seinem Lied auf die Liebe, sie suche nicht das Ihre. Wenn das, was ich gegen die Regel der Kirche tue, irgendeinen Vorteil, ein Wohlgefühl für mich hat, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Liebe wirklich die Triebkraft ist, gleich null. Man beachte, dass man das so herum formulieren muss, denn andersherum hat es schon zu viel Schmerz, Glaubenszerfall und Leid geführt, wenn Menschen dachten, wenn ihnen etwas gut tue, könne es nicht gottgemäß sein. Das ist nicht der Fall und ein maximal falscher Umkehrschluss, da muss man bitte, bitte feinst säuberlich unterscheiden: Christentum ist kein Masochismus.
Ich will ein äußerst persönliches Zeugnis zu diesem Sachverhalt geben: Als ich noch evangelisch-lutherisch war, aber bereits ein sehr katholisches Eucharistieverständnis entwickelt hatte, bin ich gern in die Messe gegangen und habe auch kommuniziert. Meine innere Begründung: Weil ich Jesus liebe. Ich glaubte ja tatsächlich die katholische Lehre von der Eucharistie. Wieso also sollte mir die Kirche wegen irgendwelcher dummer Calvinisten und ihrer Irrlehren das wahre Manna, den Herrn verwehren? Die Liebe ist doch größer!
Es war für mich sehr, sehr bitter, und ich bitte inständig jeden Lutheraner, den Kommunionempfang dringendst zu unterlassen, man wird sich hinterher wegen keiner Sünde mehr schämen; zu verstehen, dass ich nicht Jesus liebte, sondern mich. Ich wollte, dass sich Jesus für mich komplett hingibt, so, wie ihn die Kirche verkündet und gibt, aber ich wollte nicht dasselbe für ihn tun. Ich wollte nicht die unbequemen Lehren der katholischen Kirche mitbekennen. Ich wollte nicht auf mein schönes Evangelisches Gesangbuch und auf Luthers markige Sprüche verzichten. Ich war völlig selbstgerecht, im eigentlichen und wahrsten Sinne des Wortes. Das macht mein tiefes Sehnen nicht unwahrhaftig – es war da, es war echt und tief. Aber ich habe es als Entschuldigung genommen, um gegen die Kirche zu handeln und habe es damit selbst entwertet. Hart.
Natürlich hätte mein Gewissen mir den Weg weisen können. Wieso z.B. kommunizierte ich in katholischen Kirchen nur auf Reisen, nicht, wenn meine katholischen Freunde dabei waren? Weil ich ihre Gefühle nicht verletzen wollte, ja, ja, aber ich wusste besser, was Jesus für mich wollte, so raunte mein als Gewissen verkleideter Wille mir zu.
Tatsächlich bekam mein geistliches Leben den entscheidenden Schub, als ich begriff, dass, wenn ich Jesus zurücklieben will, ich einfach nur das tun muss, was er für mich tat: Mich in grenzenlosem Vertrauen ihm hingeben, und das bedeutet, zu verzichten auf das, was die Kirche mir nicht geben will. Weil sie sein Leib ist. Weil ich Teil seines Leibes sein will. Ich habe dann erst nach meiner Konversion gelernt, dass dieses Verzichten um der Liebe willen ja auch Katholiken betrifft: Die in schwerer Sünde, die aus sonst einem Grund nicht zur Kommunion disponierten. Natürlich war ich an meinen Fehlschlüssen nicht alleine schuld, einen Teil der Verantwortung tragen durchaus auch jene Katholiken, die mir vermittelten, das mit „keine Kommunion für Nichtkatholiken“ sei altmodischer Schmarrn, der sich schon bald erledigt haben würde. Sie waren, wie ich, diffus der Ansicht, dass katholisch Sein in erster Linie eine Auszeichnung sei, die mit Privilegien verbunden sei. Das stimmt auch, aber in einem ganz und gar anderen Sinne: Wir sind privilegiert, in vollem Einverständnis unser Leiden mit dem Christi zu vereinen, während andere lieben und leiden, ohne je zu wissen, wieso. Klingt nicht nach Jackpot, ist aber so.
Aus dieser Erfahrung heraus weiß ich natürlich auch, wieso so viele Menschen, in welcher Situation auch immer, weiterhin für ihr Fehlverhalten die Liebe verantwortlich machen: Es gehört nämlich Mut dazu, sich dem eigenen Fehlverhalten zu stellen. Es gibt Sünden, die empfinden wir schon fast als cool, die beichten wir locker weg. Aber niemand sieht sich gern als selbstverliebt, selbstsüchtig, selbstgerecht. Die eigene Niedertracht anzusehen, und dann auch noch, dass man diese mit der noch größeren Niedertracht versteckt hat, die Liebe als Deckmantel zu benutzen, das macht keinen Spaß. Allerdings wird es auch nicht besser, wenn man länger an diesem Irrtum festhält!
Übrigens ein Praxistipp: Manchmal hilft es, das Gewissen nicht in Richtung des (emotionalen) Wunsches zu befragen, sondern in Richtung Nichterfüllung des Wunsches. Man frage also nicht: Darf ich nach durchzechter Nacht am Sonntag im Bett bleiben, weil ja Schlaf auch wichtig ist und ich meine Arbeit gut verrichten muss etc. etc., sondern: Erlaubt mir mein Gewissen, den Sonntag über müde zu sein wegen Schlafmangels? Klar – es sei denn, man ist Arzt mit Bereitschaftsdienst, dann aber wird man mit Sicherheit beichten gehen wegen der fahrlässigen Natur der Sache. Wenn ich die eucharistische Nüchternheit nicht eingehalten habe: Erlaubt mir mein Gewissen, nicht zu kommunizieren? Klar, einfach geistlich kommunizieren. Wenn ich mit antikatholischen Freunden essen gehe: Erlaubt mir mein Gewissen, ein Kreuzzeichen zu schlagen? Hier kann es z.B. sein, dass das Gewissen nein sagt, weil der Anstoß, den man erregt, je nachdem, wie die Freunde ticken, Türen zuschlagen statt öffnen könnte – es handelt sich hier ja aber auch nicht um ein Kirchengebot, sondern um eine Christenpflicht (Zeugnis ablegen), die auf unterschiedliche Weise erfüllt werden kann. Man wird so schnell sehen, dass das echte Gewissen mit den Regeln der Kirche in erstaunlichem Einklang steht und kann dem Eigenwillen ein Schnippchen schlagen.
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